Marine Hitze: Bald hungert nicht nur der Hering

Nr. 27 –

Die rekordhohen Meerestemperaturen bedrohen marine Ökosysteme und lassen Fischbestände einbrechen. In den Tropen schwimmt den Armen die Nahrungsgrundlage davon.


Die Weltmeere sind arg gebeutelt. Verschmutzung, Überdüngung und die Klimaerhitzung setzen ihnen reichlich zu, und künftig droht ihnen auch noch die Versauerung, weil sie einen Teil des aus Entwaldung und fossilen Brennstoffen stammenden Kohlendioxids (CO₂) aufnehmen. In jüngster Zeit sorgen zudem Hitzewellen in verschiedenen Ozeanen für Schlagzeilen. Unter anderem ist der östliche Nordatlantik von der westafrikanischen Küste bis zum Nordkap seit Wochen für die Jahreszeit viel zu warm, wie Daten der Universität von Maine in den USA zeigen (einsehbar unter www.climatereanalyzer.org).

Besonders ausgeprägt ist die Anomalie seit vielen Wochen an den nordwest- und nordeuropäischen Küsten. Aber auch im westlichen Mittelmeer ist die Meeresoberfläche viel zu warm. In der Nord- und der Ostsee mag das die Badegäste freuen – zumindest solange die Wärme nicht zu giftigen Algenblüten führt.

Ansonsten ist die ungewöhnliche Wärme jedoch alles andere als erfreulich: Sie gefährdet die marinen Ökosysteme und damit die Fischbestände, die einen wichtigen Beitrag zur Welternährung liefern. 2019 haben Meeresfrüchte aller Art siebzehn Prozent des tierischen Eiweisses ausgemacht, das für Menschen zur Verfügung stand, heisst es bei der FAO, der Uno-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft.

Geht den Fischen die Luft aus?

In vielen ärmeren Ländern, darunter auch viele kleine Inselstaaten, ist die Abhängigkeit vom Fischfang für den Eigenbedarf hoch. In diesen Ländern spiele die Fischerei eine besonders wichtige Rolle für die Ernährung der Bevölkerung, und oft seien Meeresfrüchte die günstigste Form tierischen Eiweisses, schreiben die Autor:innen des jüngsten FAO-Berichts über Fischerei und Aquakulturen.

Für diese Menschen sind die derzeitigen Hitzewellen in den Weltmeeren eine besonders schlechte Nachricht. Schon die gleichmässige Erwärmung der Ozeane ist für viele Fischarten ein Problem. Immerhin nehmen die Weltmeere rund neunzig Prozent der Energie auf, die durch den Anstieg der Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre im globalen Klimasystem gespeichert wird, betont Thomas Frölicher, der an der Universität Bern unter anderem marine Hitzewellen erforscht.

Gehe die globale Erwärmung ungebremst weiter, werde die potenzielle Menge an Fisch, die in den Meeren zu fangen sei, bis Ende des Jahrhunderts um gut zwanzig Prozent abnehmen. Den meisten Fischen werden vor allem die steigenden Wassertemperaturen Schwierigkeiten bereiten, wie Frölicher gemeinsam mit Kolleg:innen in einer Ende Juni im Fachblatt «Biogeosciences» veröffentlichten Studie herausgearbeitet hat.

Doch auch die Abnahme des im Wasser gelösten Sauerstoffs kann ein Problem darstellen. Sie hat vor allem zwei Ursachen: Zum einen nimmt die Löslichkeit der Gase – aller Gase, wie Frölicher mit Verweis auf das CO₂ betont – mit zunehmender Wassertemperatur ab. Je wärmer das Oberflächenwasser wird, desto weniger Sauerstoff und auch Kohlendioxid kann es aus der Atmosphäre aufnehmen. Zum anderen verringert sich mit der höheren Temperatur der oberen Meeresschichten auch deren Durchmischung.

Das wärmere Wasser liegt, da seine Dichte geringer ist, über dem kühleren, und je grösser das Temperaturgefälle ist, desto schlechter können Winde diese Schichtung durcheinanderbringen. Dadurch gelangt weniger Sauerstoff in tiefere Wasserschichten, wo er dann den dort lebenden Fischen und anderen Organismen fehlt. Höhere Wassertemperaturen regen ausserdem das Wachstum von Algen an. Sterben diese ab, sinken sie in tiefere Wasserschichten, wo sie von Mikroorganismen zersetzt werden, die dabei den knappen Sauerstoff verbrauchen.

