Long Covid: Ich liebte unsere sterbende Welt mehr denn je
Namenlose Schrecken in der Nacht, Wortsalat und bei jeder körperlichen Betätigung die Angst vor dem Rückfall: die Schriftstellerin A. L. Kennedy über ihre Erkrankung – und darüber, wie es ihr langsam wieder besser ging.
Ich versuche, eine positive Pessimistin zu sein. Ja, ich erwarte das Schlimmste. Aber ich lege mich in die Kurve meiner Ängste, in die einzelnen Details all dessen, was schieflaufen könnte, und nutze die Einsichten, um zu planen. Wenn ich reise, packe ich alles Notwendige ein, um mir im Hotelzimmer eine Mahlzeit zubereiten zu können, dazu Mehrfachstecker, Heftpflaster und Wunddesinfektionsmittel, Schmerztabletten, eine Kopie meines Passes, mehrere Notfallkontakte – alles, was mir nützlich sein könnte.
Als sich meine Mutter ihre Hüfte brach, konnte ich ihr Heim innerhalb eines Tages sicher machen: Spezialstühle, Greifzange und Warnklebeband an der Kante jeder Treppenstufe. Ich wusste da auch bereits, wie man die engen Treppen in einem kleinen Haus am besten bewältigt: indem man zum Treppensteigen nur eine Krücke benutzt – und je eine weitere am Fuss und am Kopf der Treppe parat hält. Natürlich wusste ich das – für alle Fälle. In meiner eigenen Wohnung stapeln sich Dosenkonserven, Putzmittel, Werkzeug, Medikamente, Dekorationsartikel, WC-Papier, Bücher – alles, was ich brauche, um bequem durch ein Leben daheim zu reisen.
Tiefgefrorene Mahlzeiten
Meine exzessive Übervorbereitung kam mir immer dann entgegen, wenn ich tief in der Plackerei an einem Buch steckte und keine Lust hatte, meine langen Arbeitssitzungen zu unterbrechen. Auch wenn es mir nicht gut ging, hatte ich immer tiefgefrorene selbstgekochte Mahlzeiten vorrätig, Medikamente, grosse Mengen an Risottoreis. Als Ende 2019 die ersten Nachrichten von einer Pandemie zirkulierten, war ich darauf vorbereitet. Gewissermassen.
Aber natürlich war ich überhaupt nicht gerüstet. Covid kam nämlich bereits sehr früh in meinem Quartier an, mit einem Reisenden, der aus China zurückkehrte. Nach seiner Ankunft ging er an eine Chorprobe. Zwei Leute, die nicht weit weg von mir wohnen, verbrachten die Weihnachtstage an einem Beatmungsgerät.
Als meine Mutter mich zu Weihnachten besuchte, gingen wir zusammen in die Tutanchamun-Ausstellung in London. Wir pflügten durch die dichten Menschenmassen – Menschen aus der ganzen Welt –, und ich dachte noch: Ist das wirklich eine gute Idee, wenn doch womöglich etwas Schreckliches unterwegs ist, das sich in Massen wohlfühlt? Eine Freundin aus den USA, die immer sehr gut informiert ist, organisierte sich da bereits ein Haus in den Wäldern von Maine für das ganze Jahr 2020. Schlauer Schachzug.
Nach unserem Ausflug in die Ausstellung verbrachten meine Mutter und ich die Feiertage kränker, als wir uns erinnern konnten je gewesen zu sein. Wir hatten ständig den Geruch von verbrannten Autopneus in der Nase, das Essen hatte dagegen überhaupt keinen Geschmack, ich litt unter einer permanenten Migräne. Wir hatten zu heiss, dann wieder zu kalt und dann wieder zu heiss und so weiter. Alles tat uns weh. Starke Müdigkeit überfiel uns, aber phasenweise verbrachte ich ganze Nächte aufgeschreckt wach und irgendwie eingeschüchtert. Meine Mutter wurde sehr kurzatmig. Ich bin froh, dass sie sich wieder erholte. Wir erholten uns beide. Sie und auch ich – so schien es zumindest.
