Klimapolitik: Kein Nachtzug nach Lissabon
Trotz Klimakrise will Portugal den Flughafen in Lissabon ausbauen. Der Aktivist Kiko versucht, das Projekt gemeinsam mit seinen Mitstreiter:innen zu blockieren.
Kiko sitzt in einem Café im Lissabonner Altstadtviertel Alfama, von wo aus man eine gute Aussicht auf den Tejo hat, der hier ins Meer mündet. Auf der gegenüberliegenden Seite des breiten Deltas liegt im Dunst versteckt die Stadt Montijo. Wäre es nach Portugals aktueller Regierung des Sozialdemokraten António Costa gegangen, hätte dort an der Stelle eines alten Militärflugplatzes ein ziviler Flughafen gebaut werden sollen. Verkehrstechnisch wäre der Platz dafür gut gelegen: Neben der siebzehn Kilometer langen Brücke, die die beiden Ufer des Tejos verbindet, lässt sich Montijo vom Lissabonner Stadtzentrum auch mit der Fähre in nur zwanzig Minuten erreichen. Doch der Standort hat einen Haken: Er liegt in unmittelbarer Nähe eines Naturschutzgebiets.
Im Delta des Flusses befindet sich das grösste Feuchtgebiet Portugals, das unzähligen, vielfach geschützten Vogelarten als Brut- oder Rastplatz dient. Das Flughafenprojekt rief deshalb nicht nur Anwohner:innen, sondern auch zahlreiche Umwelt- und Naturschutzorganisationen auf den Plan. Mehrere Gerichtsverfahren, Bürger:inneninitiativen sowie der Widerstand zweier betroffener Gemeinden liessen die Regierung letzten Sommer schliesslich einknicken und das Projekt stoppen. Vorerst zumindest. Kiko, der mit bürgerlichem Namen Francisco Pedro heisst, ist einer der Aktivist:innen, die sich gegen den Flughafen engagieren. «Es heisst ständig, der heutige Flughafen sei überlastet, weshalb es einen neuen brauche», sagt Kiko. Doch das sei verkehrt.
Der 36-jährige Aktivist gründete 2019 mit Bekannten, die sich alle bereits im Klimaschutz engagierten, die Gruppe Aterra – worin sowohl das Wort «landen» als auch das Wort «Erde» stecken. Obwohl die NGO nur aus einer Handvoll aktiver Mitglieder besteht, ist sie sehr gut vernetzt und schafft es mit ihren Berichten und Aktionen des zivilen Ungehorsams regelmässig in die Medien. Was Aterra von anderen Organisationen, die sich gegen einen neuen Flughafen wehren, unterscheidet, ist ihr Fokus auf den Klimaschutz. Aterra stellt sich nicht nur gegen den Standort Montijo, sondern gegen jeglichen Ausbau des Flugverkehrs. Als Teil des internationalen Netzwerks Stay Grounded (vgl. «Ein globales Netz gegen das Fliegen» im Anschluss an diesen Text) ist die Gruppe ausserdem mit Flughafengegner:innen in anderen Ländern vernetzt.
Projekt ist nicht vom Tisch
Pläne für einen neuen Flughafen gab es bereits, als Portugal noch eine Diktatur war. Während das Regime um António de Oliveira Salazar vor allem aus machtpolitischen Gründen einen neuen Flughafen wollte, rückte das Vorhaben nach dem revolutionären Umsturz 1974 in den Hintergrund. Zwar gab es seither immer wieder Bestrebungen, den Flughafen Humberto Delgado zu erweitern oder zu ersetzen, um die Kapazität zu erhöhen. Bisher scheiterten jedoch alle. Gründe dafür waren etwa Interessenkonflikte, die Kosten und ab 1990 zunehmend auch Umweltfragen, die bis dahin den wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet waren.
Ein überlasteter Flughafen sei noch lange kein Grund, einen neuen zu bauen, sagt Kiko. «Unser Ausgangspunkt sollte die Klimakrise sein, in der wir uns befinden: Wir müssen alles tun, um den Flugverkehr zu reduzieren!»
