Marina Davydova: «Das Theater kann nicht so richtig zensuriert werden»

Nr. 10 –

Im Widerstand gegen den Krieg, dann im Exil: Die russische Regisseurin Marina Davydova erzählt, wie die Flucht sie kalt erwischt hat und warum das Theater für die Mächtigen einen derart hohen Stellenwert hat.

Portraitfoto von Marina Davydova
«Ich weiss nicht, wie genau die russischen Autoritäten mich beobachten»: Marina Davydova. Foto: ©Leo Neumayr, SF

WOZ: Marina Davydova, gemäss Statistik gehen nur vier bis fünf Prozent der russischen Bevölkerung regelmässig ins Theater. Trotzdem scheint der Staat Theaterhäuser und ihre Exponent:innen heftiger zu bekämpfen als jede andere Kunstform. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Marina Davydova: Es ist wahr, dass das Theater für die Autoritäten einen sehr viel höheren Stellenwert hat als für die Gesellschaft als Ganzes. Sogar einer der sensationellsten Kriminalfälle der russischen Kulturszene – es ging um Kirill Serebrennikow und seine Produktionsfirma «Das siebte Studio» – spielte in der Theaterwelt.

Was geschah dort?

Der bekannte Regisseur Serebrennikow wurde 2017 zusammen mit drei Theatermanagern beschuldigt, 128 Millionen Rubel gestohlen zu haben, und unter Hausarrest gestellt. 2020 hat man dann alle wieder auf freien Fuss gesetzt. Aber sie wurden zu Bussen verurteilt und mussten das Geld «zurückzahlen», das sie vom Kulturministerium gestohlen haben sollen.

Woher kommt dieser Theaterhass der Mächtigen?

Um das alles zu verstehen, muss man zurück in die russische beziehungsweise sowjetische Geschichte schauen. Dann erkennt man, dass die UdSSR nicht so sehr auf Literatur fixiert war, wie viele vielleicht denken, sondern vielmehr aufs Theater. Seit Sowjetzeiten ist das Theater immens wichtig: Es ist die einzige Kunstform, die tatsächlich überall verbreitet ist, sie deckt das ganze Land ab. Dazu kommt: Die Theaterhäuser sind untereinander verbunden, viel stärker als etwa Komponisten, Schriftstellerinnen oder Filmemacherinnen. Das Theater bildet ein riesiges Netzwerk von Sachalin bis Kaliningrad. Es funktioniert wie ein horizontal wucherndes Myzelium innerhalb einer Gesellschaft, die ansonsten streng hierarchisch organisiert ist. Deshalb sind die Theaterleute potenziell viel gefährlicher als Schriftsteller, Komponisten oder visuelle Künstlerinnen, die keine solche Einheit bilden. Ich denke nicht, dass die Bürokraten das wirklich durchschauen, aber unbewusst erfassen sie es sehr wohl.

Im Exil

Die Theaterautorin, Kritikerin und Regisseurin Marina Davydova wurde 1966 im aserbaidschanischen Baku geboren. Sie hat in Moskau Theaterwissenschaften studiert, arbeitete als Theaterkritikerin für russische Tageszeitungen und war Mitbegründerin sowie künstlerische Leiterin des New European Theatre Festival. Nachdem sie eine Petition gegen die russische Invasion der Ukraine verfasst hatte und bedroht wurde, musste sie Russland am 5. März 2022 fluchtartig verlassen. Bis dahin war sie die Chefredaktorin des Moskauer Magazins «Teatr» gewesen.

Im November 2022 wurde sie zur Schauspielchefin der Salzburger Festspiele ernannt. Verschiedene ihrer Stücke wurden in den vergangenen Jahren an deutschen Theatern aufgeführt. 2016 war sie verantwortlich für das Theaterprogramm der Wiener Festwochen.

Was sind weitere Gründe für die Ausnahmestellung des Theaters in Russland?