Chronische Gesundheitskrise
Im Mai hat die Weltgesundheitsorganisation WHO die Coronapandemie für beendet erklärt. Was bedeutet das für Menschen mit Long Covid? Über 65 Millionen sind weltweit betroffen, ihre Zahl wächst. Die Impfung reduziert das Risiko, doch kämpft auch bei Omikron mindestens jede:r zehnte Infizierte länger als drei Monate mit Symptomen. Neurologische Erkrankungen gehören dabei zu den verbreitetsten, vor allem kognitive Einschränkungen und Erschöpfungszustände. Warum Frauen disproportional häufig unter diesen leiden, weiss man nicht. Unklar sind nach wie vor auch die Ursachen von Long Covid, entsprechend gibt es keine Tests zur Diagnose. Dafür gibt es immer mehr Beobachtungsstudien zur Entwicklung der Symptome. Jene, die schon länger laufen, machen deutlich: Viele leiden auch zwei Jahre später noch, in der Schweiz rund jede fünfte an Long Covid erkrankte Person.
Warum, so fragt die Fachzeitschrift «The Lancet» in der jüngsten Ausgabe, gibt es kaum Behandlungsstudien, insbesondere medikamentöse? Sie spricht nebst anderem vom Irrglauben, die Symptome seien psychologisch bedingt, von Misogynie und von Versicherungen, die Long Covid aus Kostengründen kleinreden. Auch in der Schweiz hat die IV bislang kaum Renten an Betroffene vergeben. mei
Körperliche Verzweiflung
Im Februar ging ich an die Universität von Warwick und unterrichtete dort eine Woche lang. Die Studierenden zeigten sich überrascht über das aggressive Virus, das kursierte; über all die Tage, an denen sie flachlagen und keine Seminare besuchen konnten. Meine letzte Vorlesung am Freitagmittag löste sich in Schweissausbrüchen und Hirnnebeln auf. Knapp schaffte ich es nach Hause, umnachtet von Übelkeit, Verwirrung, Schmerzen. All meine Symptome aus den Weihnachtstagen waren zurück: ob aufgrund einer erneuten Ansteckung oder weil die Woche mit den langen Arbeitstagen für meine bereits geschwächte Konstitution einfach zu anstrengend gewesen war, weiss ich nicht.
Nach meiner ursprünglichen Infektion wurde ich immer wieder mit schlimmen Rückschlägen bestraft, wenn ich Sport trieb – und dabei war Sport so ein wichtiger Teil meines Lebens. Ich bin gern den ganzen Tag auf den Beinen, fahre fünf bis sechs Stunden Kajak. Während des Lockdowns wurden das Wasser und die Natur und die Möglichkeit, mich in ihnen frei zu bewegen, sogar noch wichtiger für meine Psyche. Aber plötzlich war ich nie mehr sicher, ob Wandern oder Paddeln mir guttun oder ob es mich wieder umhauen würde.
Nach dem Aufenthalt in Warwick verbrachte ich drei Wochen im Bett, gelegentlich abgetaucht in Fieberdelirien, die ich nur vom Hörensagen kannte. Manchmal überkam mich ein Grauen, eine seltsam körperliche Verzweiflung. Es war schwierig für eine selbstständig erwerbende Person, die versuchte, einen Roman zu schreiben. Aber ich war nicht nachhaltig beunruhigt.
Als der März kam, fühlte ich mich besser und reiste nach Cumbria ans – wie sich herausstellen sollte – letzte nichtvirtuelle Literaturfestival, an dem ich bis 2022 teilnehmen sollte. Es kamen nicht viele Leute. Das Publikum von Literaturfestivals ist tendenziell älter, und die Leute wussten immer besser Bescheid über diese neue Krankheit, die sich durch die über Fünfzigjährigen frass. Auf meinem Podium sass auch ein Mann, dessen Partner ein geschwächtes Immunsystem hatte. Er machte sich Sorgen, dass er ein zu grosses Risiko eingegangen sein könnte. Mehrere Teilnehmer:innen kamen zu spät, weil ihre Züge wegen Personalausfällen unpünktlich waren. Grossbritanniens chaotische, kranke Zukunft war bereits in groben Umrissen erkennbar. Beim Abendessen hörte ich, wie ein anderer eingeladener Schriftsteller sich darüber ausliess, dass Covid mit der ganz gewöhnlichen Erkältung verwandt und deshalb «einfach eine schlimme Grippe» sei. Er versicherte uns auch, dass alte Menschen oft an Grippe sterben würden, als ob das der ganz normale Lauf der Dinge wäre. Ich tauschte vielsagende Blicke mit der Autorin neben mir: Covid ist auch mit Sars verwandt. Und das sind keine guten Neuigkeiten.
