Long Covid: Ausser Atem

Nr. 4 –

Von chronischer Erschöpfung bis zu psychischen Krankheiten, die erneut ausbrechen: Die Folgen einer Coronainfektion können heimtückisch sein. Der Fotograf Andreas Seibert begleitet Long-Covid-Betroffene.

Fast zwei Millionen Ansteckungen mit dem neuen Coronavirus hat das BAG seit Beginn der Pandemie registriert. Auffallend viele Patient:innen leiden unter langwierigen Verläufen. Wie viele der Erkrankten Long Covid entwickeln, ist noch schwer zu sagen – Studien gehen von mindestens zehn Prozent aus (vgl. «Langzeitfolgen müssen auf die politische Agenda» ).

Klar ist, dass Long Covid allein in der Schweiz schon jetzt das Leben Zehntausender verändert hat. Wie geht eine leistungsorientierte Gesellschaft mit Menschen um, die diese Leistung nicht mehr erbringen können? Die oft nicht wissen, wie sie sich am nächsten Tag fühlen werden? Was für ein Gesundheitssystem brauchen sie? Meine Porträtserie soll kein Mitleid erregen, sondern Verständnis für die Situation der Betroffenen schaffen.

Mirjam Lüscher (46), Basel, Mitarbeiterin einer schulischen Tagesstruktur

Durch das Stubenfenster sind Flugzeuge am stahlblauen Himmel zu sehen. Scheinbar mühelos gewinnen sie nach dem Start an Höhe. Dann drehen sie nach Westen ab und sind kurz darauf nur noch als kleine schwarze Punkte zu erkennen. Neulich erst wollte Mirjam Lüscher eines der Fenster reinigen. Nach wenigen Minuten begann ihr Herz zu rasen, und sie musste aufhören.

Vor ihrer Coronainfektion Anfang Oktober 2020 ist Lüscher gesund und sportlich. Am 7. Oktober bekommt sie Fieber und bleibt gut drei Wochen in Selbstisolation zu Hause – trotz Atemnot. Auch nach der akuten Infektionsphase fühlt sie sich nicht gesund. Da ihr Hausarzt nicht glaubt, dass es Long Covid gibt, und sie nicht krankschreiben will, sucht sich Lüscher einen neuen Mediziner, der sie betreut. Die Arbeit beginnt sie mit reduziertem Pensum und mithilfe von Asthma- und Schmerzmedikamenten. Kurz darauf verschlechtert sich ihr Zustand, und sie muss ihre Weiterbildung unterbrechen.

Nach der Impfung im Sommer 2021 verbessert sich Lüschers Zustand ein wenig, doch dieses Hoch ist nur von kurzer Dauer. Nach etwa zwei Wochen kehren die meisten Symptome zurück. Lüscher besucht heute eine Long-Covid-Sprechstunde mit ambulanten Therapien. Da sie zu hundert Prozent arbeitsunfähig ist, wird ihr in der Sprechstunde empfohlen, sich bei der IV anzumelden. Doch sie wäre lieber weiterhin berufstätig.

In ihrem Freundeskreis nimmt das Verständnis für ihre Situation unterdessen ab: Sie solle mehr Sport machen und früher ins Bett gehen; jeder sei mal müde; sie solle sich nicht dauernd mit Long Covid beschäftigen, das tue natürlich nicht gut. Sie würde gerne ihre Arbeit wiederaufnehmen und mit ihrer Weiterbildung fortfahren; würde gerne wieder Sport treiben, Feste besuchen und Freund:innen treffen. Aber sie kann nicht. Ihr Leben mit Long Covid, sagt sie, sei wie ein Zug, in dem sie nicht sitze. Sie stehe am Bahnhof und sehe zu, wie der Zug an ihr vorbeiziehe.

