Game: Der Wurm im Kopf
So einig ist sich die Gamer:innenwelt selten: «Baldur’s Gate 3» gilt bereits als eines der besten Spiele aller Zeiten. Es ist tatsächlich beeindruckend – doch der Hype erzählt auch etwas über den maroden Zustand der Industrie.
Anfang August erlebte die Gamer:innenwelt eine kleine Erlösung: «Baldur’s Gate 3» stand zum Download bereit. Nach dem genrebildenden Erfolg der ersten beiden Teile wurde es um die Videospielreihe fast zwanzig Jahre still. Die Vorfreude unter Fans war daher riesig, als 2019 der dritte Teil angekündigt wurde. Nun scheint sich das Warten gelohnt zu haben, die euphorischen Besprechungen und unzählige Spieler:innen sind sich einig: «Baldur’s Gate 3» ist eines der besten Games aller Zeiten. Was steckt hinter dem Hype, dessen Ausmass sogar in der für Schaumschlägerei äusserst anfälligen Gamer:innenwelt erstaunt?
Wie seine Vorgänger versteht sich «Baldur’s Gate 3» als Adaption des 1974 veröffentlichten Pen-and-Paper-Rollenspiels «Dungeons and Dragons». Das Gesellschaftsspiel gibt der Fantasie sehr viel Raum, die Spielwelt selbst wird im Verlauf des Spiels ständig erweitert. Das Spiel galt lange Zeit als Prüfstein jeder glaubwürdigen Nerdbiografie. Das änderte sich mit der Verbreitung von Computern in den achtziger Jahren: «Dungeons and Dragons» wurde zur Blaupause des Computerrollenspiels. Die Genregrössen der letzten Jahre haben sich jedoch von der analogen Vorlage ziemlich weit entfernt und Inspiration in anderen Traditionslinien gesucht. «Baldur’s Gate 3» widersetzt sich diesem Trend, kommt geradezu klassisch daher. Alles Nostalgie also?
Schier endlose Verästelung
Das wäre viel zu einfach. Wer ins Spiel einsteigt, stellt bald fest: Der belgische Entwickler Larian Studios hat hier tatsächlich beeindruckende Arbeit geleistet. «Baldur’s Gate 3» spielt sich fantastisch und begeistert durch seinen imposanten Umfang, die ausgeklügelte Spielmechanik und seine technische Makellosigkeit. Es hebt sich deutlich von vergleichbaren Spielen ab und bereichert das Genre mit Neuerungen. Das zeigt sich bereits bei der Erstellung der Spielfigur, deren Geschlecht man nicht nur als männlich oder weiblich, sondern auch als nonbinär festlegen kann. Das ist erfrischend und bricht mit den oft konservativen Rollenbildern des Genres.
Ist die Figur erstellt, stürzt sich die Spielerin ins Abenteuer. Eine düstere Spezies droht die Bewohner:innen des Kontinents Faerûn in willenlose Untertan:innen zu verwandeln. Sie pflanzt ihren Opfern einen wurmartigen Parasiten ein, der schleichend den Willen seines Wirts bricht. Auch die gespielte Figur ist befallen, die Zeit drängt. Und so machen wir uns auf die Suche nicht nur nach jemandem, der uns vom Parasiten und damit dem drohenden Sklav:innendasein befreit, sondern auch nach den Drahtziehern, die hinter dem grausamen Plan stecken. Das ist zwar flüssig erzählt, langweilt stellenweise aber auch in seiner schematischen Gegenüberstellung von Gut und Böse.
Die Hexe und das Auge
Aber wichtiger als die Haupthandlung, die oft in den Hintergrund gerät, sind sowieso die Nebengleise. Wenn man diesen folgt, fühlt sich diese Welt eher wie eine riesige Spielwiese denn wie ein linearer Erzähltunnel an. Hier gelingt es den Entwicklern bravourös, das umzusetzen, was an Rollenspielen seit Jahrzehnten fasziniert: schier endlose narrative Verästelungen, die den Spielenden ständig Entscheidungen abverlangen, mit deren Konsequenzen diese aber oft erst viel später konfrontiert werden. Das macht jeden Spieldurchlauf einzigartig.
In «Baldur’s Gate 3» trifft unsere Figur etwa auf eine liebliche alte Dame namens Auntie Ethel, die anbietet, diese vom Parasiten zu erlösen. Der Preis dafür: Sie entfernt der Figur ein Auge, um es zu küssen – ein Glücksbringer, behauptet sie. Sobald man auf das verlockende Angebot eingeht, verwandelt sich die Dame in eine furchteinflössende Hexe, die Spielfigur verliert ein Auge, und der Spieler merkt schnell, dass er aufs Glatteis geführt wurde: Auntie Ethel kann den Parasiten gar nicht entfernen, stattdessen wird die Figur, weil ihr jetzt ein Auge fehlt, mit einem permanenten Nachteil bei bestimmten Aktionen belegt. Später treffen wir die Hexe erneut und wollen eine Dorfbewohnerin aus ihren Klauen befreien. Blöd nur, dass genau jener Nachteil den Kampf gegen die Hexe unnötig erschwert. Die Tragweite von Entscheidungen variiert beträchtlich; weil man diese meist nicht einschätzen kann, wird jede von ihnen zur Nervenprobe. Nicht selten treibt einen vor allem die Neugier an, weiterzuspielen. Viel einnehmender kann ein Game kaum sein.