Ich absolvierte meine beiden Auftritte am Festival und feierte meine wiedergefundene Gesundheit, indem ich auf den Berg Skiddaw im Lake District stieg: eine feine Wanderung. Oben auf 931 Metern über Meer lag noch Schnee, ein kalter Wind pfiff mir um die Ohren. Der Ausflug war sehr belebend. Am nächsten Tag stolperte ich in einen weiteren Zug voller wild herumhustender Menschen; ich schwitzte wieder, war benommen – und verwirrt. Die gleiche Ansammlung von Symptomen war zurück. Und dieses Mal warfen sie mich für einen ganzen Monat ins Bett. Den ersten Lockdown in Europa bekam ich nur am Rand mit, die endlosen Ermahnungen, die Hände zu waschen, als doch bereits klar wurde, dass wir es mit etwas zu tun hatten, das durch die Luft übertragen wird; etwas, das man einatmet.
Mein letztes englisches Buch erschien am ersten Tag des ersten Lockdowns in Grossbritannien. Es erhielt eigenartig enthusiastische Rezensionen, aber weil die Geschäfte geschlossen waren, konnte man es kaum kaufen. Zu Beginn des Jahres hatte ich mir vage Sorgen gemacht, dass ich mir zu viel Arbeit vorgenommen haben könnte. Innerhalb einer Woche verschwanden sie vollständig. Virtuelle Veranstaltungen gab es nun zuhauf – alles war plötzlich viel zugänglicher. Ich freute mich darüber, dass behinderte, neurotische, viel beschäftigte, unentschiedene Menschen nun plötzlich zu Hause an allerlei Literatur- und anderen Kulturveranstaltungen teilnehmen konnten. Aber mein Einkommen war definitiv am Schrumpfen.
Fetter gelber Ginster
Ungefähr zur selben Zeit mailte mir Barry Smith, Philosoph und Gründer des Londoner Zentrums für die Erforschung der Sinne, einen Artikel zu den ersten Covid-Studien. Das Virus schien das Hirn aggressiv anzugreifen. «Du willst das nicht kriegen», schrieb er. Aber ich hatte es ja bereits gehabt. Und mein Zugriff auf die Wörter, auf diese wunderbaren kleinen Geschöpfe im Zentrum meines Lebens, wurde immer unsicherer.
Ich bin vor allem deshalb mit Barry bekannt, weil wir beide die Welt hauptsächlich über Gerüche wahrnehmen, was ungewöhnlich ist. Als ich ihm meine schlechten Neuigkeiten überbrachte, schraubte er seine Warnungen herunter und versuchte stattdessen, mich zu beruhigen. Er schickte mir auch eine Checkliste mit Dingen, an denen ich riechen sollte: Essig, Pfefferminze, Erdnussbutter. Nichts. Ich konnte überhaupt nichts riechen. Meine Worte und meine Witterung der Welt waren mir abhandengekommen. Ich ging durch die unverschmutzte, magische, blumenduftreiche Frühlingsluft von 2020 ohne auch nur den Hauch eines Wohlgeruchs in der Nase. Wenn ich nicht mit einer bleiernen Müdigkeit – oder mit einer bleiernen Migräne – im Bett lag, wanderte ich durch Alleen mit fettem, buttergelbem Ginster, durch Meere aus blauen Glockenblumen und fühlte mich wie dick vermummt. Ich kochte Currys und Chilis mit gewaltigen Mengen an Gewürzen. Vergeblich.
Mein Land sank auf unterschiedliche Stufen einer fatalen Funktionsstörung. Meine Regierung baute Spitalbetten ab und schaute gleichzeitig hartnäckig weg, wenn Covid-Unterstützungsfonds geplündert wurden. Meine englischen Nachbar:innen suchten immer öfter Zuflucht bei den Covid-Briefings der schottischen Regierungschefin Nicola Sturgeon, weil sie am clownesken Spektakel von Westminster verzweifelten. Und die Menschen begannen zu sterben. Viele Menschen.
Ich verlor meine Nomen. Adam im Garten Eden, der erste Mensch, begründete seine Existenz, indem er den Dingen der Welt einen Namen gab. Wie soll man sie sonst verstehen? Ich konnte hingegen immer öfter nicht mal mehr die einfachsten Alltagsgegenstände benennen, Dinge, die direkt vor mir lagen. Meine Sätze verstummten abrupt in der Hälfte. Ich begann zu stottern, weil mein Gehirn überfordert war. Ich nahm an, meine Krankheit würde sich an die gewohnten Regeln halten: unzusammenhängend beim Reden, alles okay beim Schreiben. Aber auch wenn ich schrieb, produzierte ich öfter Wortsalat. Ich versuchte es mit Kurzgeschichten, Gedichten, leeren Seiten.