Lara Karcher (31), Muttenz BL, Online Campaign and Content Manager

Ende 2019 reist eine Arbeitskollegin von Lara Karcher für vier Wochen nach China. Als sie zurück in der Firma ist, werden mehrere ihrer Kolleg:innen krank, einige von ihnen entwickeln Lungenentzündungen. Auch Karcher erkrankt. Nach ihrer Coronainfektion entwickelt sie ganz unterschiedliche Symptome: Sie leidet unter Geschmacksverlust, hat Husten, Hautprobleme, Zuckungen und Haarausfall. Von den Ärzt:innen, die sie aufsucht, fühlt sie sich nicht ernst genommen. Als sie eines Morgens mit einer schwarzen Zunge aufgewacht sei, habe ihr Arzt am Telefon gefragt, ob sie Blaubeeren gegessen habe.

Ihre Fingernägel, die ihr zuvor bei einer gewissen Länge oft abbrachen, werden steinhart, es kommt ihr vor, als würden ihr Klauen wachsen. Karcher versteht ihren Körper nicht mehr.

Bis jetzt hat sie keine Therapie gegen ihre Symptome gefunden. Eine Ärztin empfahl ihr eine psychiatrische Behandlung. Da sie sich so früh infiziert hat, konnte man bei einem Test Mitte 2020 keine Antikörper nachweisen. Unterdessen hat sie aber die Bestätigung, dass sie von Long Covid betroffen ist.

Patrizia Lang (32), Eschlikon TG, vierfache Mutter

Anfang 2020 scheint Patrizia Langs Glück perfekt. Die Familie zieht in ein schönes Haus in Eschlikon im Thurgau, und am 15. März kommt ihr viertes Kind zur Welt. Am 6. November erkrankt Patrizia Lang jedoch an Covid. Sie hat Fieber, für sie neuartige Kopfschmerzen, Gliederschmerzen und Atembeschwerden. Dazu kommen Schwindel und das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden. Eine Ambulanz bringt sie ins Spital.

Neurologisch scheint sie gesund zu sein und wird wieder entlassen. Ihr Mann, ebenfalls an Covid erkrankt, erholt sich. Auch ihr Zustand verbessert sich, aber nur für kurze Zeit. Nun leidet sie unter Taubheitsgefühlen in Armen und Beinen, Muskelschwäche, unsicherem Gang, Durchfall, Übelkeit, Druck im Kopf, Ausschlägen, Haarausfall. Im neuen Jahr geht es ihr zusehends schlechter. Es kommen Sehstörungen hinzu, Geruchshalluzinationen und Atemnot bei der kleinsten Anstrengung. Beim Gehen hat sie das Gefühl, Kisten vor sich herzuschieben. Beim Gang zur Toilette rast ihr Herz wie bei einem Marathon.

Lang kann ihre vier Kinder nicht mehr selber betreuen und sucht Hilfe beim Roten Kreuz. Als sie erneut kollabiert, wird sie ein weiteres Mal ins Krankenhaus gebracht. Mit der dortigen Behandlung ist sie nicht zufrieden. Erst als sie ins Universitätsspital Zürich verlegt wird, erhält sie die Diagnose Long Covid. Es folgen mehrere Wochen Rehabilitation in Liechtenstein. In dieser Zeit verpasst sie den dritten und den fünften Geburtstag ihrer Söhne, den jüngsten hat sie in der Reha und im Krankenhaus bei sich. Seinen ersten Geburtstag muss Lang mit ihm alleine feiern, ohne ihre Familie. Als sie wieder zu Hause ist, fühlt sie sich alleine gelassen, denn sie ist immer noch krank, erhält keine staatliche Unterstützung, keine Therapie und keine Medikamente, die wirklich helfen.

Nach der zweiten Moderna-Impfung bekommt sie Sehstörungen. Im Universitätsspital Zürich lautet der Verdacht auf das Visual-Snow-Syndrom. Derzeit ist sie deshalb im Inselspital Bern in Behandlung. Nie hätte sie gedacht, dass sie so lange krank sein würde. Ihr Baby, sagt Lang, habe viel Farbe in ihre schwierige Situation gebracht. In der Reha habe der Junge laufen gelernt und ihr täglich gezeigt, wie man nach dem Hinfallen wieder aufstehe.

