Widerstand in der Türkei: Mehr als nur ein Wald

Nr. 32 –

Seit zwei Jahren wehren sich Aktivist:innen gegen die Rodung des Akbelen-Walds zugunsten eines Kohletagebaus – nun sind Polizei und Bagger angerückt.

Die Waldgebiete in der Region Muğla im Süden der Türkei schwinden seit langem: Für den Abbau von Braunkohle sind in den letzten Jahren enorme Flächen abgeholzt und Dutzende Dörfer umgesiedelt worden. 2020 wurden Pläne der Konzerne Limak Holding und İÇ Holding öffentlich: Zum Betrieb ihrer nahe gelegenen Wärmekraftwerke Yeniköy und Kemerköy sollte der 740 Hektaren grosse Akbelen-Wald nahe dem Örtchen Ikizköy einem Tagebau weichen. Auf dem Gelände befinden sich jahrhundertealte Kiefern- und Olivenhaine, die Wälder sind für die Dorfgemeinschaft zudem ein wichtiges Wasserreservoir.

Schon kurz nach Bekanntwerden des Vorhabens formierte sich Widerstand: Die Anwohner:innen von Ikizköy reichten beim Verwaltungsgericht Muğla Klage gegen das zuständige Ministerium für Land- und Forstwirtschaft sowie gegen die Generaldirektion für Forstwirtschaft ein. Das Gericht ordnete daraufhin eine Untersuchung von Sachverständigen an: Sie sollten prüfen, ob die Baumfällarbeiten rechtmässig sind.

Zwar kam es dennoch zu ersten Abholzungen – weit kamen die Arbeiter:innen aber nicht, weil sie von den Bewohner:innen aufgehalten wurden. Seit rund zwei Jahren steht am Eingang des Waldes ein Zeltlager. «Wir gehen nirgendwohin, wir halten Wache», steht auf grossen Schildern, die das Widerstandscamp säumen. Oder: «Wir verteidigen das Leben, nicht die Kohle.» Immer wieder wurde der Protest seither von Sicherheitskräften angegriffen, immer wieder standen Rodungen kurz bevor. Dann schien es zunächst ruhiger um den Wald und dessen Bewacher:innen zu werden.

Platzwunden und Hämatome

Die Aktivist:innen trauten dem Frieden allerdings nicht: Sie haben fünf weitere Klagen eingereicht – und halten die Mahnwache bis jetzt seit über 730 Tage am Leben. Nun droht ihrem Kampf ein gewaltvolles Ende.

Am 24. Juli – inmitten der sengenden Sommerhitze und der Waldbrandgefahr – sperrten die Behörden den Wald grossflächig ab. Rasche Solidaritätsaufrufe der Aktivist:innen zeigten allerdings Erfolg, das Protestcamp wuchs kräftig an. Drei Tage später umstellten Polizei, Gendarmerie und weitere Sicherheitskräfte den Ort – und griffen die Protestierenden, viele von ihnen ältere Menschen, mit Schlagstöcken, Tränengas und Wasserwerfern an. Bilder in den sozialen Medien zeigen Platzwunden und grosse Hämatome.

Perihan Koca, die für das Wahlbündnis rund um die Grüne Linkspartei (YSP) jüngst ins Parlament einzog, war beim Überfall aufs Protestcamp vor Ort. Die Gewaltanwendung sieht sie als Teil einer anhaltenden Entwicklung im Staatsapparat. «Das Regime verschärft zunehmend seinen Umgang mit der Bevölkerung: Bereits kleinste Versammlungen wie hier im Wald werden nicht geduldet. Sofort wird auf Polizeigewalt zurückgegriffen», sagt sie.

Auch in den Tagen nach dem Angriff wurden vielfach Aktivist:innen verletzt und vorübergehend festgenommen, während hinter den Polizeiabsperrungen bereits Tausende Bäume gefällt wurden. Der Widerstand geht trotzdem unvermindert weiter: Nicht nur im nahe gelegenen Ikizköy, sondern auch in der Hauptstadt Ankara und andernorts gingen die Menschen zuletzt zur Unterstützung des Akbelen-Walds auf die Strasse.

Die Proteste richten sich gegen die Triade von Staat, Politik und Wirtschaft, die gemäss den Aktivist:innen die natürlichen Ressourcen der Türkei erst privatisierten und dann plünderten. «Wir sehen uns einer verheerenden Zerstörung der Wälder für die Profite privater Unternehmen gegenüber», sagt Parlamentarierin Koca. Hinzu komme das Fehlen einer ausreichenden rechtlichen Grundlage. Schon 2021 sei die einstmalige Erlaubnis zur Abholzung von Akbelen abgelaufen, berichtet die Umweltingenieurin Deniz Gümüşel, eine Sprecherin der Protestierenden. «Die Unternehmen begehen hiermit auch rein rechtlich ein Vergehen», sagt sie.

