«Cop City»: Tortuguita soll nicht umsonst gestorben sein

Nr. 10 –

Bewohner:innen von Atlanta wehren sich gegen ein geplantes Trainingsgelände der Polizei – und setzen dabei ihr Leben aufs Spiel. Das Bauprojekt gibt einen vertieften Einblick in die rassistische Gefängnisindustrie der USA.

Gedenkstätte für den getöteten Aktivisten Manuel Terán alias Tortuguita in Atlanta
Je stärker die Polizei aufgerüstet wird, desto mehr Probleme schafft sie. Gedenkstätte für den getöteten Aktivisten Manuel Terán alias Tortuguita in Atlanta. Foto: Elijah Nouvelage, Getty

Auf dem T-Shirt von Robbie* ist ein Baumriese mit weitverzweigten Wurzeln zu sehen, dazu die Aufschrift «Defend the Atlanta Forest. Fight for Weelaunee». Der Baum, neben dem Robbie steht, ist umgestürzt, das Baumhaus, das sich darauf befand, zerstört. Noch eine Handvoll Leute ist hier, sie schaufeln Müll in graue Plastiksäcke. Wir befinden uns in der «Küche» im South River Forest von Atlanta, doch Robbie und seine Kolleg:innen bevorzugen den indigenen Namen des Geländes: Weelaunee. Es ist Anfang Februar, der Boden ist matschig, die Bäume sind kahl, es riecht nach nassem Laub und Tannennadeln.

Die Küche gehörte zu einem Protestcamp, das Aktivist:innen seit Juni 2021 im vierzehn Quadratkilometer grossen Waldstück im Süden von Atlanta errichtet haben, um gegen ein Polizeitrainingsgelände zu protestieren, das hier entstehen soll: «Cop City», wie die Gegner:innen es nennen. Nun wird das Camp abgebaut. «Es ist so traurig», sagt Robbie. «Aber nach den Ereignissen von vorletzter Woche kann niemand hierbleiben, es ist einfach zu gefährlich. Ich glaube, es wird Jahre dauern, das alles zu verarbeiten – vielleicht mein ganzes Leben.»

«Vorletzte Woche», das war am 18. Januar. An jenem Tag haben Polizist:innen bei einem Versuch, das besetzte Waldstück zu räumen, «Tortuguita» erschossen, mit bürgerlichem Namen Manuel Terán, 26-jährig, queer, venezolanischstämmig. Etwa zwanzig Aktivist:innen, die in den letzten Wochen im Wald oder bei Demonstrationen festgenommen wurden, sehen sich inzwischen mit Terrorismusvorwürfen konfrontiert. Die Kautionssummen, die sie zahlen müssten, um bis zum Prozess auf freiem Fuss zu bleiben, belaufen sich auf mehrere Hunderttausend US-Dollar pro Person.

Wie es zum Tod von Tortuguita kam, ist nicht restlos geklärt. Die Polizei behauptet, Terán habe auf die Beamt:innen geschossen – auch ein Polizist wurde an jenem Vormittag verwundet. Sie hätten daraufhin das Feuer erwidert. Doch bislang gibt es kaum Anhaltspunkte, die diese Version stützen. Tonaufnahmen von Bodycams, die die Polizei inzwischen veröffentlicht hat und die Unterhaltungen zwischen Beamt:innen wiedergeben, legen vielmehr nahe, dass der Polizist von seinen Kolleg:innen versehentlich angeschossen wurde. Tortuguitas Tod scheint zu unterstreichen, was die Aktivist:innen seit Beginn der Proteste sagen: Die Hochrüstung der Polizei löst keine Probleme, sie schafft nur neue.

«Das ist eine Kriegserklärung»

Die Pläne für das Trainingsgelände wurden Anfang 2021 bekannt. Im South River Forest, erklärte Atlantas damalige Bürgermeisterin Keisha Lance Bottoms, werde eine Modellstadt gebaut, in der Polizeibeamt:innen Spezial­­einsätze üben könnten, von Schiessständen bis zum Hubschrauberlandeplatz. Das Gelände umfasst 34 Hektaren, was etwa 50 Fussballfeldern entspricht. Es wäre eine der grössten Einrichtungen dieser Art in den USA. Neunzig Millionen Dollar soll das Projekt kosten, ein Drittel will die Stadt Atlanta übernehmen – der Rest soll von der privaten Atlanta Police Foundation (APF) kommen.