Geneviève Morin (51), Basel und Hégenheim, bildende Künstlerin

Der Husten beginnt Mitte März 2021. Kurz darauf setzt heftiges Fieber ein. Geneviève Morin begibt sich zu Hause in Selbstisolation. In der Nacht vom 23. März hat sie einen schrecklichen Albtraum: Mit wahnsinnigem Tempo dreht sich eine Art CD in ihrem Kopf. Immer an der gleichen Stelle wird sie plötzlich gestoppt. Im Traum erkrankt sie an Alzheimer und versucht immer wieder, klare Gedanken zu fassen, ist aber dazu nicht in der Lage. Völlig erschöpft wacht sie auf und meint, sie sei tatsächlich an Alzheimer erkrankt. Aus Angst vor diesem Traum will sie nicht mehr schlafen, meidet ihr Bett und liegt auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer. Am frühen Morgen des 26. März beginnt ihr Herz unregelmässig zu schlagen. Morin ist überzeugt, dass sie nicht an Corona, sondern an einem Herzschlag sterben wird, und ruft ihre Ärztin an.

Kurz darauf steht ein Notfallteam in Schutzkleidung vor ihrer Tür, und Morin wird mit einer Lungenentzündung notfallmässig ins Krankenhaus gebracht. Dort bleibt sie bis Ende März.

Dann entwickelt sie eine manische Phase, in der sie drei Tage lang ohne Unterbruch telefoniert. Sie geht davon aus, dass ihre Coronainfektion die manisch-depressiven Phasen, an denen sie vor 29 Jahren bereits litt, die sie aber unter Kontrolle hatte, erneut ausgelöst hat.

Den April verbringt sie in einem Haus im Basler Jura, um sich zu erholen. Dann setzen depressive Phasen ein, die so schlimm werden, dass sie in der Psychiatrischen Klinik der Universität Basel Hilfe sucht. Dort verbringt sie den ganzen Juli. Im August folgt ein Aufenthalt in der Klinik Sonnenhalde in Riehen. Der behandelnde Arzt stellt die Diagnose Long Covid und bestätigt Morins Vermutung, dass die Erkrankung bei ihr erneut manisch-depressive Phasen ausgelöst hat.

Danach beginnt Morin langsam wieder mit ihrer künstlerischen Arbeit. Da ihre Werke sehr persönlich sind, geht sie davon aus, dass ihre Erlebnisse während und nach ihrer Covid-Erkrankung immer wieder in ihre Kunst einfliessen werden.

Sina Kuhn (40), Zürich, Senior Consultant

Sina Kuhn erkrankt im September 2020 mittelschwer an Covid. Die Krankheit dauert rund drei Wochen und fühlt sich wie eine schwere Grippe an. In dieser Zeit ist sie alleine zu Hause in Isolation. Als sie sich besser fühlt, fährt sie nach Baden, um ihren Partner zu besuchen. Sie bekommt aber kaum Luft und schafft es nur knapp bis zu seiner Haustür. Der behandelnde Pneumologe meint, ihre Atemnot sei psychisch bedingt, sie solle sich beruhigen.

Vor ihrer Coronainfektion war Kuhn gesund. Sie achtete auf ihren Körper, praktizierte jeden Tag Yoga, tanzte Salsa, trieb viel Sport, ging wandern. Heute kann sie ihren Körper nicht mehr richtig einschätzen. Sobald sie über ihre Leistungsgrenze hinausgeht – die viel tiefer ist als vor der Infektion –, erlebt sie einen «Crash». Dann muss sie sich hinlegen, möglichst alles ausblenden, vor allem Licht und Geräusche. Bis sie sich erholt hat, braucht sie etwa zwei Tage.