Theaterhäuser sind immer auch Grundbesitz und Immobilien, die in Russland dem Staat gehören. Gleichzeitig kann das Theater nur dank Zuschüssen überleben. Dadurch entsteht der Eindruck, dass der Staat den Unterhalt und Betrieb der Theater finanziert – und die Theater deshalb diesem Staat zu dienen haben. In der Sowjetunion hat das Theater auch andere soziale Institutionen wie die freie Presse, das Parlament, ja sogar die Kirche ein Stück weit ersetzt – weshalb das Theater auch eine gewisse Missionarsrolle spielt. Zu all dem kommt aber etwas Entscheidendes: Das Theater kann nicht so richtig zensuriert werden, weil es stets im Hier und Jetzt stattfindet. Auch der emsigste Zensor kann nie jede einzelne Vorstellung besuchen. Es ist viel einfacher, Seiten aus einem Buch entfernen zu lassen oder Szenen aus einem Film zu schneiden. Das Theater gehört also dem Staat, es wird auch erwartet, dass es diesen Staat stützt – trotzdem kann es ihm gefährlich werden. Die Idee, dass das Theater «viel mehr ist als Theater», stammt aus Sowjetzeiten, wurde aber von den heutigen Autoritäten übernommen. Sobald Russland sich wieder in eine Art Sowjetunion zurückverwandelte, kamen auch die brutalen Repressionen gegen das Theater zurück.

Wann begann diese Wende zum Schlimmsten?

Nach 2012, als Wladimir Putin auch offiziell wieder an die Macht kam. Während Dmitri Medwedews Amtszeit, die 2008 begann, gab es einen klaren Trend zu einer Orientierung am Westen und zur Modernisierung. So wurde etwa an den Schulen ein einheitliches Staatsexamen installiert sowie das akademische Master- und Bachelorsystem vom Ausland «geborgt». Die Militärdienstpflicht wurde auf ein Jahr begrenzt und die europäische Sommerzeit eingeführt. Aber diese einzigartige Periode, in der auch offiziell verkündet wurde, dass der russische Staat sich nun mit westlichen Ländern anfreunden wolle, ging zu Ende, und die Konservativen erhielten wieder alle Macht.

Wie haben diese Entwicklungen Ihre Karriere beeinflusst?

Auf dem Höhepunkt der kurzen liberaleren Phase unter Medwedew lancierten wir 2010 das erneuerte «Teatr»-Magazin. Damals schrieb ich auch über Theater in der «Iswestija», und ich war die künstlerische Leiterin des New European Theatre Festival. Dessen zentraler Gedanke war es, dass die russische Kultur mit all ihren spezifischen nationalen Eigenschaften ein organischer Teil der Kulturen der Welt ist. Diese Idee habe ich als Kolumnistin, Herausgeberin und künstlerische Leiterin verteidigt, was zu Irritationen geführt hat, weil alle Konservativen in Politik und Kultur auf dem russischen Sonderweg beharrt haben und insbesondere auf der Vorstellung, dass die russische Kultur interessanter, tiefer, spiritueller und auch moralisch hochstehender sei als alle anderen.

Wie ist die Situation heute?

Heute sind die allermeisten westlich orientierten Theater geschlossen, während all die anderen, die nicht an die europäische Kultur andocken, weiterspielen dürfen, ungeachtet der politischen Haltungen ihrer Mitar­beiter:innen. Zuerst geschlossen wurden etwa das Gogol und das Meyerhold Center, das Rote-Fackel-Theater in Nowosibirsk, das Theatre of Nations und das New European Theatre Festival. Feministische Untergrundprojekte ohne klare hierarchische Strukturen gerieten als Nächstes unter Druck: Sie sind wohl etwas weniger sichtbar und werden auch nicht staatlich unterstützt, aber auch sie wird man zerstören.

Wie hat Sie diese Entwicklung persönlich getroffen?

Das New European Theatre Festival, eine private Initiative von ein paar Theaterkritiker:innen, ist einfach eingegangen. Ein Wunder, dass das Festival 23 Jahre überlebt hat. Als es 1998 gegründet wurde, gab es keine unabhängigen internationalen Festivals und auch keine wirklich unabhängigen Theaterbetriebe in Russland. Wir erhielten auch keinerlei staatliche Unterstützung. Das Geld kam hauptsächlich von der George-Soros-Stiftung. Erst als Medwedew Präsident wurde, gab es Geld vom Staat, und wir wurden auch wahrgenommen. Aber sobald die Krim annektiert war, verloren wir unter Kulturminister Wladimir Medinski die staatliche Unterstützung wieder. Es gab keine Beschwerden und keinen Krieg, aber dass wir viele Verbindungen zu Europa hatten und aus einer privaten Initiative entstanden waren, machte uns zu Feinden. Seither haben wir vor allem dank der Unterstützung durch die private Stiftung des Geschäftsmanns Michail Prochorow überlebt, die seit 2004 vor allem auch regionale Kunst- und Kulturprojekte unterstützt. Das New European Theatre Festival überlebte auch dank Unterstützung ausländischer Kulturinstitutionen wie dem Goethe-Institut, dem Institut français, der Pro Helvetia, dem British Council.

