Theater: Vorhang auf für Telegram und Virtual Reality

Nr. 9 –

Die Digitalisierung macht auch vor dem Theater nicht halt. Yves Regenass, digitaler Dramaturg am Theater Chur, sieht darin vor allem Chancen – auch wenn die Entwicklung nicht immer ohne Reibung geschieht.

«Manchmal nerve ich mit meinem Beharren auf dem Digitalen»: Yves Regenass schwebt ein Miteinander von klassischem Theater und digitalen Formen vor. Foto: Mathias Prinz

Streams aus dem leeren Saal? Yves Regenass winkt ab. Selbst während der coronabedingten Schliessung der Theaterhäuser habe er sich kaum welche angeschaut. «Auf mich wirken sie allzu oft wie stark limitierte Filme, die als solche nicht tragen», sagt der vierzigjährige Baselbieter mit dem wild wuchernden Bart.

Regenass ist seit einem halben Jahr digitaler Dramaturg am Theater Chur. Der wahrscheinlich erste in der Schweiz, zumindest unter diesem Namen. Und er ist überzeugt: «Das Potenzial digitaler Formate im Theater geht weit über Streams und eine neue Mediathek hinaus.»

Fitness fürs Haus

Das Theater Chur hat den Pädagogen, Performer, Theaterdramaturgen und Kulturwissenschaftler im Rahmen eines von Bund und Kanton finanzierten Transformationsprojekts angestellt, um das Haus digital «fit» zu machen. Fünfzehn Monate hat Regenass mit seinem Sechzigprozentpensum dafür Zeit. Die Aufgabe ist breit, betrifft nicht nur, was auf, sondern mehr noch, was hinter der Bühne passiert und in den Köpfen der Mitarbeiter:innen, bei denen Regenass eine «digitale Haltung» verankern will. «Digitalisierung muss ganzheitlich gedacht werden: Sie berührt alles, von der Schauspielerei, den technischen Voraussetzungen über die betrieblichen Prozesse bis zur Vermittlung», sagt er.

Zurzeit steckt er in den Vorbereitungen der «DigiDays», an denen er verschiedene künstlerische Strategien des Digitalen versammeln will. Und schon ist Regenass mitten im Thema, erzählt von Virtual-Reality-Brillen, von Robotern als Schauspielenden, von interaktiven Theaterstücken, die in Internetbrowsern spielen.

Auch vor der Theaterwelt macht die Digitalisierung nicht halt, digitale Formate, Techniken und Strategien drängen vielerorts schon auf die Bühnen. Die Kaserne Basel zeigte 2021 mit «Allegedly» ein via Zoom stattfindendes Stück der indischen Theaterkünstlerin Mallika Taneja, in dem die Darsteller:innen und die Zuschauer:innen miteinander ins Gespräch kamen. Am Zürcher Theater-Spektakel hat der Performer Royce Ng in «Presence» sein Gesicht mittels einer Kamera aufgenommen und live auf eine in Zürich anwesende Performerin projiziert – Ng selbst sass in Hongkong. Und das Kleintheater Luzern hat Kunstschaffende eingeladen, digitale Realitäten für Virtual-Reality-Brillen zu schaffen, die im April an einem Festival gezeigt werden. «Das Theater war schon immer gut darin, neue Medien in sich aufzunehmen», sagt Regenass.

Als freischaffender Dramaturg experimentiert auch Regenass mit digitalen Medien. 2020 hat er mit dem von ihm mitbegründeten Medientheaterkollektiv «machina eX» ein Stück für den Messengerdienst Telegram geschaffen: «Lockdown», eine Art digitale Schnitzeljagd. Reale, einander unbekannte Menschen – die Bezeichnung «Zuschauer:innen» scheint hier nicht mehr passend – erhielten über die App Nachrichten, Fotos und Videos und machten sich gemeinsam auf die Suche nach einer fiktiven verschwundenen Mitbewohnerin. Menschen, die weit voneinander entfernt in ihren Wohnungen sassen, fanden so für mehrere Stunden zusammen, tauschten sich nach dem Stück in betreuten Chats – digitalen Foyers sozusagen – rege über ihre Erfahrung aus. «Die genuinen Eigenschaften dieses Formats haben überraschende, unerwartete Effekte nach sich gezogen», erinnert sich Regenass.

Am Theater Chur realisiert er jedoch keine eigenen Inszenierungen. Da das Gastspielhaus in der Regel keine Eigenproduktionen umsetzt, beschränkt sich sein Spielraum darauf, sich bei der Programmgestaltung für digitale Formate einzusetzen. Für Regenass ist dabei klar: Spannend wird es, wenn Theaterstücke nicht bloss versuchen, mit digitalen Mitteln das analoge Theater zu imitieren, sondern die Funktionsweisen und Leistungen eines Mediums konzeptuell mitdenken und sich zunutze machen: «Das führt zu einer wirklichen Erweiterung und Diversifizierung des Theaters, zu einem Mehrwert.» Die Kopräsenz von Publikum und Darsteller:innen, der Livecharakter, das Gemeinschaftserlebnis während und nach einer Aufführung – Charakteristiken des «klassischen» Theaters verschwinden nicht einfach, sondern werden auf anderen Wegen geschaffen, manifestieren sich auf eine andere Weise.

Auf den Tisch klopfen

Digitale Formate haben jedoch auch ihre Kehrseiten. Die digitale Übersättigung mag bei manchen die Lust auf Theatererlebnisse vor dem Bildschirm schmälern, stockende Übertragungen und Tonprobleme tragen das ihre dazu bei. Überhaupt setzen digitale Formate technisches Equipment und entsprechende Kenntnisse voraus – beim Publikum wie auch bei den Theaterschaffenden.

Auch in Chur, einem Haus mit «grossem Herz fürs Digitale», wie Regenass findet, geschieht die Auseinandersetzung mit der Digitalisierung nicht ohne Reibung. «Manchmal nerve ich mit meinem Beharren auf dem Digitalen tatsächlich», gibt er zu. Gleichzeitig betont er, dass digitale Formate keine Bedrohung für die klassische Theatersituation darstellen, wenn sich beide auf ihre jeweiligen Eigenschaften und Stärken besinnen. Wenn in den Spielplansitzungen wieder einmal digitales und «klassisches» Theater gegeneinander ausgespielt werde, müsse er jeweils auf den Tisch klopfen. «Es gibt da keine Konkurrenz, und ein Teil meiner Arbeit besteht darin, das deutlich zu machen.» Stattdessen schwebt ihm ein Neben- und Miteinander vor: «Ein grosses Buffet, von dem jeder nehmen kann, was er oder sie will – das ist meine Fantasie.»

«DigiDays: Digitalität und Theater». Theater Chur, 7.–10. März 2022.