Diese Unberechenbarkeit setzt sich bis in die grundlegende Spielmechanik fort. Meist entscheidet nämlich ein Würfelwurf, ob eine Aktion gelingt – sei dies der Versuch, einen Dieb zum Geständnis seiner Tat zu überreden, das Bemühen, mit einer begehrten Figur zu flirten, oder das Vorhaben, einem angriffslustigen Goblin den Todesstoss zu versetzen. Je nachdem, auf welche Attribute wir mit unserer Figur setzen, sind diese Würfe eher von Erfolg gekrönt. Hier liegen Frust und Freude ganz nah beieinander. Das verleiht dem Spiel eine nervenaufreibende Unvorhersehbarkeit, die gerade da, wo das Spiel Längen aufweist, die Spannung aufrechtzuerhalten vermag.
Während die Spielerfahrung von ständigen Umwegen und Überraschungen geprägt ist, dreht sich im ausgeklügelten Kampfsystem, das auch für Pen-and-Paper-Rollenspiele typisch ist, alles um Kontrolle. Gerade Neueinsteiger:innen werden sich daran zu Beginn die Zähne ausbeissen, da es hier auf komplexe Weise gilt, die eigenen Stärken möglichst effektiv gegen die Schwächen des Gegners auszuspielen. Dabei entscheiden nicht nur die Ausrüstung und die Fähigkeiten der Spielfigur über Sieg oder Niederlage, auch die Topografie und das komplex gestaltete Terrain können geschickt als taktische Mittel eingesetzt werden. Hier kommen Gamer:innen mit einem Flair fürs Tüfteln und Optimieren voll auf ihre Kosten und können mit viel Übung einen eigenen Kampfstil entwickeln.
Grosse Häme
Ist dieses Spiel vielleicht gar ein bisschen zu gut? Diesen Eindruck vermittelten zumindest eine Reihe von Gameentwicklern, die sich auf Twitter mit der Mahnung zu Wort meldeten, dass «Baldur’s Gate 3» nicht als Massstab für künftige Games fungieren dürfe. Wer solche Qualität erwarte, könne nur enttäuscht werden, die Umstände seiner Entwicklung seien schlicht zu singulär. Ein Kuriosum, das wir in anderen Kultursparten wohl vergeblich suchen. Die Häme in einschlägigen Foren war entsprechend gross. Wieder einmal, so der Tenor, würden Gamer:innen für dumm verkauft.
Tatsächlich hat sich im Hype um «Baldur’s Gate 3» auch viel angestaute Wut entladen. Eine Wut insbesondere auf jene Entwickler, die mit ihren Kultproduktionen einst die Nerdherzen höherschlagen liessen, sich mittlerweile aber zu Megakonzernen konsolidiert haben, in denen Profitinteressen längst das Primat über charmante Nischeninteressen errungen haben. Das Resultat: stumpfe Standardisierung, liebloses Recycling, endlose Monetarisierung – alles im Dienst eines anonymen Aktionariats. Das beste Beispiel dafür sind sogenannte Mikrotransaktionen, eine bei vielen Games übliche Möglichkeit, über den Kaufpreis hinaus zusätzliche Spielinhalte zu erwerben.
Sehnsucht nach Leidenschaft
Das hat auch positive Effekte: Indiegames erhalten mittlerweile deutlich mehr Aufmerksamkeit. Das ist gut und wichtig, sind es doch oft kleine Produktionen, die mit neuen Spielmechaniken und -ästhetiken experimentieren. Doch auch die vielen bitteren Enttäuschungen der letzten Jahre konnten den Hunger vieler Gamer:innen nach Grossproduktionen wie «Baldur’s Gate 3» – die grössten Blockbuster können Budgets von 300 Millionen US-Dollar überschreiten –, die spektakulär die Grenzen des (technisch) Möglichen ausloten, nicht zum Verschwinden bringen.
Es würde dem Verdienst von Larian Studios aber nicht gerecht, die Euphorie, die ihr neustes Meisterwerk ausgelöst hat, allein dem Versagen der Konkurrenz zuzuschreiben. Gleichwohl lässt sich der immense Hype um das Spiel nicht davon trennen. Hier bricht sich auch eine nostalgische Sehnsucht Bahn – nach Games von Gamer:innen für Gamer:innen und nach einer Zeit, in der die Branche vermeintlich noch von echter Leidenschaft getrieben war.
«Baldur’s Gate 3». Larian Studios 2023. Für PC und Playstation 5.