Ruth Schweikert (1964–2023): Fern jeder Nabelschau

Nr. 24 –

Über das Lesen ist sie zum Schreiben gekommen, Leserin ist sie geblieben: Mit Ruth Schweikert ist eine unverwechselbare Stimme der Schweizer Literatur verstummt.

Ruth Schweikert 2005 in ihrem Atelier in Zürich
Ruth Schweikert 2005 in ihrem Atelier in Zürich. Foto: Caroline Minjolle, Lunax

«Aber wie und womit hatte es angefangen», sagt die Protagonistin Merete ganz am Anfang des Romans «Ohio». «Ihre Lippen waren ausgetrocknet, der linke Mundwinkel hatte sich entzündet, und Andreas dachte daran, wie sie am Anfang ihrer Liebe einander gefüttert hatten, mit Tomaten, Käse und Weissbrot, wie Eltern ihre kleinen Kinder füttern, die so klein und so neu sind, dass man sie unentwegt ansehen und füttern muss, damit sie nicht gleich wieder aus dieser Welt verschwinden.» Man muss jeweils nur die ersten paar Sätze von Ruth Schweikerts Romanen und Erzählungen lesen, um gebannt zu sein vom sprachlichen Zauber und dem unmittelbar packenden Tonfall.

Nahe bei den Figuren

Wie einzigartig fokussiert und literarisch vielschichtig Ruth Schweikert von sich und ihrer Zeit, von den Nächsten und von der Gesellschaft zu schreiben verstand, das zeigen, vielleicht mehr noch als die mitunter harschen Erzählungen im Debütband «Erdnüsse. Totschlagen», ihre drei subtil miteinander verbundenen Romane «Augen zu» (1998), «Ohio» (2005) und «Wie wir älter werden» (2015). Es sind gleichsam Selbstbefragungen und Selbstvergewisserungen als Dreissig-, Vierzig- und Fünfzigjährige, fern jeder Nabelschau.

Dem Roman «Wie wir älter werden» hat sie als Motto ein Notat aus Max Frischs erstem Tagebuch vorangestellt: «Die Zeit verwandelt uns nicht, sie entfaltet uns nur. Indem man es nicht verschweigt, sondern aufschreibt, bekennt man sich zu seinem Denken, das bestenfalls für den Augenblick und für den Standort stimmt, da es sich erzeugt.» Damit wird wohl auch die Schreibhaltung der 53 Jahre jüngeren Autorin gültig eingefangen. «Wie Frisch die eigene Person immer wieder infrage stellt und sich zugleich immer verortet in Zeit und Raum – das ist mir nahe», hat sie dazu einmal erklärt. Und nahe will sie stets auch ihren Figuren sein – was die Lesenden spüren: Schweikerts Texte stellen dringliche Fragen, und sie lassen nicht gleichgültig.

Ruth Schweikert war selbst eine fabelhafte und passionierte Leserin. Sie sei «ganz klar übers Lesen zum Schreiben gekommen und über die Faszination», hat sie bekannt. «Also wie ein einzelnes Wort oder ein Satz, wie der nachhallen kann, was da hängen bleibt.» Während zweier Jahre konnte ich mit Ruth und dem Germanisten Karl Wagner für die Sendung «52 beste Bücher» einmal im Monat ein längeres Radiogespräch über eine literarische Neuerscheinung führen. Ihre einfühlsamen Lektüren vor allem von Autor:innen, die sie besonders schätzte wie A. L. Kennedy, Alice Munro, Amos Oz oder Olga Tokarczuk, sind mir nachhaltig in Erinnerung geblieben. Sie hat luzide analysiert und mit Sinn für sprachliche Details oft überraschend interpretiert. Wenn sie etwa die «eigenwillige und eigensinnige Fantasie» der späteren Nobelpreisträgerin Tokarczuk rühmte und deren «ausserordentliches Empfinden für den alltäglichen Raum», dann benannte sie damit zugleich ihre eigene Poetik.

Mit jedem Atemzug

Keine andere literarische Stimme hat zuletzt hierzulande die Signaturen und Verwerfungen der Epoche in solcher Intensität gezeichnet. In enorm stimmigen Szenen hat Ruth Schweikert – mal drastisch, mal hochpoetisch, verzweifelt und hoffnungsvoll zugleich, radikal und empathisch – von uns allen erzählt und gezeigt: «Der Mensch ist Bürger zweier Welten, jener, die ist, und der anderen, die sein könnte. Der Macht des Faktischen kann die Kunst den Entwurf des Möglichen gegenüberstellen.»