Beschwichtigung statt Lösungen

Was derzeit im Akbelen-Wald passiert, ist die Zuspitzung eines Raubbaukapitalismus, den die regierende AKP in den letzten Jahren immer stärker vorangetrieben hat: So erhalten Konzerne, die im grossen Stil auf Bauwirtschaft, Energie und Extraktivismus fokussieren, alle möglichen Genehmigungen und Zuschläge für Milliardenprojekte – für Flughäfen, Staudämme und Kraftwerke.

Die Mischkonzerne İÇ Holding und Limak Holding halten jeweils hälftig die Anteile an YK Enerji, der Betreiberin der Kraftwerke in Muğla. Beide Holdings gehören wiederum zur AKP-nahen «Fünfergruppe»: Unternehmen, die den Grossteil der Megaprojekte der letzten Jahre an Land ziehen konnten und aufgrund von Rentierpolitik und Schmiergeldaffären vielfach in der Kritik standen.

Ende Juli reagierte YK Enerji mit einem Statement auf die in ihren Augen «falschen Anschuldigungen»: Durch die Arbeit in den Kraftwerken würden zahlreiche Familien der Region finanziell abgesichert, der generierte Strom sei nicht zuletzt auch für die touristische Erschliessung des Landstrichs von grosser Bedeutung. Die Generaldirektion Forstwirtschaft habe den Akbelen-Wald als Ort mit «wirtschaftlichem Potenzial» eingestuft, durch die Prüfung der Expert:innenkommission ergäben sich für den Braunkohleabbau keine «rechtlichen Hindernisse». Dass die Aktivist:innen die Rodung aufgrund der abgelaufenen Genehmigung als «illegal» bezeichnen, findet in der Rechtfertigung des Konzerns keine Erwähnung. Auch über die irreversiblen Umweltschäden, die Polizeigewalt im Wald oder die vielfach dokumentierten Gesundheitsschäden von Arbeiterinnen und Anwohnern fällt kein Wort.

Dass die Protestierenden auch die Oppositionspartei CHP nicht als Helferin sehen, bekam Ende Juli ihr Vorsitzender Kemal Kılıçdaroğlu zu spüren, als er mit einer Delegation den Akbelen-Wald besuchte: Er wurde kritisiert, weil er in den Augen der Aktivist:innen keine konkreten politischen Lösungen, sondern bloss Beschwichtigungen mitbrachte.

Ingenieurin Deniz Gümüşel nahm am Dienstag im Namen der Aktivist:innen an einer Parlamentssitzung in Ankara teil, bei der ein Antrag der Opposition zum Abholzungsstopp diskutiert – und abgelehnt wurde. «Die Befugnisse des Parlaments sind sehr eingeschränkt», sagte sie anschliessend desillusioniert. Dennoch sei es wichtig, «auf allen Ebenen politischen Druck auszuüben».

Eine ungeahnte Schlagkraft

Die Umweltschützer:innen werden das verbliebene Waldstück vorerst nicht aufgeben. Ihr Widerstand indes ist nicht als singulärer Kampf zu sehen. Vielmehr hat sich die türkische Ökologiebewegung dadurch als breit aufgestellte soziale Kraft entwickelt. So haben die Proteste gegen die Rodung sehr unterschiedliche Akteur:innen zusammengebracht: die Bewohner:innen von Ikizköy, Schüler:innen, Gewerkschafter und Akademikerinnen. Die Kämpfe seien wichtig, sagt auch Politikerin Koca. «Auch wenn wir den Kampf in Akbelen wohl nicht gewinnen werden – in den Köpfen schafft er politisches Umdenken.»

Rund drei Monate nach den Wahlen, bei denen die AKP und Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Amt bestätigt wurden, werden sozioökologische Kämpfe sichtbar, etwa gegen eine geplante Grossbaustelle in der Hatay-Provinz oder gegen die Waldbrände in den kurdischen Gebieten. Der ökologische Widerstand hat eine Geschichte, die schon durch die Gezi-Proteste vor zehn Jahren eine ungeahnte Schlagkraft entwickelte – und eine Zukunft, die mit Akbelen sicher nicht erschöpft ist.