Die angebliche Notwendigkeit des Ausbaus wird in der portugiesischen Öffentlichkeit selten infrage gestellt. Vor allem die Tourismusbranche beschwert sich seit Jahren über die mangelnde Kapazität des Flughafens. Sie verweist auf die potenziellen Einnahmen, die der Volkswirtschaft entgehen, weil nicht noch mehr Flugzeuge landen können. Auch Politiker:innen betonen die Bedeutung des Infrastrukturprojekts für das wirtschaftliche Wachstum des Landes. Das ist wenig erstaunlich, machen doch die direkt oder indirekt durch den Tourismus erwirtschafteten Einnahmen knapp ein Fünftel des Bruttoinlandprodukts aus.
Obwohl die Regierung angesichts des massiven Protests einknickte, ist das Projekt deshalb keinesfalls gestorben. Sie hat letzten Herbst eine Kommission aus Wissenschaftler:innen eingesetzt, die mögliche Standorte für einen neuen Lissabonner Flughafen prüfen soll, darunter auch Montijo. Bis Ende Jahr soll ein Vorschlag auf dem Tisch liegen.
Geleitet wird die siebenköpfige Kommission von Maria Rosário Partidário, Professorin an der Universität Lissabon. Sie würden nicht nur die Wirtschaftlichkeit und die Zugänglichkeit prüfen, sagt Partidário, sondern auch Fragen der Umwelt- und Sozialverträglichkeit. Letzteres gehe bei einigen Gegner:innen vergessen. «Leute, die sagen, dass wir keinen neuen Flughafen brauchen, denken nicht an die Menschen, die aktuell unter Fluglärm, Luftverschmutzung und Stress leiden.» Tatsächlich liegt der 1942 eröffnete Flughafen aufgrund des Wachstums der Stadt mittlerweile so nah an Wohngebieten, dass sehr viele unter Fluglärm leiden. Eine kürzlich publizierte Studie kam zum Schluss, dass 388 000 Personen davon betroffen sind, dabei zählt Lissabon nur etwas über 500 000 Einwohner:innen. «Die Gesundheit und das Wohlergehen der Menschen, die in der Nähe des Flughafens wohnen, ist vermutlich schon Grund genug, ihn zu schliessen», sagt Partidário.
Auch Kiko sorgt sich um dieses Problem. Er findet aber: «Die Lösung liegt nicht im Bau eines neuen Flughafens, sondern in der drastischen Reduktion des bestehenden Luftverkehrs. Und zwar auf gerechte Art und Weise.» Es müsse nicht nur an Anwohner:innen, sondern auch an Flughafenangestellte gedacht werden. Diese könnte man für Arbeiten im Zugverkehr umschulen, den er und seine Organisation Aterra stark ausbauen möchten. Auch wenn der Zug den Flugverkehr nicht gänzlich ersetzen könne, müsse die Regierung viel stärker in klimaschonende Mobilität investieren.
Renfe hat keine Lust
Mit dem Nachtzug nach Lissabon reisen, wie es die Hauptfigur in Pascal Merciers Bestseller tut, das geht heute nicht mehr. Gleich zu Beginn des ersten Coronalockdowns im Frühling 2020 wurde der Betrieb der beiden Nachtzuglinien, die über Nordfrankreich und Madrid nach Lissabon führten, eingestellt. Das spanische Eisenbahnunternehmen Renfe zeigt bisher kein Interesse, die Linie wieder in Betrieb zu nehmen, und die Politik macht diesbezüglich auch keinen Druck. Wer von der Schweiz nach Lissabon gelangen will, unternimmt entweder eine dreissigstündige Busfahrt – oder steigt ins Flugzeug.
Für die Professorin Partidário wäre der Zug sowieso keine valable Alternative. «Hier, am westlichen Ende Europas, können wir einen Flughafen nicht durch Züge ersetzen.» Für sie ist klar: «Ausser für Reisen nach Spanien ist das Flugzeug das beste Mittel, um nach Europa und in den Rest der Welt zu gelangen.» Das sehen viele Portugies:innen ähnlich. Auf der Onlineplattform Aeroparticipa, die von Partidários Kommission lanciert wurde, kann sich die Bevölkerung in die Entscheidungsfindung einbringen. Bürger:innen verfassen Vorschläge, andere Teilnehmende können darüber abstimmen. Auch ein Aktivist von Aterra hat einen Beitrag geschrieben: «Aufgrund des Einflusses auf die Umwelt sollte gar kein neuer Flughafen gebaut werden.» Sein Votum fand nur wenig Zuspruch.