Zu den Autor:innen, die sie besonders interessiert haben, zählen viele, die vor der Zeit gestorben sind: Ingeborg Bachmann, Marieluise Fleisser, Silvia Plath oder Virginia Woolf. Am Ende des Versuchs, die singuläre Qualität von Schweikerts literarischem Werk zu skizzieren, soll deshalb aus traurigem Anlass einer ihrer enorm konzentrierten Sätze stehen. In «Wie wir älter werden» erliegt eine Freundin der Protagonistin kaum vierzigjährig einem Krebsleiden. Ihre alten Eltern übernehmen als letzte Lebensaufgabe die Pflege und die Begleitung des Sterbens – «und als Heidi Schifferli sich am frühen Morgen des 9. Januar, es war noch stockdunkel draussen, einzig das fahle Licht einer Strassenlaterne erhellte das Krankenbett, zu ihrem Mädchen legte und ihren abgemagerten Körper mit ihren Armen umfasste, fühlte es sich beinahe an wie damals, kurz nach der Geburt, die nun in umgekehrter Richtung ablief; als ziehe ihr uraltes Kind sich mit jedem Atemzug ein kleines Stück weiter aus dem Leben zurück, bis es ganz still wurde im Zimmer und nur noch ihr eigener Atem zu hören war, und dann ein Schrei.» Bewegender lässt sich das Skandalon eines Todes vor der Zeit wohl nicht schildern.

Johanna Lier: Zeiten der Konflikte, Zeiten der Nähe

«Die Zeit verwandelt uns nicht. Sie entfaltet uns nur.» Ein Zitat von Max Frisch. Zitiert von Ruth.

Beim Lesen dieser Zeilen höre ich deine Stimme. Nach einer schlaflosen Nacht des Nachdenkens und des Erinnerns höre ich deine Stimme. Das brüchige Timbre, das zögernde, stockende Ansetzen, der Durchbruch, der sich befreiende Sound, intensiviert, gebündelt, geschärft, um in unerwarteten und eigensinnig klugen Gedanken anzukommen, Atem holen, neuer Aufbruch. Deine Fähigkeit, beim Reden Gedanken entstehen zu lassen, hat mich zur Praxis gebracht, Texte aus dem Schreibprozess entstehen zu lassen. Ich habe von dir gelernt, mich suchend in die Zeit hinein zu entfalten.

Es war nicht immer einfach, neben dir zu Wort zu kommen. Obwohl du auch hervorragend zuhören konntest. Es gab Zeiten der Distanz, der Konflikte, es gab Zeiten der Nähe, der Inspiration und der gemeinsamen Kämpfe – es war eine lange, intensive Zeit.

«Erinnerung ist Fiktion. Fiktion ist Erinnerung.» Ein anderes Zitat von Max Frisch. Zitiert von dir. Ich erinnere mich. An unsere Nachbarschaft und die gleichaltrigen Kinder. An deinen 50. Geburtstag im sommerlichen Périgord. An die Woche mit Studierenden, in der wir uns in einer Tessiner Küche am Feuer wärmten und kochten. An den Moment, als wir auf der Strasse rauchten und du den Telefonanruf bekommen hast – du wusstest, dich erwartet eine schlechte Diagnose. Du brachtest mich zu Suisseculture in die institutionelle Politik und damit zu unerlässlichen Erfahrungen für meine heutige aktivistische Arbeit. Du holtest mich ins Jugendliteraturlabor Jull, eine Arbeit, die mich prägt und erfüllt. Wir diskutierten auf dem Balkon über alternative Publikations- und Vertriebsformen – daraus ist ein Verein zur Förderung der Literatur entstanden; wir organisierten die Lesereihe «TeppichTeppich», wir sassen in den Sitzungen von Kunst + Politik. Ich staune. So viel hast du angestossen. Und das ist keine Fiktion.

Ich fühle grosse Trauer.

Und Dankbarkeit für die Entfaltung.

Die Dichterin und Journalistin Johanna Lier (60) hat mehrere Bücher publiziert und schreibt auch gelegentlich für die WOZ.

Simon Froehling: Versprechen: Wir schreiben dich weiter

Beobachtung: Erst zum Schluss konntest du «Ich» schreiben. / Tatsache: Auf meinem Tisch stehen Pfingstrosen, immer noch. / Änderungsvorschlag: Deine Sprache war nicht schonungslos, wie überall zu lesen ist; sie war schlicht genau. / Letztes Bild: Meine Hand auf deinem dünnen Arm schaue ich lange in den Hof, wo du und dein Mann mal zum Sommerfest luden.

