Künstler im Exil: Was tun mit Russland?

Nr. 23 –

Der russische Theaterregisseur Wsewolod Lissowski wurde in Moskau verhaftet, als er in einer Unterführung ein Stück von Brecht aufführte. Das war aber nicht der einzige Grund, warum er nun aus Russland fliehen musste.

Wsewolod Lissowski steht auf dem Balkon und raucht eine Zigarette
«Ich war keine Energiequelle mehr»: Wsewolod Lissowski im Exil. Foto: Anna Marchenkova

Im Februar 2022, als Russland in die Ukraine einmarschierte, hatte Wsewolod «Sewa» Lissowski eine Künstlerresidenz in der Nähe von Sankt Petersburg. Er entwickelte dort die Idee für ein performatives Projekt, dem er den Titel «Lieder vom Schmerz» gab. Es ging darin um die Thetawellen einer Person, die physisch Schmerz empfindet. Diese rhythmischen Signale sollten für die Performance über ein Neurointerface direkt in Notenschrift übersetzt werden, Schauspieler:innen würden dann live den Schmerz einer anderen Person singen, Leute aus dem Publikum könnten sich anschliessen.

Im Zoom-Interview aus seinem Exil in Georgien erzählt Lissowski, wie er am 23. Februar noch dachte, dass dieses Projekt in Russland kaum umsetzbar wäre – aus politischen, aber auch finanziellen Gründen. Als dann einen Tag später die russische Invasion in der Ukraine begann, begriff er, dass er dieses Projekt wohl überhaupt nicht würde realisieren können. Die Situation hatte sich schlagartig verändert. Auch alle anderen künstlerischen Pläne musste er begraben, und er brauchte Monate, um einen Weg zurück zu seiner Arbeit zu finden. Gleichzeitig habe er sich «ziemlich gut» gefühlt, denn er sah die neue Lage auch als Chance «für einen Veteranen wie mich»: Sie bot ihm die Gelegenheit, sich neu zu erfinden, «nachdem die Lage seit Jahrzehnten immer prekärer geworden war».

Euripides ganz nackt

Der 56-Jährige ist kein gewöhnlicher Theaterregisseur. Lissowski begann seine künstlerische Karriere 1988 in Rostow mit einer Gruppe, die sich «Kunst oder Tod» nannte. Nachdem er nach Moskau gezogen war, arbeitete er zuerst beim Fernsehen und später im «Theater.doc», einem kleinen Untergrundtheater, das auch für seinen Kampf für Bürgerrechte bekannt war. Für Lissowski war es aber vor allem eine ästhetische Plattform. Seine erste Regiearbeit, die «Akyn-Oper» mit Schauspieler:innen aus Zentralasien, wurde sofort ein grosser Hit und gewann den wichtigsten russischen Theaterpreis.

Doch dieser Erfolg beeindruckte Lissowski damals nicht sonderlich. Als Nächstes inszenierte er Klassiker: zuerst Shakespeares «Hamlet», dann die «Bakchen» von Euripides – beides in totaler Stille, Letzteres mit völlig nackten Darsteller:innen. Das war selbst für ein progressives Publikum, das texttreues Theater gewohnt war, schlicht zu viel Körperlichkeit. Einige warfen Lissowski auch vor, er sei mit seinen Inszenierungen bloss auf Provokation aus; dabei wollte er nur die theatralischen Möglichkeiten von Freiheit und Stille austesten.

Sein nächstes Theaterprojekt stand dann unter dem Motto «Hier schaffen wir das Unmögliche. Wir spielen gegen die Gesetze – ökonomische, physische, theatralische, künstlerische oder einfach Gesetze des Common Sense». Die Spielstätte wurde bereits nach ein paar Monaten geschlossen. Daraufhin wandte sich Lissowski ortsspezifischem Strassentheater zu, in Moskau, St. Petersburg und Nowosibirsk. In seiner Heimatstadt Rostow inszenierte er «Ein magisches Land», ein «lustiges Stück über den Tod», das die Geschichte der alternativen Kunstszene seiner Jugend erzählt.

Platon im Tram

Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine entwickelte Lissowski ähnliche partizipative Formate, wie sie ihn schon vor dem Krieg beschäftigt hatten. Zwei Projekte hatten für ihn am meisten Potenzial: die sogenannte «Verfassung der Begierden» und Platons «Dialoge». In beiden Stücken geht es um die Idee, jemandem, der oder die reden möchte, eine Stimme zu geben. Lissowski stieg zusammen mit seinen Schauspieler:innen in ein Tram, und sie begannen, einander Fragen aus Platons philosophischen Abhandlungen zu stellen. Dabei hätten spontan auch einige Fahrgäste mitgemacht, erzählt er. Andere seien reserviert geblieben, manche hätten sich über die Störung beschwert.

Ein paar Monate nach der russischen Invasion organisierte Lissowski eine Konferenz über Untergrundkunst unter den aktuellen Umständen. In seiner Wohnung entstand eine inoffizielle Druckerei, wo Ideen gegen den Krieg debattiert und konspirative Projekte geplant wurden. «Es war eine gute, sogar eine fröhliche Sache», erzählt Lissowski. Doch das Problem sei gewesen, dass er in der russischen Gesellschaft insgesamt «kein revolutionäres Potenzial» habe entdecken können.

Andocken bei Brecht

Lissowski beschloss, die Gegenwart mit anderen Epochen zu vergleichen, unter anderem, um herauszufinden, «inwiefern das heutige Russland dem Deutschland der dreissiger Jahre ähnlich ist». Dabei sei er grundsätzlich der Meinung, dass sich die deutsche Erfahrung von damals «nicht eins zu eins mit unserer Realität» vergleichen lasse: «Für den heutigen russischen Faschismus bräuchte es eine eigene Bezeichnung. Gleichzeitig ist es aus der Gegenwart heraus fast unmöglich, sich selbst zu beschreiben. Eine neue Begrifflichkeit wäre gefragt.»

