Ein Traum der Welt: Kurz jubeln

Nr. 33 –

Annette Hug hat das entscheidende Tor gesehen

In neunzig Minuten sollten elf junge Frauen die Weltgeschichte wenden: Verachtung und Jahrhunderte der Fremdherrschaft vergessen machen, ein neues Zeitalter einläuten. So war das plötzlich vor dem dritten Spiel der Gruppenphase, als lokale Influencer:innen verkündeten, das philippinische Fussballnationalteam der Frauen könne sich an der Weltmeisterschaft für die Achtelfinals qualifizieren.

Zuvor hatte ich vergeblich versucht, ein Spiel mit anderen Fans zusammen anzuschauen. Vom Auftaktspiel gegen die Schweiz hatte in meinem Bekanntenkreis niemand gehört, wenige wussten überhaupt von der WM. Die Internetsuche nach «Public Viewing» erbrachte nichts, denn bis drei Tage vor dem Spiel war nicht klar, ob überhaupt eine lokale Fernsehstation die Spiele der philippinischen Equipe übertragen würde. Während des zweiten Spiels sass ich in der Metro, die auf einem brutalistischen Trassee langsam über die Millionenstadt hinwegfährt. Da waren wir schon zwei, die mit dem Handy in der Hand aufsprangen und jubelten. Einander dann auch freundlich zunickten. Sarina Bolden hatte das erste philippinische WM-Tor geschossen. Das war der Startschuss für eine Überflutung in den sozialen Medien. Und Sarina Bolden war jetzt auch auf den Titelseiten der Zeitungen zu sehen. Wobei man sehr genau wissen muss, wo man Zeitungen überhaupt noch kaufen kann. Für Information zu zahlen, scheint hier anachronistisch.

Mit dem Suchbegriff «Public Viewing» hatte ich nichts gefunden, weil das kein allgemein verständliches Globish ist. Einige Einkaufszentren organisierten «Watch Parties» fürs dritte, entscheidende Gruppenspiel. Da gab es dann leider nichts zu jubeln, die 6 : 0-Niederlage gegen Norwegen war hart. Bald dominierten im Internet jedoch Videos über die Gesamtkampagne. Bis heute wird sie als Auftakt zu einer glorreichen Zukunft gefeiert, mit diesen wunderbaren jungen Frauen als Ikonen. Wobei das verstörende Gefühl bleibt, dass meine Suche nach Gemeinschaft am Wort «Public» gescheitert ist. Nach Jahren der Gängelung und Schliessung kritischer Medien und ohne Qualitätsmedien in den Landessprachen ist schwer fassbar, was eine «Öffentlichkeit» ist. Dies ist ein Land, in dem 2022 ein Diktatorensohn Präsident werden konnte, ohne vor Publikum aufzutreten. Eine langjährige, systematische Social-Media-Kampagne und familiär-geschäftliche Netzwerke genügten.

Nicht einmal die Zeitungsverkäuferin hat von der WM gehört. Oder von Drohgebärden der chinesischen Armee vor der Küste. Weiterhin werden Leute erschossen, ohne dass Ermittlungen aufgenommen werden. Präsident Ferdinand Marcos Junior hat den «Krieg gegen Drogen» seines Vorgängers Rodrigo Duterte nicht beendet, auf dem Land werden auch Journalist:innen und Aktivist:innen erschossen, vor allem da, wo es um Bodenschätze geht. Davon erfährt aber nur, wer direkt betroffen ist und wer sich die Mühe macht, aktiv nach Informationen zu suchen. Öffentlich ist das Wetter, ist die Teuerung. Dass ein Sturm tobt und Früchte ein Luxusgut sind, erfahren alle ganz direkt. Darüber kann man sich austauschen. Fussballplätze sind seltsame Oasen, riesige leere Flächen, die man sich in der überfüllten Stadt kaum vorstellen kann. Man zweifelt, ob sie wirklich existieren oder vielleicht nur erfunden sind.

Annette Hug ist Autorin, zurzeit in Manila, das heisst: medial in einem anderen Universum.