Vorletzte Worte: «Grüsse von J. – du weisst schon, mein Ex.» / Beinahe wütend: «Natürlich weiss ich, wer J. ist!» / Witz: «Ihr musstet euch die Widmung teilen in meinem ersten Buch.» / Aber: Deine Augen sind bereits wieder zu. / Koinzidenz: Kurz vor Abgabe dieses Texts verliere ich meine Bauchtasche mit allem (!) und muss an unsere erste Begegnung denken. / Erste Begegnung: Wie du verspätet in eine Versammlung des Autor:innenverbands platzt, ganz aufgelöst. / Mal wieder: Den Laptop im Zug vergessen. / Zweite Begegnung: Du besuchst das Institut, an dem du später arbeiten wirst. / Köstlich: das Gesicht des älteren Dozenten, als du mitten in seinen Ausführungen deinen Sohn zu stillen beginnst. / Letzte Worte: «Nimm alles mit.» / Bewegung: Ich beuge mich zu dir runter, um dich besser zu hören. / Wiederholung: «Nimm alles mit.»

Behauptung: Dir war nur in der Fülle wohl, nahe an der Überforderung. / Unser Soundtrack: Leonard Cohen, «There’s a crack in everything, that’s how the light gets in». / In einem Wort: Grosszügig. / Versprechen: Wir nehmen alles mit; wir schreiben dich weiter. / Behauptung: Nicht Glaubwürdigkeit strebtest du an, sondern Wahrhaftigkeit. / Behauptung: Der Punkt war dir suspekt, weil du wusstest, dass man im Leben selten solche Landungen hinkriegt. / Behauptung: Du liebtest das Semikolon, dieses Ja-Und der Satzzeichen. / Ausgrabung: ein Pressefoto für unser Theaterstück. / Im Vordergrund: eine Packung Parisienne Ciel. / Ort: dein Atelier, das später mein Atelier wurde. / Schreibbewegung: Immer wieder neu ansetzen, sich tiefer und tiefer eingraben.

Kein Schluss: Half auch das Red Bull light nichts mehr, hellblau wie deine Parisienne, rettete dich das Spiel mit Anagrammen. / In dem Sinne: Liebe Lesende, SICHTET WERK, und du, dearest R. – RUH. / Alternativ: Einen KIR auf Ruth Schweikert, WUCHTET SEHR!

Der Autor Simon Froehling (45) hat bei Ruth Schweikert am Literaturinstitut in Biel studiert. Zuletzt ist von ihm der Roman «Dürrst» (2022) erschienen.

Franziska Meister: Radikal selbstlos

Liebe Ruth

Du mochtest schöne Schreibhefte, unliniert und karofrei, das Versprechen leerer Seiten, das so viel grösser war als ihr Horror Vacui. Und du mochtest lange Sätze, eine Verheissung auch sie, auf einen Aufbruch ins Offene, Ungewisse. Schreiben als Abenteuer, als Ringen mit Widerständen und Abgründen, als Entdeckungsreise, auf der du so viele begleitet hast.

Vertraut euren Figuren, geht, wohin sie euch tragen! Nur selten hast du so explizit einen Wunsch an uns geäussert. Genauso wenig, wie es dir in den Sinn gekommen wäre, Wissen zu vermitteln, nein, eine solche Lehrerin wolltest du nie sein. Stattdessen hast du Fragen formuliert, die unsere Segel blähten – und manchmal auch den Wind aus ihnen nahmen; deine Fragen liessen uns den Kurs, den die Figuren nahmen, stets neu befragen. Du fragtest präzis, offen, spekulativ, hartnäckig auch, doch immer fragtest du mit persönlichem Interesse.

Dein Engagement war so grosszügig und unermüdlich, dass es mitunter ins Unheimliche überschwappte, auch, weil es so radikal selbstlos war. «Alles, was wir handeln, muss, wenn es Wert haben soll, vom Betrachtungspunkt der Kürze unseres Lebens aus gehandelt sein.» Diese Worte von Ludwig Hohl hast du deinem letzten Buch, «Tage wie Hunde», vorangestellt, und beim Wiederlesen, jetzt, wirken sie, als hättest du eine Radiografie deiner selbst erstellt. Wir kannten uns nur kurz, aber ich hätte dich gerne noch viel länger gekannt.

