Theater: Die mit dem Gesicht spielt
Wiebke Mollenhauer ist Schauspielerin des Jahres, sagt eine Umfrage unter Theaterkritiker:innen. Ein kleines Porträt über eine Grosse im Schauspielhaus Zürich.

Für Wiebke Mollenhauer, Ensemblemitglied im Schauspielhaus Zürich, votierten 7 von 46 Kolleg:innen in der jährlichen Kritiker:innenumfrage der Zeitschrift «Theater heute». Schön an dieser Kür zur «Schauspielerin des Jahres» sind schon formal zwei Dinge. Zum einen kommen nebst den drei Stimmen aus der Schweiz zwei Fans aus München, fünfeinhalb Stunden Fahrt an einem guten Tag der Deutschen Bahn, seit bald drei Jahren gibt es sogar einzelne Verbindungen, die es theoretisch in dreieinhalb schaffen können. Zwei Mollenhauer-Likes sind sogar aus Berlin, da machen wir aus Erfahrung ungern Angaben über die reale Reisezeit nach Zürich (im Zug, versteht sich).
Zum andern gewinnt Mollenhauer den Wettbewerb für ihre Leistung in Christopher Rüpings Inszenierung von Sarah Kanes Stück «Gier». Das ist deshalb bemerkenswert, weil «Gier», 1998 geschrieben, im vergangenen März Premiere hatte und somit nach dem Sichtungsschluss der Berliner Theaterjury für das Festival im Mai. Es kann sie also niemand bei der Bestenschau in Berlin gesehen haben, dem einzigen Termin, wo Kolleg:innen allenfalls hinreisen.
Die Nahaufnahme der Liebe
Und noch etwas ist ungewöhnlich an der Wahl Mollenhauers: Sie sagt an diesem Abend nämlich kein Wort. Vier Schauspieler:innen sprechen zwar den abgründigen Text von vermutlich drei Figuren, nicht mal das ist sicher. Sarah Kane, die sich 1999 das Leben nahm, beschreibt sehr ausdrücklich die Höhen und Qualen der Liebe, die keine konkreten Figuren brauchen. In Zürich stehen die Spieler:innen mal frontal zum Publikum, oft reden sie mit dem Rücken zum Publikum, in der ersten Reihe des Plüschparketts des alten Pfauentheaters oder vor einer Videowand. Das zentrale Bild dazu liefert Mollenhauer fast im Alleingang. Eigentlich nur ihr Gesicht. Sie performt die Nahaufnahme der Liebe, die im detailreichen Stück die Sprache leistet. Die Inszenierung findet gleich am Anfang ein stimmiges Hörbild: Geige, Bratsche, Cello und Elektronik spielen «Love Will Tear Us Apart», den Hit eines anderen Briten, der sich das Leben nahm, Ian Curtis von Joy Division.
Quer zur Bühnenrampe sitzt Mollenhauer auf einem Stuhl und wird live gefilmt. Man stelle sich vor, wie eine Gesichtsmuskelkünstlerin oder ein übermotivierter Clown den Text mit Grimassenakrobatik überbieten würden. Das Grauen. Aber auch das Gegenteil wäre der Horror: cooles Starren, vielleicht eine rauchen, weil Sarah Kane eine krasse Autorin war. Wie Mollenhauer und ihr langjähriger Regisseur Rüping Lösungen finden, ist gar nicht so einfach zu sagen.
Wer spielt da und redet nicht, aber bedeutet umso lauter? Es gibt mehrere Möglichkeiten. Mollenhauer stellt eine empathische Zuschauerin dar, die auf das Geschehen blickt, oder je nach Text eine andere Figur. Oder sie hängt wie ein Heiligenbild über der Bühne, als Autorin Sarah Kane, eine Maria, die ihren auch autobiografisch grundierten Text noch einmal hört und schmerzhaft durch sich hindurchgehen lässt. Kane war in den Neunzigern der dunkle Popstar der neuen Dramatik, sie ist von ihrem Werk nur schwer zu trennen.
Kurz bevor Mollenhauer die Proben für «Gier» begann, traf ich sie für ein langes Porträt für die Zeitschrift «Theater heute», einen Tag nach der Premiere von Necati Öziris «Korrektur» des Nibelungenstoffs [Anm. d. Red.: An der Umfrage hat der Autor nicht teilgenommen]. Wir sprachen auch über andere Inszenierungen, über «Einfach das Ende der Welt» in Zürich und «In der Sache J. Robert Oppenheimer» in Berlin, alle mit Christopher Rüping. Immer auffallend: wie offen ihr Ausdruck bleibt, wie sehr sie Mitspieler:innen auf der Bühne in den Blick nimmt, wie neugierig sie ein Publikum anschauen und die Richtung umdrehen kann.
Sie hat einen seltenen Blick, den man mit dem Philosophen Emmanuel Lévinas «ethisch» nennen möchte, weil er das Antlitz des Gegenübers nicht gleich verstehen und bewerten, sondern einfach erst mal in seiner Differenz wahrnehmen möchte. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Mollenhauer die Schauspielerei nur als einen von zwei Jobs betrachtet. Der andere: Sie kümmert sich um die Vermittlung streunender Hunde, früher in Indien, heute in Taiwan.
Der Schmerz wird weggewaschen
Wiebke Mollenhauer kann, selbst wenn sie im Zentrum steht, die Gedanken des Publikums auf andere lenken und den Raum einer Inszenierung damit erweitern. Das kostet aber viel Kraft. Dass sie in «Gier» am Schluss den Raum verlässt und, von der Kamera verfolgt, in den See geht, kann als Bild für den Freitod gedeutet werden. Plausibler erscheint mir aber eine weitere Verkehrung, die dieser Schauspielerin so gut gelingt: Es ist ein reinigendes Bad. Der Schmerz wird weggewaschen, das Leiden eine Rolle, eine Tapete auf der Haut.
Übrigens: Theater des Jahres wurde das Deutsche Theater in Berlin unter Ulrich Khuon, der seine Intendanz nach vierzehn Jahren beendete. Er übernimmt die Zwischenspielzeit im Schauspielhaus Zürich, nach dem nicht verlängerten Vertrag der aktuellen Direktion Stemann und von Blomberg, vor dem Beginn der zu bestimmenden neuen.
Wiederaufnahme von «Gier» am Schauspielhaus Zürich am Sonntag, 10. September 2023, um 18 Uhr, Freitag, 29. September 2023, um 20 Uhr und Sonntag, 1. Oktober 2023, um 18 Uhr. www.schauspielhaus.ch