Der South River Forest oder Weelaunee Forest hat eine lange Geschichte, die von der Kolonisierung des amerikanischen Südens und der Sklavenhaltergesellschaft erzählt. Bis in die 1820er Jahre lebten hier die Muscogee Creek, eine indigene Gruppe, die den Wald und das Land, auf dem er steht, als heilig ansahen. Nachdem sie im Zuge der weissen Besiedlung vertrieben worden waren, befand sich auf dem Gelände eine Plantage, auf der Hunderte Schwarzer Sklav:innen schufteten und starben. Im 20. Jahrhundert wurde es als sogenannte Prison Farm genutzt, also für staatliche Zwangsarbeit, die oft als Fortsetzung der Sklaverei unter anderem Namen beschrieben wird. Die Mehrheit der in Prison Farms Inhaftierten war Schwarz, verurteilt nach Gesetzen, die nur Schwarze betrafen. Später war das Gebiet eine Mülldeponie, heute nutzen die Einwohner:innen Atlantas den Wald als Naherholungsgebiet. Ausserdem erfüllt er eine wichtige Funktion als eine der grünen Lungen der Stadt sowie zum Schutz vor Überschwemmungen.

Stop-Schild mit dem Graffiti «Stop Cop City»

Wenig überraschend, dass die Pläne, hier ein militärisches Trainingsgelände für eine hochgerüstete Polizei zu errichten, auf resolute Kritik stiessen. Nicht einmal ein Jahr nach dem Polizeimord an George Floyd, der eine landesweite Bewegung gegen Polizeigewalt an Schwarzen Amerikaner:innen und eine Diskussion über die Budgetkürzung, sogar über die Abschaffung der Polizei auslöste, und kaum neun Monate nachdem in Atlanta der Schwarze Rayshard Brooks von Polizisten erschossen worden war, erschien vielen das riesige Trainingsgelände als Provokation.

«Cop City ist eine Kriegserklärung an die Schwarze Bevölkerung von Atlanta», sagt Kwame Olufemi am Rand einer Protestkundgebung vor der Atlanta City Hall Ende Januar. «Rayshard Brooks wurde in der Pittsburgh Neighborhood erschossen, keine zehn Minuten von dem Gelände entfernt, wo jetzt Cop City gebaut werden soll. Die Antwort war ein Aufstand.» Damals hätten die Demokrat:innen versprochen, die Vorfälle aufzuklären, Gelder von der Polizei abzuziehen und in arme Communitys zu leiten. «Nun passiert das Gegenteil. Und zwar deshalb, weil sie mit dieser Art Aufständen nicht fertig werden. Sie brauchen mehr militarisierte Polizei, mehr Training in urbaner Kriegsführung, um solche Aufstände niederzuschlagen. Denn sie wissen, sie werden nicht aufhören, unsere Leute zu töten. Mit dem Mord an Tortuguita haben sie das mehr als deutlich gemacht.»

Kwame Olufemi ist Mitglied der Community Movement Builders, eines Schwarzen Aktivist:innenkollektivs, das 2015 in der Pittsburgh Neighborhood, einem armen Stadtteil in Südatlanta, gegründet wurde, um gegen Gentrifizierung und rassistische Polizeigewalt zu kämpfen – und Selbsthilfestrukturen wie Kooperativen aufzubauen. Als die Pläne für Cop City bekannt wurden, begannen die Community Movement Builders sofort, Protest dagegen zu organisieren.

Sie sind nicht die Einzigen, die die Pläne als Frontalangriff auf ihre Anliegen sehen. Der Protest vereint sie mit Umweltschutzgruppen und Initiativen, die sich gegen Gentrifizierung und für mehr bezahlbaren Wohnraum einsetzen. In der Bevölkerung ist das Projekt unbeliebt. Vor der Abstimmung im Stadtrat im September 2021 reichten 1100 Bürger:innen Atlantas Stellungnahmen ein, etwa siebzig Prozent sprachen sich gegen den Bau aus. Trotzdem stimmte der Stadtrat dafür.

Coca-Cola fördert Polizei

«Es ist schon bitter, dass auf dem Gelände, das jetzt gerodet werden soll, tatsächlich Häuser gebaut werden sollen. Nur eben keine Häuser, in denen Menschen leben werden. Sondern solche, in denen Gewalt gegen die Bevölkerung von Atlanta trainiert wird», sagt Micah Herskind. Er ist ebenfalls von Beginn an bei den Protesten aktiv und hat mehrere Artikel über das Vorhaben und seine Einbettung in den «Prison Industrial Complex» in den USA veröffentlicht. «Mit dem ‹gefängisindustriellen Komplex› lässt sich das Geflecht von Interessen beschreiben, die das Strafsystem schaffen und ausweiten, weil ihre Macht oder ihr Profit von ihm abhängt», erklärt Herskind.

Dass das Gefängnissystem in den USA ein ökonomischer Faktor ist, veranschaulicht ein Blick auf die Zahlen. Nirgendwo auf der Welt sind so viele Menschen inhaftiert wie in den USA. Zwei Millionen waren es im Jahr 2019, die Inhaftierungsrate ist fast zehnmal so hoch wie in der Schweiz. Für Schwarze Männer ist die Wahrscheinlichkeit, im Gefängnis zu landen, sechsmal so hoch wie für weisse. Sowohl Bundesstaaten als auch Privatunternehmen, die Gefängnisse betreiben, machen Gewinn mit der Inhaftierung von Menschen. Nicht nur dank der staatlichen Gelder für den Betrieb, sondern weil Gefangene auch zu Zwangsarbeit verpflichtet oder als billige Arbeitskräfte an Unternehmen verliehen werden.