Franziska Meister (56) ist WOZ-Redaktorin und wurde im Lehrgang Literarisches Schreiben in Zürich von Ruth Schweikert mentoriert.

Isolde Schaad: Atemlos, unersetzlich

Wenn das strapazierte Wort «authentisch» auf jemanden zutrifft, dann auf Ruth Schweikert und ihre Bücher. Ich wüsste niemanden, die so knallhart an der Grenze der ruchlosen Realität entlangschrieb wie sie. Schon im ersten Erzählungsband kommt die Unmittelbarkeit, mit der das Leben in Literatur umschlägt, auf umwerfende Weise zum Zug. Es ist, als würde die Sprache mit atemloser Kraft zurückschlagen auf die Unzumutbarkeit, die Zudringlichkeit, die Verstörung, die das Leben für die Ausführende, die Protagonistin bereithält.

Doch trotz oder entgegen ihrer Bühnenversiertheit: Sie spielte niemals Theater, es war eher ein fantastisch unbewältigter Überlebenskampf, den sie darbot, in der unnachahmlichen Kehligkeit ihrer Stimme, überall, wo sie auftrat und lesen sollte oder gleich den Text verfassen würde, den sie lesen würde. Und es war immer hinreissend, wie sie den Text nicht dabeihatte, den sie uns gleich vortragen würde.

Es war ein Leben, das an allen Extremitäten brannte, in seiner Intensität ein Meisterwerk des Multitasking. Wenn sie mit Kickboard und Laptop unterwegs war, konnte es, wollte es keine Musse entfalten, und wenn Ruth Schweikert uns Kolleginnen eröffnete, sie werde nun in eine Retraite zum Schreiben verschwinden, dann berief sie gleichzeitig ein Hearing für ein Theaterprojekt, ein Coaching für ihre Schreibschützlinge und eine Debatte zum feministischen Einsatz in den Nationalratswahlen ein. Notabene, sie fanden alle statt. Ich erinnere mich an eine Sitzung des Autor:innenverbands zur Feier eines Rousseau-Jubiläums, die im Theater Neumarkt stattfinden sollte, am Vorabend war noch kein Skript vorhanden, niemand wollte mitmachen, einige sagten ab.

Aber Ruth schaffte es, einen Anlass von unverblümter Frische herbeizuzaubern, denn sie kamen alle, die, die abgesagt, die, die kein Skript vorbereitet hatten, und jene, die am Sinn dieser Veranstaltung zweifelten, auch.

Eines könnte leicht übersehen worden sein in all den Prüfungen, die Ruth Schweikert ausfocht, mit sich und der Welt: die Zärtlichkeit, die sie für ihren Jüngsten empfand.

Ein unvergessenes Bild: Wie sie in der Gesprächsrunde am Bieler Institut den strampelnden Säugling auf den Boden büschelt, und wir Unheiligen drumherum bestaunen die Inbrunst einer Maria, Madonna, die auch eine enorme Wut in sich trägt. Doch die liebende Sinnlichkeit, der pädagogische Eros verbot der Mutter von fünf, jemals eine Medea zu werden.

Isolde Schaad (78) ist Schriftstellerin. Ende August erscheint ihr neues Buch mit Erzählungen, «Das Schweigen der Agenda».

Donat Blum: Geflecht aus Geschichten, Leben und Menschen

Sie habe das Gefühl, dass es nicht vorwärtsgehe. Aber deswegen seid ja jetzt vielleicht ihr beide hier?!

Mit der Literatur oder dem Leben?, fragten wir.

Mit beidem.

Also initiierten wir im kleinen Salon der Klinik, der architektonisch verblüffende Ähnlichkeiten mit dem Bieler Literaturinstitut aufwies, einen «writers’ room of one’s own», um fortan gemeinsam regelmässig an einem ihrer Texte zu arbeiten.

Wir stellten Fragen und warteten, während Ruth in sich kehrte, um den nächsten ihrer weniger – aber deshalb nicht weniger präzis – gewordenen Sätze auszuformulieren. Ein Bild, eine Atmosphäre, eine Erinnerung, ein Kommentar. Nicht unähnlich den unzähligen Mentoratsstunden, in denen sie ganz nahe am Bildschirm sass und frei, aber treffsicher assoziierte, was durch unsere Texte mit ihren und unseren inneren und äusseren Welten geschah oder geschehen könnte.