Mein Krankheitsgefühl, meine Müdigkeit und mein Benebeltsein verhinderten, dass ich in nackte Panik ausbrach. Beinahe hätte ich auch das Wort für Panik vergessen. Aber was, wenn ich nicht wieder gesund werden würde? Ich habe nicht viele Fähigkeiten, alle haben etwas mit Schreiben zu tun. Wenn ich nicht mehr schreiben kann, was bleibt mir dann? Was, wenn sich meine Verwirrung immer weiter ausbreitet und zu einer Art Demenz wird?
Gefährten im Morgengrauen
Als junge Schriftstellerin arbeitete ich mit vielen Menschen, die einen Schlaganfall erlitten hatten, deren Gehirne wegen verschiedener Krankheiten geschädigt waren, die unterschiedlich stark dement waren. Menschen mit Einschränkungen werden bestenfalls schlecht behandelt. Menschen, die nicht mit ihrer Umgebung kommunizieren können, die nicht von sich erzählen können, sind am ärgsten dran. War ich unterwegs in dieses Land der Handzeichen, Frustrationen, der allgemeinen Annahme, ich sei schwachsinnig?
Gleichzeitig schien der hyperaktive, schlaflose, von Untergangsgedanken gejagte Teil der Covid-Infektion immer stärker. Obwohl ich klar benennbare Ängste hatte, die ich auch noch knapp auflisten konnte, wurde ich in meinen länger und länger werdenden Nächten vor allem von namenlosen Schrecken heimgesucht. Mein Immunsystem hatte überreagiert, als ich mich mit Covid angesteckt hatte, und attackierte nun meine Schilddrüse. In den frühen Morgenstunden lag ich da, mein Herz raste, ich verlor das Gefühl in Händen und Füssen und versuchte verzweifelt, normal zu atmen.
Ein Bluttest in der Notaufnahme ergab absurd hohe Thyroxinwerte. Leider hatte das sechs Monate lang niemand bemerkt. Sechs Monate, in denen ich fünfzehn Kilo verlor und entweder tagelang schlief oder wie eine Irre Kajak fuhr, vom Morgengrauen bis zum Eindunkeln, oder die sinnlosen, schlaflosen Morgenstunden mit Herumlaufen verbrachte. Ich fühlte mich belagert. Mit der Sommerhitze entwickelte ich ein neues Hobby – in Ohnmacht fallen.
Es gab auch Schönes, Entschädigungen. Ich entdeckte, dass das Morgengrauen wunderschön ist. Eine Kleinstadt in Essex, plötzlich ganz still, plötzlich voller Rehe, Füchse, Nachtigallen – auch das ist wunderschön. Frühmorgens auf einem leeren Fluss paddeln, mit Vögeln und Robben als einzigen Gefährten – auch das ist wunderschön. Aber gleichzeitig zerbrach ich die Hälfte von dem, was ich in die Hände nahm, demolierte meine Autotür, funktionierte nicht mehr. Ich liebte unsere sterbende Welt mehr denn je. Und ich konnte nicht mehr schreiben. Mit der Ausnahme von ein paar Gedichten, die ich mir während Wochen mühsam erkämpft hatte, brachte ich nichts mehr zustande. Und niemand würde mich für nichts bezahlen. Auch für die Gedichte würde mir niemand Geld geben. Ich las Bücher über Philosophie und vergleichende Religionswissenschaften – kaum etwas blieb hängen, mit der Ausnahme einzelner, seltsam lebhafter Einsichten. Ich las Bücher, die ich bereits kannte – damit ich nicht nervös wurde beim Herumstudieren über mögliche Enden und damit es egal war, wenn ganze Seiten einfach wegrutschten und verschwanden.
Was, wenn ich nicht mehr lesen könnte? Der Gedanke verstörte mich noch mehr, als nicht mehr schreiben zu können. Lesen war mein erster Glücksort, mein Refugium in jeder Notlage, wenn alle anderen Freund:innen mir abhandengekommen waren. Wer würde ich überhaupt sein, ohne lesen zu können? Wer könnte ich sein?
Mir ging es besser
Gleichzeitig gehörte ich zu den Glücklichen. Ich hatte alles Nötige zu Hause. Ich lebte hauptsächlich von meinen Vorräten. Die WC-Papier-Angst von 2020 ging spurlos an mir vorbei. Um mich herum sind viele Trauernde, Menschen mit einer neuen Angststörung und posttraumatischen Belastungskrankheiten. Ein Freund starb an Covid, ein anderer erblindete auf einem Auge. Covid zerstörte die Lungen einer weiteren Freundin: Sie war Sängerin, mittendrin in einem erfolgreichen Comeback. Jetzt ist sie in einem Pflegeheim. Einige der frühen Covid-Patient:innen sind bis heute schwer krank, und immer mehr Brit:innen erkranken an Long Covid wegen wiederholter Neuinfektionen. Das Virus fiel schonungslos über Menschen mit Behinderungen her. Im Jahr 2020 waren sechs von zehn registrierten Covid-Toten behinderte Menschen, und heute sind in Grossbritannien 363 000 weitere Menschen schwer beeinträchtigt. Aber mir ging es allmählich besser.
