Massentierhaltung: Kampf gegen einen Schlachthof
Eine Migros-Tochter plant im Kanton Freiburg den grössten Pouletschlachthof der Schweiz. Die Behörden rollen ihr den roten Teppich aus und schrecken auch vor zweifelhaften Manövern nicht zurück.
Alaric Kohler ist sauer. «Was hier passiert, hat nichts mit einem fairen Verfahren zu tun», sagt der 44-Jährige. «Als Einwohner haben wir kein Mitspracherecht, und es ist schwer, an Informationen zu kommen.» Dass in seiner 1900-Seelen-Gemeinde Saint-Aubin im Kanton Freiburg der grösste Pouletschlachthof der Schweiz gebaut werden soll, erfuhr er nur dank Eigeninitiative. Nach einem Zeitungsartikel über das lokale Industriegelände studierte er die von der Gemeinde aufgelegten Planungsbögen. Darauf entdeckte er den Namen der Firma Micarna. Da war der Grundstücksverkauf an den Fleischverarbeitungsbetrieb der Migros längst beschlossen, und der Planungsprozess steckte bereits in der entscheidenden Phase.
Saint-Aubin liegt in der Broye-Ebene, die mit Murten- und Neuenburgersee ein beliebtes Ferienziel ist. Am Rand des beschaulichen Ortes kaufte der Kanton vor Jahren ein 28 Hektaren grosses Grundstück, um darauf die Lebensmittelindustrie zu fördern. Als «Swiss Campus for Agri and Food Innovation» soll das sogenannte Agrico-Areal der Forschung und der Produktion dienen. Bereits angesiedelte Start-ups stellen etwa Proteinpulver aus Mikroalgen her oder züchten Bienen zur Schädlingsbekämpfung. Dass nun ein Drittel des Areals für einen Schlachthof hergegeben werden soll, stösst nicht nur Kohler sauer auf. Eine Petition dagegen brachte 3600 Unterschriften zusammen. Kohler erstellte eine Website mit Kritikpunkten: Er warnt vor Mehrverkehr, hohem Wasserverbrauch und vor der Ausweitung der Massentierhaltung in der Region.
Der Geisteswissenschaftler ist einer der wenigen, die es wagen, öffentlich gegen das Grossprojekt hinzustehen. Denn die Firma dahinter hat wirtschaftliches Gewicht in der Region: Micarna ist mit einem Marktanteil von vierzig Prozent die führende Fleisch- und Geflügelproduzentin der Schweiz. Die Migros-Tochter betreibt im freiburgischen Courtepin den grössten Pouletschlachthof des Landes. Dieser bestimmt einen Grossteil der regionalen Landwirtschaft: 500 Mastbetriebe beliefern Micarna mit über dreissig Millionen Hühnern pro Jahr. Nun ist die Anlage in Courtepin in die Jahre gekommen. Den Neubau in Saint-Aubin plant der Branchenriese nun gleich eine Nummer grösser: Die Schlachtkapazität solle auf vierzig Millionen Tiere steigen, wie ein Vertreter von Micarna 2019 gegenüber den «Freiburger Nachrichten» ausführte. Die Migros will diese Zahl allerdings auf Nachfrage nicht bestätigen.
Spärliche Kommunikation
Die Behörden rollten Micarna den roten Teppich aus: Der kantonale Nutzungsplan für das Agrico-Areal wurde auf die Bedürfnisse des Schlachthofs ausgerichtet. Gebäude, die bisher zwanzig bis vierzig Meter hoch sein durften, sollten zunächst neu bis punktuell sechzig Meter hoch werden können, auch wurden grosszügig Parkplätze eingeplant. Nach Einsprachen der Stiftung Landschaftsschutz und des VCS wurde beides zumindest etwas redimensioniert. Weiterhin sind zwei bis drei neue Strassenzufahrten vorgesehen. Auffällig ist, wie wenig dabei zum Schlachthof kommuniziert wurde, der künftig das Areal dominieren wird: In der Medienmitteilung zum Nutzungsplan findet sich im zwei Seiten langen Haupttext keine Zeile dazu. Erst fast am Ende, in einem Kasten zum Agrico-Areal, steht ein einziger Satz: «Micarna hat ein 95 000 Quadratmeter grosses Grundstück erworben, um einen neuen Geflügelverarbeitungsbetrieb zu bauen.» Entsprechend wusste auch kaum jemand vor Ort vom Projekt, und so konnte auch niemand Einsprache erheben, bevor der Plan genehmigt wurde.