Und was wurde aus dem «Teatr»-Magazin?

Auch dort begann das Ende 2015. Zuvor hatte man uns vorgeworfen, wir würden nicht über das provinzielle russische Theater schreiben – was gar nicht stimmte. Aber als wir nach der Annexion der Krim eine Ausgabe zum zeitgenössischen Theater in der Ukraine herausbrachten mit den Farben der ukrainischen Flagge auf dem Cover, strich man uns jede finanzielle Unterstützung, und die Theatergewerkschaft, unser Arbeitgeber, wurde beauftragt, mich zu feuern. Auch hier ist die Prochorow-Stiftung eingesprungen. Wie Sie sehen: Alle meine Projekte in Russland standen ständig auf der Kippe. Es war kein normales Leben, mehr ein Überlebenskampf. Als die Invasion der Ukraine begann, wurde das New European Theatre Festival zerstört, weil alle internationalen Verbindungen gekappt waren. Das «Teatr»-Magazin wurde nie offiziell stillgelegt, es erschien einfach nicht mehr: Wir wurden nicht entlassen, man hat einfach unsere Löhne nicht mehr bezahlt, und wir hörten auf zu arbeiten.

Nachdem Sie am 24.  Februar 2022 eine Petition gegen den Krieg publiziert hatten, wurden Sie bedroht, und Ihre Wohnungstür wurde mit einem grossen Z markiert. Sie mussten fliehen. Hatten Sie vorher schon einmal über Emigration nachgedacht?

(Lächelt.) Alle russischen Intellektuellen denken über Emigration nach. Wir redeten darüber, seit Putin an die Macht kam, solche Gespräche waren der Hauptgang bei jedem Abendessen unter Theaterleuten. Das waren aber vor allem Gedankenübungen. Ich zum Beispiel habe damals nie konkrete Schritte unternommen. Rückblickend war ich ein Depp, dass ich 2016 meine Aufenthaltserlaubnis in Österreich, die ich erhielt, weil ich die Theaterleitung bei den Wiener Festwochen innehatte, nicht habe verlängern lassen. Obwohl wir also viel über Emigration gesprochen hatten, konnte ich auf nichts zurückgreifen, als ich schliesslich tatsächlich aus Russland fliehen musste. Ich verliess das Land mit einem Koffer und ohne jede Aussicht auf einen Job. Ich wusste nicht einmal, wohin ich gehen sollte: Zuerst ging ich nach Litauen, dann weiter nach Philadelphia, New York, Marseille, Toulouse, Avignon, München, Sofia, von einer Konferenz weiter zu einer Masterclass und so fort. Ich wurde jeweils eingeladen, die Gastgeber haben die Kosten für Reise und Unterkunft übernommen.

Wie unterschied sich diese Erfahrung von Ihrem ersten Exil, als Sie in den achtziger Jahren Baku verlassen mussten?

Ende der Achtziger oder – um ganz genau zu sein – 1990 gab es eine Welle von Attentaten in Baku, und ich fand mich im Exil wieder, weil ich mich nicht mehr in meine Heimatstadt traute. Ich war damals kein Kind mehr, aber immer noch sehr jung und ohne Berufserfahrung. Es war damals alles viel schmerzhafter, auch wegen des frühen Todes meiner Eltern. Doch womöglich helfen mir diese tragischen Ereignisse der Vergangenheit heute beim Überleben. Immerhin habe ich den Verlust der Heimat bereits einmal erlebt. Heute scheint es einfacher zu sein: Ich habe einen Namen, Menschen aus der ganzen Welt haben mich angerufen und wollten mir helfen. Ich bin den europäischen Theaterleuten, vor allem denjenigen im deutschsprachigen Raum, sehr dankbar, aber auch verschiedenen Menschen in Frankreich oder Italien: Sie alle haben mich gerettet in dieser schwierigen Situation.

Haben Sie in Europa nach Kriegsausbruch auch Ablehnung erfahren, weil Sie Russin sind?