Ich ruhte mich aus, schluckte entzündungshemmende Medikamente und Vitamine. Ich fand langsam wieder in die Prosa hinein, hoffte, dass ich dabei lernen würde, wieder so zu schreiben wie vor drei Jahrzehnten, als ich mein Leben als Schriftstellerin begonnen hatte. Belohnt wurde ich mit häufigen Migräneattacken und Erschöpfung. Aber langsam, sehr langsam erholte ich mich.
Ich konnte meinen Roman abschliessen. Mein Korrekturlesen war immer noch schrecklich, aber immerhin hatte ich meinen Roman für den Hanser-Verlag geschafft. Ich hoffte damals, dass er auch in Grossbritannien publiziert werden könnte, aber das scheint nicht mehr möglich zu sein: Überhaupt scheint Grossbritannien unterwegs in eine Zukunft ohne Literatur.
2022 schaffte ich es, ein schmales Sachbuch für den Schweizer Geparden-Verlag zu schreiben, während ich mich in einem Häuschen erholte, das der schlauen US-Freundin gehörte, die die Pandemie in Maine ausgesessen hat. Das Buch handelte von der Kraft der Geschichten und davon, wie man sich mit Schreiben heilen kann; wie man dabei immer wieder einen neuen Anfang findet; wie man die Geschichte des Lebens immer wieder neu schreiben kann. Dass ich dieses Buch schreiben konnte, stimmte mich beinahe optimistisch.
Anfang 2023 kam ich dann endlich zurück nach Frankreich, Deutschland, in die Schweiz, um die Bücher unter die Leute zu bringen. Der Weg war lang, und ich fragte mich, ob ich das alles schaffen würde: den Stress, die unsicheren Zugverbindungen, das Aneinanderreihen der immer noch fragilen Worte. Aber es gelang mir. Ich stotterte nicht. Manchmal verlor ich den Faden, aber ich verstummte nicht in der Mitte eines Satzes. Ich fand die Namen der Nomen in Englisch, in Deutsch, in Französisch. Ich verbrachte sogar ein paar Wochen in der Normandie und sprach, sprach, sprach mit Menschen, die sprechen, sprechen und sprechen wollten.
Ich wanderte durch ein kleines Dorf voller Pensionär:innen, plauderte, ass gutes Brot und freundliche Konfitüre und genoss all die Formen und Höflichkeiten einer anderen Sprache. Ich wanderte an Wäldern mit blauen Glockenblumen vorbei, und ich konnte sie riechen! Ich konnte alles riechen.
Ich muss leider sagen, dass sich dieser verlängerte Aufenthalt ausserhalb Grossbritanniens als sehr therapeutisch herausstellte.
Und jetzt bin ich gesund – aufgrund einer Verkettung von Gründen, die ich vermutlich nie ganz durchschauen werde. Meine Ausdauer ist immer noch nicht ganz so gut wie früher. Mein Korrekturlesen ist immer noch schrecklich. Aber ich bin beinahe wieder ich selber und sehr dankbar dafür.
Ich hoffe, dass ich dankbar bleibe für die zurückgekehrte Gesundheit, für die zurückgekehrten Worte, Nomen, Leserinnen und Leser, Bücher, Aprikosen- und anderen Konfitüren, Glockenblumen, singenden Nachtigallen in Berlin – all die Wunder, die denjenigen gehören, die noch am Leben sind.
Ich versuche, dankbar zu sein für die Möglichkeit, zu reisen, obwohl meine Reisen maskiert und unbequem sind. Ja, ich trage immer noch eine Maske. Ich will mich nie wieder mit Covid anstecken.
Das erwähnte «schmale Sachbuch» von A. L. Kennedy (57) trägt den Titel «Der Kern der Dinge» und ist 2023 im Zürcher Geparden-Verlag erschienen. Im selben Jahr ist auch der Roman «Als lebten wir in einem barmherzigen Land» bei Hanser herausgekommen; vorläufig nur auf Deutsch. Die preisgekrönte Autorin lebt in Schottland.
Aus dem Englischen von Daniela Janser.