Europawahlen 2024: Wenn alles ins Wanken gerät

Nr. 19 –

Anfang Juni wird das neue Europäische Parlament gewählt. Die EU steht vor einer Richtungsfrage: Spannen die Konservativen mit den Rechtsextremen zusammen?

Auf der Zielgeraden ihrer Amtszeit hat es die EU-Kommission offenbar eilig. Anfang Mai, gerade mal einen Monat vor den Wahlen zum neuen Europäischen Parlament, schloss sie einen sogenannten Flüchtlingsdeal mit dem Libanon: ein Finanzpaket von einer Milliarde Euro, das unter anderem der «Grenz- und Migrationssteuerung» dient, womit nicht zuletzt die Einreise syrischer Geflüchteter gestoppt werden soll (vgl. «Die EU macht sich erpressbar»). Erst im März wurden vergleichbare Abkommen mit Mauretanien und Ägypten geschlossen, zusätzlich zu den bereits bestehenden mit Marokko, Libyen und der Türkei sowie dem anvisierten mit Tunesien.

Der mediterrane Ring zur Migrationsabwehr steht nicht für sich allein. Er ist gewissermassen die Aussenansicht des «Gemeinsamen Europäischen Asylsystems», dessen Reform im April nach jahrelangen Verhandlungen unter Dach und Fach gebracht wurde. Mit den Stimmen der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), der Sozialdemokrat:innen (S & D) sowie der Liberalen (Renew Europe) beschloss man Schnellverfahren – samt Lagerunterbringung an den Aussengrenzen und erleichterten Abschiebungen in Drittstaaten. Ein vermeintlicher Prestigeerfolg, gedacht als Wahlempfehlung.

Wofür steht der Green Deal?

So muss davon ausgegangen werden, dass die Wahlen des 720-köpfigen Europäischen Parlaments – vom 6. bis zum 9. Juni – den realpolitischen Rechtsruck in Europa widerspiegeln werden. Nicht nur weil im Wahlkampf weitgehende Einigkeit darüber herrscht, dass Migrationspolitik der Prämisse einer «Festung Europa» zu folgen habe. Diese Tendenz zeigt sich ebenso bei einem weiteren entscheidenden Thema: bei Klima und Nachhaltigkeit. Dort ist der Motor ambitionierter Projekte, gipfelnd im 2021 beschlossenen Klimagesetz, ins Stocken geraten.

Das Naturschutzgesetz etwa, Teil des European Green Deal, wurde im Februar nur knapp vom EU-Parlament angenommen. S & D, Grüne sowie Teile der Liberalen und Linken waren dafür – die EVP, die Fraktion christdemokratischer, konservativer Parteien, die mit Ursula von der Leyen die Präsidentin der EU-Kommission stellt, dagegen. Schon Ende 2023 war die EVP, traditionell stärkste Fraktion im Europäischen Parlament, entscheidend daran beteiligt, die geplante Reduzierung von Pestiziden zu kippen. Für die neue Legislaturperiode ist zu erwarten, dass die EVP das schon beschlossene Verbot von Verbrennermotoren ab 2035 zu revidieren versucht.

Damit scheint ausgerechnet der Klimaschutz zum Spaltpilz zwischen den beiden führenden Kräften EVP und S & D zu werden: Soll der Green Deal eher im Zeichen von Wettbewerbsfähigkeit der EU bei innovativen Technologien stehen? Oder soll eine sozialverträgliche grüne Transition im Mittelpunkt stehen? Letztere wird nicht zuletzt eine Frage von Haushaltsdisziplin, Austerität und dem jüngst beschlossenen Abbau der Schulden sein, die sich in den Coronajahren ansammelten. Hier drängt vor allem die EVP auf das, was sie eine «verantwortungsvolle Haushaltspolitik» nennt.

Das Ende alter Allianzen

Für die kommende fünfjährige Legislaturperiode rückt demnach eine Frage in den Fokus: Löst sich die Verbindung der alten Volksparteien, der konservativen und sozialdemokratischen Fraktionen, die im EU-Parlament bei Abstimmungen häufig eine Art grosse Koalition bilden, auf, und orientiert sich die EVP stattdessen nach rechts? Von der Leyen, die als Spitzenkandidatin eine weitere Amtszeit als Kommissionspräsidentin anpeilt, wich unlängst aus, als der Grüne Bas Eickhout sie bei der Auftaktdebatte damit konfrontierte: Die Antwort hänge davon ab, wie sich die Fraktionen nach der Wahl zusammensetzten.