Was beim Durchlesen der Beiträge klar wird: Kritiker:innen wird es geben, egal bei welchem Standort. Die Opposition aufgrund der klimatischen Auswirkungen scheint jedoch nicht mehrheitsfähig. Vonseiten der Politik gibt es nicht einmal Lippenbekenntnisse – obwohl die Linke im portugiesischen Parlament die Mehrheit stellt. «Der Partido Socialista spricht sich höchstens auf dem Papier für das Klima aus», sagt Kiko. Seine Mitstreiter:innen und er hätten letztes Jahr an alle Abgeordneten des Parlaments Dossiers zum Thema verschickt, Rückmeldungen habe es jedoch kaum gegeben.
Immerhin hat Aterra mittlerweile eine bunte Koalition von über zwanzig zivilgesellschaftlichen Organisationen hinter sich. Darunter befindet sich etwa eine tourismuskritische Bewegung für das Recht auf Wohnen oder der portugiesische Verband der Eisenbahnfreunde. Letzterem gefällt, dass die NGO die Rückkehr der Nachtzugverbindungen anstelle von mehr Flugverkehr fordert. Für ihr Anliegen organisieren die Mitglieder von Aterra einmal im Monat eine Silent Party am Bahnhof Santa Apolónia, wo früher die Nachtzüge abfuhren. Dort tanzen sie dann mit Kopfhörern in Pyjamas – und in der Hoffnung, hier schon bald wieder in einen Nachtzug zu steigen.
Stay Grounded : Ein globales Netz gegen das Fliegen
Überall auf der Welt gibt es Widerstand gegen den Bau neuer Flughäfen. Die Zahl der Aktivist:innen, die sich dabei auf das Klima und entsprechende Gerechtigkeitsaspekte fokussierten, sei in den letzten Jahren gestiegen, sagt Magdalena Heuwieser, genau wie das Bewusstsein für die Klimaschädlichkeit der Branche.
Heuwieser ist Sprecherin des Dachverbands Stay Grounded, der seit 2018 Aktivist:innen und lokale Kämpfe weltweit vernetzt und unterstützt. Unter den mittlerweile über 200 Organisationen, die sich Stay Grounded angeschlossen haben, finden sich neben Aterra aus Portugal (vgl. Haupttext oben) diverse klima- und verkehrspolitische Organisationen verschiedener Kontinente.
Doch wieso sollten Aktivist:innen ihre Energie ausgerechnet auf die Flugindustrie konzentrieren, verursacht diese doch lediglich drei Prozent der weltweiten Emissionen? Unter anderem weil der CO₂-Ausstoss nur einen Teil der Auswirkung des Flugverkehrs auf die Erderwärmung ausmache, sagt Heuwieser. Kondensstreifen oder Stickstoffderivate, die beim Fliegen entstünden, würden die Treibhauswirkung erhöhen. Der Beitrag der Branche zur menschengemachten Klimaerhitzung liegt daher laut Stay Grounded bei knapp sechs Prozent. Wichtig seien ausserdem Gerechtigkeitsaspekte, betont die NGO-Sprecherin. So würden bei Konflikten um Flughafenprojekte immer wieder Menschenrechte verletzt. Stay Grounded dokumentiert diese Vorfälle gemeinsam mit einer Forschungsstelle der Autonomen Universität Barcelona auf einer interaktiven Karte.
CO₂-Emissionen werden zudem nicht von allen gleichermassen verursacht. «Achtzig Prozent der Weltbevölkerung haben noch nie in ihrem Leben ein Flugzeug betreten», sagt Heuwieser. Und natürlich wolle die Branche dies ändern, sie möchte weiter wachsen. Als Person aus Europa, jenem Kontinent, der historisch gesehen bis heute am meisten CO₂ emittiert habe, könne sie Menschen ausserhalb von Europa das Fliegen nicht verbieten, sagt Heuwieser. Gleichzeitig werde es auch nicht ausreichen, wenn Europäer:innen einfach ein bisschen weniger flögen.