Giftige Algenblüten

Da kann man sich vorstellen, dass die aktuellen Hitzewellen die marinen Ökosysteme besonders unter Druck setzen. Immerhin waren Ende Juni die nordwesteuropäischen, aber auch die westafrikanischen Küstengewässer um rund ein halbes Grad wärmer als je zuvor um diese Jahreszeit. Was ein solches Ereignis anrichten kann, zeigte sich 2003 im Mittelmeer: Eine mehr als dreissig Tage anhaltende Hitzewelle führte zu einem Massensterben in den Felsenriffen. 2016 verursachte eine fünfzehntägige Hitzewelle im Gelben Meer zwischen Nordchina und der koreanischen Halbinsel grosse Verluste in den dortigen Aquakulturen.

Besondere Aufmerksamkeit in der Fachwelt und der nordamerikanischen Öffentlichkeit erregte eine riesige, ungewöhnlich warme Wassermasse im nördlichen Pazifik, die von 2013 bis 2016 dem Leben im Wasser vor den Küsten Nordamerikas arg zusetzte. Bis an die Küste Mexikos hinunter dehnten sich giftige Algenblüten aus. Vielerorts kam die Fischerei zum Erliegen, viele Populationen haben sich bis heute nicht erholt.

Solche Hitzewellen werden häufiger – und sie sind meist, so Frölicher, auf den vom Menschen verursachten Klimawandel zurückzuführen: Neunzig Prozent der seit dem Beginn des Jahrtausends aufgetretenen Hitzewellen lassen sich nur mit den zusätzlichen Treibhausgasen in der Atmosphäre erklären.

Die jüngste Hitzewelle im Nordatlantik kommt für Frölicher daher nicht überraschend, aber er hält sie für besorgniserregend. Sie möge eine natürliche Fluktuation im Klimasystem sein, aber sie addiere sich zu einem Erwärmungstrend, was sie besonders extrem mache. Ganz ähnlich sieht das der Klimaphysiker Helge Gössling, der am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven unter anderem an der Vorhersage von Meereis arbeitet. Er verweist auf eine ungewöhnliche Verteilung von Hoch- und Tiefdruckgebieten über dem Nordatlantik, die im Frühling die Windmuster und damit die Oberflächenströmungen des Meeres verändert haben. Auch für ihn ist die Hitzewelle in ihren Ausmassen «eine Kombination aus Klimawandel und Zufallsschwankungen».

Lebensgrundlage schwindet

Die Mechanismen, mit denen die Klimaerhitzung die marinen Ökosysteme schädigt, sind vielfältig. Manchmal ist es weder ein zu geringer Sauerstoffgehalt, der den Fischen zu schaffen macht, noch direkt die Wärme. Letztere kann sie allerdings durcheinanderbringen und die Aufzucht des Nachwuchses gefährden, wie das Thünen-Institut für Ostseefischerei in Rostock festgestellt hat. Dort untersucht man seit vielen Jahren regelmässig die Zahl der Heringslarven. Hering ist seit Jahrhunderten die Grundlage der deutschen Ostseefischerei und hat schon den spätmittelalterlichen Städtebund der Hanse gross gemacht.

Seit 2006 beobachten die Rostocker Fischereibiolog:innen einen drastischen Rückgang der Larven in den seichten Küstengewässern südlich der Insel Rügen, der regional wichtigsten Kinderstube des Herings. Parallel dazu sind die Fangerträge eingebrochen. Genauere Untersuchungen und Modellierungen haben inzwischen ergeben, dass zu hohe Wassertemperaturen den Hering dazu animieren, rund einen Monat früher als noch in den 1990er Jahren zu laichen. Das Problem: Die Larven schlüpfen entsprechend früher und verhungern oft, weil sie nicht genug Nahrung finden. Das Wachstum des winzigen Zooplanktons, von dem sie sich ernähren, wird nämlich nicht von den Wassertemperaturen gesteuert, sondern von der Tageslänge.

Doch der Ostseehering ist noch nicht verloren. Nach langem Zögern ist die EU endlich den Empfehlungen der Wissenschaftler:innen gefolgt und hat – sehr zum Ärger der örtlichen Fischer:innen – die Fangquoten drastisch reduziert. In Rostock geht man davon aus, dass sich die Bestände auch unter den erschwerten Bedingungen so weit regenerieren können, dass etwa die Hälfte der früheren Erträge nachhaltig fischbar sind.

Anderswo sieht es schlechter aus. Die Forscher:innen in der alten Hansestadt rechnen damit, dass verschiedene Fischarten mit der Klimaerhitzung nordwärts wandern werden. Einbussen werde es überall ausserhalb der Arktis geben. Am grössten indes würden sie in den Tropen ausfallen, denn dort könnten keine Arten aus noch wärmeren Gewässern einwandern. Um mehr als dreissig Prozent könnten die Erträge beiderseits des Äquators zurückgehen, also ausgerechnet dort, wo die ärmeren Teile der Bevölkerung am meisten auf die küstennahe Fischerei angewiesen sind – Menschen, die am wenigsten zur Klimaerhitzung beigetragen haben.