In «Wie wir älter werden» beobachtet Kathrin, wie sich zwischen den Gästen einer Trauerfeier ein «Netz von Blicken über die Anwesenden spannte, kürzere und längere Linien, die sich zu Dreiecken, Vierecken und Vielecken formierten, als versuchten sie alle, miteinander in Beziehung zu treten».

So erlebte ich Ruth. Wo immer sie anwesend war, trat sie mit ganzer Aufmerksamkeit in Beziehung und spann weiter an dem unendlichen Beziehungsgeflecht aus Literatur, aus Geschichten, Leben und Menschen, mit dem sie sich umgab.

Eine der schönsten Erfahrungen der letzten Monate war, zu erleben, wie viele unzählige Menschen mit Ruth in Verbindung stehen. Vermutlich hat denn auch kein zweiter Mensch die Deutschschweizer Gegenwartsliteratur stärker geprägt als sie.

Als ich mich vor eineinhalb Monaten abends verabschieden wollte, fragte ich Ruth, ob ich noch irgendetwas für sie tun könne, bevor ich für die Nacht nach Hause gehe.

Ja, es Liedli singen.

Ich musste lachen.

Gell, du weisst, dass das zwei unserer Bücher verbindet und ich nur Kinderlieder kenne?

Ruth strahlte übers ganze Gesicht:

Ja.

Also sang ich «Ich ghören es Glöggli», «Schlaf, Chindli, schlaf» und «Love Me Tender» – so wie in meinem Debüt, das ich mit Ruth erarbeitet hatte, der Enkel seiner Grossmutter Schlaflieder und so wie Jacques in «Wie wir älter werden» seiner Frau Weihnachtslieder vorsingt, weil sie nur diese auswendig kennen.

Donat Blum (37) hat bei Ruth Schweikert am Literaturinstitut in Biel studiert. Blums Debütroman «Opoe» ist 2018 erschienen.

Michel Mettler: Halbdunkle Gebiete

Ganz leicht war es nicht, ins Gespräch zu kommen. Fast zu viel war zu sagen, ein Andrang, gespannte Aufmerksamkeit, ein forschend-unnachgiebiger Blick. Es fiel schwer, ihm auszuweichen.

Was da brodelte, war nicht in schnelle Sätze zu giessen. Smalltalk verbot sich, wie alles Halbherzige. Der Sprachakrobatik misstraute sie schon damals, 1993. Dieses Fluidum war so stark, dass auch mir die Worte entfielen über einem Abgrund plötzlicher Sprachlosigkeit.

Auf einer Lesereise hörte ich sie unablässig in ihrem Hotelzimmer auf- und abgehen – unterwegs zwischen dem Fliessenden und der Form? Bei aller Beschwernis blieb das Gespräch fesselnd. Es war über weite Strecken ein Tasten durch halbdunkle Gebiete. Konträre Sprachtemperamente suchten nach Worten für die gemeinsame Gegenwart.

Sie schrieb an ihren ersten Texten. Einiges war schon in Theaterprojekte eingeflossen; da und dort las sie daraus. Die Sprache schnitt durch belebtes Gewebe – kein Publikum konnte sich entziehen. Etwas einschüchternd Präzises war im Begriff, zur Welt zu kommen: Hierzulande war über Geburt, Männergewalt und die Verlorenheit der Mütter kaum Schonungsloseres geschrieben worden.

Und nachdem der letzte Punkt gelesen war, kam dieses Brodeln zurück. Andere hatten schon Satzmassstäbe für sich gezimmert; auch ich turnte durch die Vokabularien. Sie hingegen schien den Worten zu misstrauen, so als griffe sie eines nach dem anderen auf, Kiesel aus dem Bett der Sprache. Die meisten passten nicht, wurden verworfen, fielen zurück in den grossen Redestrom.

Auch gedruckt verfehlten die Texte ihre Wirkung nicht, und auf einmal war viel Licht auf ihre Person gerichtet, auf dieses Ringen nach sprachlichem Sauerstoff. Dass sie sich nicht mit falscher Geläufigkeit aus der Affäre zog, beeindruckte mich. Doch mit den Jahren schälte sich aus dieser Sprachskepsis, ohne jedes Zugeständnis, eine neue Beredsamkeit heraus. Nun trat sie ein für die Spielräume des Verhandelns; ja, sie hat sich für eine Fortsetzung des Gesprächs verwendet, auch in aussichtsloser Lage.

Der Autor und Herausgeber Michel Mettler (57) war in den neunziger Jahren in die Autor:innengruppe NETZ involviert, in der auch Ruth Schweikert aktiv war.