Auch die Gemeinde Saint-Aubin agierte zweifelhaft. Nach der Annahme des kantonalen Nutzungsplans war die Ortsplanung an der Reihe. Inzwischen hatten einige Einwohner:innen vom Schlachthofprojekt erfahren und legten Einsprache gegen Punkte ein, die diesen betrafen. Auch Alaric Kohler gehörte zu den Rekurrent:innen. Als Reaktion strich der Gemeinderat den gesamten Artikel zur Agrico-Parzelle aus dem Dokument, ersetzte ihn durch einen Verweis auf den bereits genehmigten kantonalen Nutzungsplan und legte die Ortsplanung so neu auf. Die Einsprachen würden so gegenstandslos, die Einwohner:innen könnten sich nicht mehr gegen das Projekt wehren. Ein Rekurs gegen die Streichung des Artikels ist noch hängig. «Das Vorgehen der Gemeinde ist rechtlich eine Grauzone», sagt dazu Alexandra Gavilano von Greenpeace. Die Organisation unterstützt Kohler auf dem Rechtsweg und hat ebenfalls Einsprache eingelegt. Zwar sei es möglich, auf den kantonalen Nutzungsplan zu verweisen, da dieser über der Ortsplanung stehe. «Es ist aber heikel, wenn es als Reaktion auf Rekurse geschieht», so Gavilano.
Aufschlussreiches Detail: Der Gemeindepräsident von Saint-Aubin, Michael Willimann, behauptet gegenüber der WOZ, die Agrico-Zone sei bereits im Vorfeld aus der Ortsplanung genommen worden. Der Redaktion liegt jedoch ein von Willimann unterzeichneter Brief vor, der belegt, dass dies erst 2023 nach den Einsprachen geschah.
Zum Vorgehen der Gemeinde sagt Willimann: «Wir von der Gemeinde haben nichts unternommen, damit Einsprachen nicht hätten erfolgen können.» Und er verweist auf den weiteren Verfahrensweg: «Sobald Micarna das Baugesuch eingereicht hat, kann jeder Bürger Einsprache erheben und seine Argumente gegen das Projekt vorbringen.» Wenn sich das Unternehmen an den Nutzungsplan und die Bauvorschriften hält, dürfte eine solche jedoch keine Chancen haben.
Versprochene Arbeitsplätze
Micarna und die Behörden unterstreichen gerne die Arbeitsstellen, die dank des Schlachthofs in der Region erhalten blieben. Kohler glaubt jedoch, dass die Menschen vor Ort kaum dort arbeiten wollen. Die Tätigkeiten in Schlachthöfen seien unattraktiv und schlecht bezahlt, sagt der ehemalige Gewerkschafter, und sie würden meist von Migrant:innen verrichtet. Tatsächlich reisst sich kaum jemand um die Jobs. So hat Micarna in ihren Fleischverarbeitungsbetrieben ein Vorlehreangebot für Geflüchtete geschaffen, um «dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken». Kohler vermutet, dass unter anderem Grenzgänger:innen aus Frankreich nach Saint-Aubin kommen, wodurch der Verkehr weiter zunehmen würde – zusätzlich zu den täglich 660 Lastwagenfahrten, die laut der Zeitung «La Liberté» erwartet werden (die Migros will keine Angaben dazu machen). Die ersten Fahrzeuge würden zwischen drei und fünf Uhr früh ankommen, weil Tiertransporte meist nachts stattfinden.
Die vielleicht grösste Sorge gilt aber dem Wasserverbrauch. Schlachthöfe sind wasserintensiv, da sie strengen Hygieneregeln unterliegen und auch im Schlachtprozess viel Wasser verbraucht wird – etwa beim Brühen und beim Rupfen. «Im Sommer verdoppelt sich in der Region durch den Tourismus schon beinahe die Einwohner:innenzahl und somit der Trinkwasserverbrauch», sagt Kohler. «Kommt auch noch der Schlachthof, könnte es knapp werden.» Ein Insider, der anonym bleiben möchte, berichtet, dass es innerhalb der Behörden diesbezüglich bereits Spannungen gebe. Es ist unklar, wer das Wasser liefern soll. Die Migros will keine Angaben über die benötigte Menge machen. Einen Anhaltspunkt liefert aber das zu erwartende Abwasser. Ein Ingenieurbüro hat berechnet, dass das Agrico-Areal insgesamt so viel Abwasser produzieren werde wie 18 000 Einwohner:innen. Der Löwenanteil dürfte dabei auf den Schlachthof entfallen.