Das wiederum wird sich erst im Sommer klären. Bei den European Conservatives and Reformists (ECR), auf die Eickhout mit seiner Frage abzielte, sind aktuell die polnische PiS, skandinavische Rechtsextreme wie die Schwedendemokraten oder Die Finnen und die Fratelli d’Italia vertreten. Um Missverständnissen vorzubeugen: Es handelt sich dabei um die gemässigtere der beiden Rechtsfraktionen im EU-Parlament. Die andere ist Identity and Democracy (ID), der unter anderem die AfD, das Rassemblement National (RN), die FPÖ, die Lega und die Dansk Folkeparti angehören.

Wie salonfähig die ECR inzwischen sind, verkörpert niemand besser als Giorgia Meloni von den gemeinhin als postfaschistisch bezeichneten Fratelli d’Italia. Bei den Migrationsabkommen mit Tunesien und Ägypten war sie im Namen der EU beteiligt und begleitete von der Leyen während der Verhandlungen. Die Zeitung «Le Monde» nannte sie zuletzt eine «unentbehrliche Akteurin» in der europäischen Migrationspolitik.

Derweil werden sowohl den ECR als auch ID deutliche Gewinne vorhergesagt, zusammen könnten sie mehr als ein Fünftel der Sitze des EU-Parlaments belegen. Identitäre Parteien liegen etwa in Frankreich (RN), Österreich (FPÖ) oder den Niederlanden (PVV) an der Spitze der Umfragen, in Deutschland könnte die AfD zweitstärkste Partei werden. Bislang haben Enthüllungen über die Beteiligung an chinesischer Spionage oder russischer Desinformation den ID-Parteien offenbar in der Wähler:innengunst nicht geschadet.

Immerhin hat die mögliche Rechtsoffenheit der EVP diesbezüglich Grenzen: So betont von der Leyen im Wahlkampf die Notwendigkeit, die Politik der Mitgliedstaaten weiter zu harmonisieren, die Ukraine gegen den russischen Angriffskrieg zu unterstützen und eine gemeinsame Verteidigungspolitik zu koordinieren. Gegen russlandnahe ID-Parteien fand sie deutliche Worte. Die Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit Europas werden demnach auch in der kommenden Legislaturperiode zentrale Themen bleiben – gerade auch im Hinblick auf die unsicheren Entwicklungen in den USA nach den Wahlen im November.

Tobender Kulturkampf

Was die EVP eher nach rechts rücken lassen könnte, sind die anhaltenden Agrarproteste und die zunehmende Klimamüdigkeit in vielen Mitgliedstaaten. Zum Wahlkampfauftakt deutete sich an, dass die Frage, in welchem Verhältnis Klima- und Agrarpolitik zueinander stehen, auch in den kommenden fünf Jahren bedeutsam wird. In mehreren Mitgliedstaaten zeigte sich jüngst, wie Agrarproteste mit ihren durchaus diversen Teilnehmer:innen immer wieder auch Verbindungen zur extremen Rechten eröffnen. Sei es, weil einzelne Akteur:innen Verbindungen dorthin haben oder aber weil sich viele der oben genannten Parteien auf solchen Kundgebungen tummeln, um gegen vermeintlich «elitäre», «globalistische» oder «woke» Regierungen zu agitieren.

Die anstehenden Europawahlen sind bedeutend und brisant, weil dabei Themen im Vordergrund stehen und Entscheidungen zu treffen sind, die für die Zukunft nicht nur essenziell, sondern existenziell sind. Die europäische Integration schreitet voran, inhaltlich allerdings stark vom kontinuierlichen Rechtsruck geprägt, der sich auch beim Urnengang im Juni aller Wahrscheinlichkeit nach bestätigen wird.

Wie sehr in dieser Konstellation auch die demokratischen, rechtsstaatlichen Grundpfeiler der EU ins Wanken geraten sind, zeigen die Angriffe auf einen sozialdemokratischen und mehrere grüne Politiker in Deutschland (vgl. «Das ist heute die Normalität»). Angesichts des immer heftiger tobenden politischen Kulturkampfs steht die künftige inhaltliche Ausrichtung Europas auf Messers Schneide.