«Der Hauptakteur hinter Cop City ist die Atlanta Police Foundation, eine finanzstarke private Stiftung mit starkem Einfluss auf die Politik», sagt Herskind. «In den letzten Jahren hat sie die Stadt mit einem dichten Netz an Überwachungskameras überzogen, nun will sie Cop City mit aller Kraft durchsetzen.»

Die 2003 gegründete Atlanta Police Foundation ist eine von zahlreichen privaten Stiftungen in den USA, über die Unternehmen und wohlhabende Privatleute Geld in die Polizei leiten. Im Stiftungsrat der APF sitzen Vorstandsmitglieder von Waffle House, einem grossen Fastfoodkonzern, der Baumarktkette Home Depot oder Delta Airlines. Coca-Cola – das Unternehmen wurde in Atlanta gegründet und hat dort seinen Hauptsitz –, das Medienunternehmen Cox Enterprises und andere Firmen gehören zu den Financiers. Cox Enterprises gibt auch die grösste Tageszeitung der Stadt heraus, die von Beginn an wohlwollend über das Vorhaben berichtete. Alex Taylor, der Vorstandsvorsitzende von Cox, organisiert das Fundraising für Cop City.

«Die APF übt massiven Druck auf die Politik aus, Cop City gegen alle Widerstände durchzudrücken. Ihre Drohkulisse ist die Abspaltung von Buckhead, einem reichen weissen Stadtteil im Norden Atlantas, in dem viele Unternehmen ihren Sitz haben. Die Sezessionsbewegung hat in den letzten Jahren viel Wirbel gemacht, und sie wird immer wieder ins Spiel gebracht, wenn der öffentliche Druck gegen das Polizeitrainingsgelände wächst», fasst Herskind zusammen.

Im Atlanta Forest ist es inzwischen dunkel geworden. Die Aufräumaktion ist beendet, jede Menge Sperrmüll und anderes Gerümpel aus dem Wald geschafft. Auf einem Parkplatz gibt es etwas zu essen und ein kleines Feuer, die Aktivist:innen stehen in Grüppchen herum. Gemeinsame öffentliche Barbecues oder Picknicks seien ein wichtiges Organizing-Instrument, über das Interessierte zum Protest dazustossen könnten, hat Robbie am Nachmittag erzählt. Aber heute ist die Stimmung gedrückt, die Gespräche drehen sich um den Tod von Tortuguita und um das Ende des Protestcamps im Wald. Ja, sie wollten weitermachen, sagt Robbie, aber wie genau, das wüssten sie noch nicht. Ihr Kampf sei nun zwar viel bekannter, die Unterstützung auch durch grosse Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace scheine zu wachsen. Aber die willkürlichen Verhaftungen und die Terrorismusvorwürfe seien ein unkalkulierbares Risiko.

Zwischen Trauer und Widerstand

Die Aktivistin Crusty* wirkt erschüttert: «Im Moment trauern wir um Tortuguita und die Besetzung. Um den Wald zu beschützen, müssen wir mehr werden, wir müssen uns seiner Abholzung entgegenstellen. Zuletzt waren wir dreissig Leute. Es ist hier nicht wie im Hambacher Forst oder in Lützerath, dass wir Zehntausende mobilisieren können.» Dass die in den USA bekannten deutschen Klimaproteste nicht über Nacht entstanden sind, empfindet Crusty nicht als Trost. «Viel Zeit haben wir nicht mehr. Ich meine nicht nur die Klimaerwärmung, die Stadt geht den Bach runter. Es gibt fast keine alternativen Orte, das hier war der letzte. Jetzt kann jeden Tag die Abholzung beginnen.»

Noch aber ist es nicht so weit. «Wir werden weiter protestieren und alles tun, was nötig ist, um Cop City zu stoppen», hatte Kwame Olufemi am Tag zuvor gesagt. «Der ganze Zweck von Cop City ist es, den Druck auf uns zu erhöhen und Schwarze Leben in Gefahr zu bringen. Sie werden nicht damit aufhören. Und das ist der Grund, weshalb wir auch nicht aufhören werden. Mit dem Mord an Tortuguita haben sie uns gezeigt, was auf uns zukommt, und zwar in vielfacher Form, falls Cop City tatsächlich gebaut wird.»

Nun ist eine Aktionswoche in Atlanta geplant. Im Aufruf steht: «Bring ein Zelt mit und bleib für eine Weile.» Bereits am Sonntag kommt es zu einer Konfrontation. Als Protestierende Baumaschinen auf dem Gelände anzünden, werden 23 von ihnen verhaftet. Der Vorwurf der Polizei: «Terrorismus».

* Name geändert.