Nach ihrer ersten Coronaimpfung im Juni 2021 verschlechtern sich Kuhns Symptome enorm. Seither ist sie relativ stark von Long Covid betroffen. Auch nach der zweiten Impfung bleiben die Symptome mit den typischen Schwankungen bestehen.

Im Sommer 2021 gönnen sich Kuhn und ihr Partner eine Ayurvedakur. Danach fühlt sie sich fast so gut wie vor ihrer Erkrankung. Sie fahren ans Meer, doch als Kuhn ins Wasser watet, erleidet sie einen weiteren Crash – für ihren Körper ist der Unterschied zwischen Wasser- und Körpertemperatur zu gross.

Heute geht es Kuhn nicht besser, aber sie hat ihren Zustand akzeptiert und gelernt, mit ihm umzugehen. So sind kleine Ausflüge oder Restaurantbesuche möglich – wenn sie sich gut vorbereitet und danach erholen kann.

Christian Salzmann (52), Vordemwald, Journalist und Radiomoderator

Es ist Oktober 2020, die zweite Coronawelle rollt durch die Schweiz. Christian Salzmann und seine Partnerin verabreden, dass sie sich gegenseitig keine Vorwürfe machen werden, sollte eine:r von beiden das Virus nach Hause bringen. Dann erkrankt Salzmanns Partnerin, eine Pflegefachfrau, wenig später auch er. Beide begeben sich in Isolation und durchleben die Coronainfektion alleine.

Nach einigen Tagen ruft Salzmanns Partnerin an und sagt, sie bekomme keine Luft mehr. Seine Angst ist gross, und da sich auch sein Zustand jetzt schnell verschlechtert, weiss er nicht, ob sie sich nochmals wiedersehen werden. Unter grosser Anstrengung und mit der Hilfe eines befreundeten Notars setzt er sein Testament auf. Glücklicherweise erholen sich beide und können ihre Arbeit wieder aufnehmen.

Vier Wochen später, Salzmann hat soeben eine Radiosendung hinter sich, kommt die Krankheit zurück: Plötzlich hat er keine Energie mehr. Er bricht fast zusammen, kann sich gerade noch an seinem Sendepult festhalten. Auch seiner Partnerin geht es wieder schlechter. Seit Dezember 2020 leiden beide an Long Covid. Salzmann leidet an Atemnot, chronischer Erschöpfung, wandernden Gliederschmerzen, Konzentrationsproblemen, Empfindungsstörungen in Armen und Beinen und Schlafstörungen. Immer wieder riecht für ihn einige Tage lang alles nach Autoabgasen. Hektik und Stress verträgt er nur noch schlecht. Die massive Depression, in die Salzmann kurz nach Beginn der Long-Covid-Erkrankung gestürzt ist, hat inzwischen nachgelassen. Allerdings kommen immer wieder depressive Verstimmungen zurück.

Salzmann begibt sich für neun Wochen in Rehabilitation. Während es ihm langsam etwas besser geht, verschlechtert sich der Zustand seiner Partnerin erneut.

Heute muss er sich entscheiden, ob er einkaufen geht oder einen Spaziergang macht; für beides reicht seine Energie nicht. Nicht zu wissen, wie lange er von Long Covid betroffen sein wird, macht ihm Angst. Hoffnung geben ihm verständnisvolle Menschen in seinem Umfeld, sein Glaube und die Erforschung neuer Medikamente gegen Long Covid.

Wenn Salzmann wieder gesund ist, so hat er sich vorgenommen, wird er vieles nicht mehr so ernst und nicht so persönlich nehmen wie vor seiner Coronainfektion. Und er will für Menschen da sein, die Hilfe brauchen – so wie er jetzt.

Andreas Seibert ist Fotograf und war Mitglied der Agentur Lookat. Er hat sechzehn Jahre in Japan gelebt. Seit Beginn des Jahrtausends dokumentiert er fotografisch den chinesischen Wirtschaftsboom. Long-Covid-Betroffene fotografiert er seit dem Sommer 2021.