Im Bestreben, etwas Klares, Sinnstiftendes zu machen, erinnerte sich Lissowski an Bertolt Brecht, den er schon lange verehrte. Obwohl er nie besonders gern Texte anderer Leute inszenierte, beschloss er, mit Brechts «Furcht und Elend des Dritten Reiches» zu arbeiten. Dieses auf eine sehr konkrete Situation zugeschnittene Stück interessierte ihn, weil es in den Jahren 1934 bis 1938 geschrieben worden war und weil es sich mit Nazideutschland auseinandersetzt. Vor allem aber interessierte ihn, dass Brecht darin seine eigenen Erfahrungen, persönlichen Geschichten und Zeitungstexte verarbeitet hatte, dass es also ein dichter dokumentarischer Theatertext ist. Sprachlich sei das Stück zwar «sehr traditionell», aber Lissowski war neugierig, ob es in der herrschenden russischen Realität «einen Widerhall finden würde».

Im September 2022 wollte er zusammen mit anderen Enthusiast:innen 3 der insgesamt 24 Episoden dieses epischen Theaters in Moskau aufführen – und zwar in einer Unterführung im Zentrum der Stadt. Dabei wurden er und einige der Schauspieler:innen und Zuschauer:innen verhaftet, insgesamt mehr als fünfzehn Menschen. Es war zwar nicht das erste Mal, dass Lissowski und seine Schauspieler:innen von der Polizei angehalten wurden. Aber bei früheren Zwischenfällen wurden sie jeweils gleich wieder freigelassen. Diesmal musste er eine Busse zahlen, wegen «Diskreditierung der russischen Armee»; das Geld dafür sammelte er mit einem Crowdfunding.

Dreissig Tage Haft

Doch damit nicht genug. Im Februar 2023 wurde Lissowski für fünfzehn Tage in Haft genommen. Die Begründung: «Widerstand gegen die Polizei». Als er das Gefängnis nach Absitzen dieser Strafe verlassen wollte, wurde er nochmals fünfzehn Tage lang eingesperrt. «Die ersten fünfzehn Tage habe ich als Urlaub betrachtet», erzählt er mit ironischem Lächeln. Die Haftbedingungen seien nicht «monströs schlimm» gewesen, «ein sauberes Pfadfinderlager ohne elektronische Kommunikationsmittel, was gar nicht so schlecht war». Doch die zweite Haftperiode sei eindeutig «eine Nachricht» an ihn gewesen. «Es war nun offensichtlich, dass sie mich nicht in Ruhe lassen würden.» Und weil er mit seiner Arbeit auch seine Mitstreiter:innen in Gefahr bringen würde, war für ihn klar, dass er fliehen musste: «Ich war keine Energiequelle mehr, sondern ein Problem.» Lissowski weiss, wovon er spricht: Selbst in «sichereren» Jahren waren seine Schauspieler:innen und sogar Zuschauer:innen während seiner Aufführungen von der Polizei beobachtet worden.

Am 13. März, unmittelbar nachdem er aus der Haft entlassen worden war, flüchtete Lissowski aus Russland. Trotzdem denkt er, dass die Projekte in den Trams und in der Unterführung auch ohne ihn fortgeführt werden. Derzeit lebt er in Georgien, und er will weiter Theater machen. Natürlich sei es wunderbar, «die georgische Luft in den georgischen Bergen zu atmen», erzählt Lissowski. Gleichzeitig sei alles sehr furchteinflössend: «Für mich ist das Wichtigste, dass ich teilnehme an dem, was in meinem Land gerade passiert. Gleichzeitig ist es ethisch fragwürdig, aus meiner sicheren Position hier im Exil den Leuten in Russland Ratschläge zu erteilen. Schwierig ist auch, dass von ausserhalb alles viel mehr Angst macht als von innen.»

In der Zone des Schweigens

Was sind seine nächsten Projekte? Er überlegt sich, eine mehrsprachige Lesegruppe zu gründen, um weiter mit Brechts «Furcht und Elend des Dritten Reiches» zu arbeiten, es vielleicht auch aufzuführen. Und er will ein Kabarettstück mit dem Titel «Rede einfach nicht darüber» inszenieren, über den Umgang mit der Realität, wenn deren zentrale Geschehnisse in einer «Zone des Schweigens» stattfinden.

«Das Entscheidende ist nun», sagt Lissowski, «einen Vorrat an soziokünstlerischen Technologien anzulegen, die es den Leuten erlauben, mit der aktuellen Situation umzugehen.» Dabei denkt er weniger an aktivistische Praktiken, denen er immer schon kritisch gegenüberstand und die ihn auch aktuell eher enttäuschten – ihm geht es um das Künstlerische. In Russland könnte er sich zwar durchaus auch Mischformen vorstellen, aber im Ausland, wie jetzt in Georgien, will er selber vor allem als Künstler auftreten: «Hier, als Fremder in dieser geordneten Gesellschaft, muss ich mich als Künstler positionieren.»

Die wichtigste Frage aber bleibe, was man mit Russland tun könne. Für Lissowski ist klar: «Die Bedingung für eine echte Revolution muss eine kritische Masse an existenziellen individuellen Revolutionen sein.» Die Hauptaufgabe sei deshalb, dazu beizutragen, dass diese individuellen Revolutionen stattfinden könnten.

Aus dem Englischen von Daniela Janser.