Negative Umweltfolgen
Die Migros verspricht, eine «‹State of the Art›-Anlage» zu bauen, die CO₂-neutral betrieben werde und die Kreislaufwirtschaft fördere. Die Arbeitsbedingungen und die Arbeitsplatzsicherheit würden ebenso verbessert wie das Tierwohl im Schlachtprozess. «Die Schweizer Bevölkerung will weiterhin Pouletfleisch essen, zurzeit mit steigender Tendenz», schreibt der Konzern. Aber selbst bei sinkendem Fleischkonsum sei die neue Anlage sinnvoll. So könnten die Importe verringert werden, die weniger nachhaltig produziert würden.
Das ist relativ. Die Tiere werden zwar hier aufgezogen, die Zucht findet allerdings im Ausland statt (siehe WOZ Nr. 49/22), und das Futter wird zu siebzig Prozent importiert. Eine Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften zeigt, wie sich der Nutztierbestand entwickeln würde, wenn er von Schweizer Boden ernährt werden müsste: Es könnten noch 85 Prozent der Kühe und Rinder sowie 39 Prozent der Schweine, aber nur 17 Prozent des Geflügels gehalten werden. Und die Nachfrage steigt zwar tatsächlich, wird aber auch gefördert: 2021 wurden 48,8 Prozent des Fleisches im Detailhandel als Aktion verkauft, wie eine Erhebung des Bundesamts für Landwirtschaft ergeben hat – beim Geflügel waren es gar 51,3 Prozent. Eine KPMG-Studie zeigt überdies, dass viele Konsument:innen an pflanzlichen Alternativen interessiert sind, sie aber nicht kaufen, solange es billigeres Fleisch gibt.
Dazu kommen Umweltfolgen: Die zusätzliche Pouletproduktion des neuen Schlachthofs wird laut Greenpeace die Stickstoffüberschüsse in Böden, Seen und Flüssen um rund 600 Tonnen pro Jahr erhöhen – und damit die Biodiversitätskrise weiter anheizen.
Der Vertrag zum Grundstücksverkauf an Micarna wurde inzwischen unterzeichnet. Was dereinst aus dem alten Schlachthofstandort Courtepin wird, will die Migros nicht sagen. Laut einer älteren Mitteilung der Freiburger Volkswirtschaftsdirektion soll dort jedoch «die Fleischverarbeitung verstärkt werden». Coop hat das Gleiche vor, wie der Konzern auf Anfrage schreibt. Er wolle beim Poulet «die einheimische Produktion erhöhen».
«Unser Ernährungssystem geht in die falsche Richtung», sagt Kohler. «Wir brauchen eine umweltverträgliche, lokal organisierte Lebensmittelproduktion mit Direktvermarktung.» Er sei nicht komplett gegen Fleischkonsum, aber gegen Megaprojekte und ewiges Wachstum. Für die Migros hat er einen Vorschlag: «Bringt Cornatur in die Schweiz!» Cornatur basiert auf dem Pilzprodukt Quorn, das in England hergestellt wird. «Das wäre wirklich nachhaltig und in Saint-Aubin willkommen.»
Für wie mächtig halten Sie die Migros?
Kommentare
Kommentar von Anna-Katharina
Fr., 01.09.2023 - 10:00
"Dazu kommen Umweltfolgen: Die zusätzliche Pouletproduktion des neuen Schlachthofs wird laut Greenpeace die Stickstoffüberschüsse in Böden, Seen und Flüssen um rund 600 Tonnen pro Jahr erhöhen – und damit die Biodiversitätskrise weiter anheizen."
Dieses Argument sollte auch Micarna in ihre Standortwahl einbezogen haben. Ich halte die Macht, welche die Migros durch ihre Grösse hat, zu gross!
Kommentar von Theo_A
Fr., 01.09.2023 - 17:45
Cornatur gibts in der Migros.
Kommentar von Peter S.
So., 03.09.2023 - 11:16
Eine Lösung wäre wohl eine Reduktion des Geflügelkonsums. Wenn man aber davon ausgeht, dass der Konsum auf heutigem Niveau bleibt, ist ein zentraler Schlachthof wohl die beste der unbefriedigenden Optionen. Nachteil: tiels lange Transportwege. Vorteil: Wasser- und Abwasserbewirtschaftung, Schlachtbetrieb und Kontrolle sind besser lösbar (kostengünstiger) als bei mehreren kleineren, dezentralen Betrieben.