Nie, keine Spur davon. Ich wurde nicht als Russin behandelt, sondern als Marina Davydova, als menschliches Wesen. Natürlich gab es ab und zu Probleme mit Grenzwächtern und Bürokraten, aber die antirussischen Ressentiments sind in der Ukraine, in Polen und in den baltischen Staaten viel akuter. Sobald man weiter Richtung Westen reist, verändern sich die Diskurse, und die Menschen getrauen sich kaum, das Thema anzusprechen.

Fühlen Sie sich heute persönlich bedroht von Putins Regime? Überlegen Sie sich, zurückzugehen?

Ich glaube, dass das gefährlich sein könnte. Im Moment würde ich es nicht riskieren. Auch weil die Situation gerade ziemlich unberechenbar ist. Ich weiss nicht, wie genau die russischen Autoritäten mich beobachten. Aber ich hoffe sehr, sie lesen nur die sozialen Medien in Russland und kümmern sich nicht um meine Interviews, die in anderen Ländern und anderen Sprachen erscheinen.

Hoffen wirs. Und reden wir zur Abwechslung über etwas Positives. Im letzten November wurde verkündet, dass Sie zur Schauspielchefin der Salzburger Festspiele ernannt wurden. War das auch für Sie eine Überraschung?

Die Verhandlungen, die im Frühjahr 2022 begannen, kamen tatsächlich ziemlich unerwartet. Die Ankündigung im November war dann natürlich nicht mehr ganz so überraschend. Es war also ein bisschen von beidem. Ich hatte ja bereits in Wien gearbeitet, und man kennt mich in Österreich. Das Theaterprogramm, das ich 2016 für die Wiener Festwochen kuratiert hatte, wurde breit besprochen, und die Theaterleute wie auch die Besucher:innen von damals erinnern sich daran. Aber die Salzburger Festspiele sind natürlich etwas Besonderes, und eine Ausländerin und ausgerechnet eine Russin zu berufen, war zu diesem Zeitpunkt sicher keine kleine Entscheidung des Leitungsgremiums unter Markus Hinterhäuser. Um ehrlich zu sein, hatte ich erwartet, dass die Medien wegen meiner Ernennung einen Shitstorm lostreten würden, aber das ist bis jetzt nicht passiert. Warten wir also ab, wie sie auf mein erstes Programm im Sommer 2024 reagieren werden.

Inwiefern unterscheidet sich Ihre Programmierung in Salzburg von der Arbeit in Wien oder Moskau?

Die Salzburger Festspiele sind anders als die meisten anderen Festivals. Es gibt keine eingeladenen Produktionen von auswärts, alle Aufführungen sind Premieren oder Koproduktionen, die zum ersten Mal in dieser Form in Salzburg auf die Bühne gebracht werden. Auch sind die Festspiele viel abhängiger von Ticketverkäufen, es gibt kein fixes Budget, und man muss sehr genau rechnen, um anständige Einkünfte zu haben. Im Unterschied etwa zu Wien, wo ich insgesamt 37 Stücke programmierte, gibt es viel weniger Produktionen.

Haben Sie abseits von Salzburg Zeit für weitere Engagements?

Ich hoffe es. Gerade habe ich ein Stück mit dem Titel «Das Land ohne Rückkehr» für das Residenztheater München abgeschlossen, das nun übersetzt wird. Dann gibt es eine Koproduktion zwischen dem Theater Hebbel am Ufer in Berlin, dem Theater Freiburg und den Wiener Festwochen, die am kommenden 22. Mai im Hauptprogramm der Wiener Festwochen Premiere feiern wird. Sie heisst «Das Museum der ungezählten Stimmen» und ist eine Weiterführung meines älteren Projekts «Das ewige Russland»: eine performative Installation oder – vielleicht genauer – eine immersive Show, die innerhalb und ausserhalb einer Blackbox spielt. Mein Grundgedanke dahinter ist, dass es keine objektive historische Perspektive geben kann, dass es immer diese «ungezählten Stimmen» gibt, die um die Wahrheit ringen und ihre individuellen Geschichten erzählen.

Oper, Musik und Schauspiel

Sie gelten als eines der bedeutendsten Festivals für Oper, Musik und Schauspiel: die Salzburger Festspiele. Diesen Sommer sind während sechs Wochen 179 Aufführungen zu sehen. Es ist die letzte Ausgabe unter der Schauspieldirektorin Bettina Hering, die 2017 als erste Frau in diese Position gewählt wurde. Das Schauspielprogramm von 2024 wird dann Marina Davydova verantworten.