Streit im Machtapparat: Vom Himmel geholt

Nr. 35 –

Der Tod von Wagner-Chef Prigoschin wirft ein Schlaglicht auf den Zustand des russischen Regimes: Was als Stärke wirkt, kann auch als Schwäche ausgelegt werden.

Es war wie der letzte Plot-Twist in einem zweitklassigen Mafiafilm: Auf den Tag genau zwei Monate nachdem Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin mit seinem bewaffneten Marsch auf Moskau die Macht im Kreml herausgefordert hatte, stürzte sein Privatjet am Mittwoch vor einer Woche auf dem Weg nach St. Petersburg nach einer Explosion an Bord vom Himmel. Alle zehn Insass:innen kamen ums Leben, darunter nach offiziellen Angaben Prigoschin selbst sowie der Gründer der Privatarmee und einschlägig bekannte Neonazi Dmitri Utkin.

Rund eine Woche später ist Prigoschin offenbar bereits beigesetzt – die Zeremonie war umhüllt von einem Nebel aus Desinformation: Er sei unter Ausschluss der Öffentlichkeit auf einem Friedhof in seiner Heimatstadt St. Petersburg bestattet worden, vermeldete sein offizieller Telegram-Kanal. Das pompöse Begräbnis, das ihm als einst vom Präsidenten persönlich ausgezeichneten «Helden Russlands» zugestanden hätte, verwehrte der Kreml dem 62-Jährigen; und Wladimir Putin blieb der Zeremonie fern.

Zum Tod des einstigen Freundes, der in den letzten Wochen seines Lebens zum erbitterten Widersacher geworden war, hatte dieser sich bereits einen Tag nach dem Absturz geäussert: Ein «Mensch mit schwierigem Schicksal» sei Prigoschin gewesen, aber auch «ein talentierter Mensch und Geschäftsmann», sprach der Machthaber in die Fernsehkameras – und suggerierte damit, er sei von Privatinteressen getrieben gewesen und hätte mit jenen des Staates entsprechend nichts zu tun. Dabei war die Wagner-Gruppe von ebendiesem Staat gegründet worden.

Seit dem Tod des zum Selfmademilliardär avancierten Kleinkriminellen sind Russlands Staatsmedien und die sozialen Kanäle voller Spekulationen. Nicht nur dessen Anhänger:innen, sondern auch viele Expert:innen gehen davon aus, dass der Kreml in der einen oder anderen Form dahintersteckt. Allen Grund dazu hätte er definitiv gehabt: Wie kaum jemand unter den Getreuen des Präsidenten hat Prigoschin Putins Autorität untergraben.

Zwischen Mafia und Geheimdienst

Je höher der Aufstieg, desto grösser die Fallhöhe – das lässt sich für das Leben des Wagner-Anführers zweifellos sagen. Oder wie es der Russlandkorrespondent des «New Yorker» formulierte: «Ein Killer, der von anderen, mächtigeren Killern angeheuert wird, um Morde in grösserem Massstab zu begehen, wird schliesslich von diesen Killern umgebracht: eine Geschichte, in der sämtliche Rollen von Bösewichten gespielt werden.»

Nicht zufällig lässt sich der Moskauer Machtapparat am besten als Mischung aus Mafia und Geheimdienst beschreiben, hinzu kommen die Sicherheitskräfte. Dazu passt auch, dass Putin den Krieg gegen die Ukraine ganz nach Geheimdienstmanier noch immer «Spezialoperation» nennt. Einen Widersacher vom Himmel zu holen, erscheint da kaum sehr ungewöhnlich, schliesslich mussten in den letzten Jahrzehnten schon viele, die sich gegen den Herrscher wandten, ihr Leben lassen.

Doch wo es bisher überwiegend Regimegegner:innen getroffen hatte, nahm der Kreml zuletzt neben Prigoschin auch zwei weitere prominente Figuren aus der «Pro-Krieg-Opposition» ins Visier, also jene, die den Machthaber dafür kritisieren, den Krieg gegen die Ukraine nicht entschieden genug zu führen. Just am Tag des Flugzeugabsturzes etwa wurde die Absetzung von General Sergei Surowikin, dem Stellvertreter des Generalstabschefs, bekannt. Er galt laut Medienberichten als Prigoschin-nah und soll im Vorfeld von dessen Meuterei gewusst haben. Seit dem versuchten Aufstand Ende Juni war er aus der Öffentlichkeit verschwunden. Wo er sich jetzt aufhält: ebenfalls unbekannt.

Der zweite Rechtsabweichler, Ultranationalist und Exgeheimdienstler Igor Girkin, der schon in Moskaus Krieg im Donbas ab 2014 eine wichtige Rolle spielte, ist vor einigen Wochen in Ungnade gefallen: Er wurde für seine Kritik an Putin wegen «Extremismus» angeklagt – ein Vorwurf, der bisher meist liberalen Kritiker:innen galt – und sitzt derzeit im Gefängnis. Man kann getrost von einer Säuberung im Machtapparat sprechen.

Die Nachricht, die mit dem mutmasslichen Abschuss von Prigoschins Jet an die Moskauer Elite gesendet werden soll: Es kann jede:n treffen, immer und überall. Wer sich gegen das Regime stellt, verliert. Schaut man näher hin, lässt sich das allerdings auch als Zeichen der Schwäche auslegen, wie das auch viele russische Expert:innen tun.

Von der Stabilität einer Autokratie zeugt es nicht gerade, wenn man sich solcher Mittel bedienen muss. Stattdessen deutet der Umgang mit Prigoschin, Girkin und Surowikin auf ernste Risse im System hin – Rivalitäten, die sich nur noch mit Gewalt kontrollieren lassen. Es wird in Zukunft noch viel mehr brauchen, diese zu übertünchen.

Gewalt als soziale Norm

Eines dürfte den Mitgliedern der Elite nun schlagartig klar geworden sein: Auf das Wort des russischen Machthabers ist kein Verlass. Nach Prigoschins gescheiterter Meuterei hatte Putin zwar von «Verrat» gesprochen, den Meuterern allerdings Straffreiheit und den Rückzug nach Belarus gewährt. Später traf er sich sogar mit dem Wagner-Chef, zelebrierte öffentlich die Versöhnung mit dem in Ungnade Gefallenen. Geholfen hat das Prigoschin nicht.

Innerhalb einer mafiösen Struktur, deren Mitglieder auch durch den Besitz von potenziell kompromittierendem Material aneinandergebunden sind, ist ein solcher Wortbruch – und die Erkenntnis, die daraus folgt – fatal. Denn wie in den letzten Tagen verschiedene Kommentator:innen bemerkt haben, dürfte der Moskauer Machtapparat, dessen wichtigstes Ziel es ist, das eigene Überleben zu sichern, spätestens jetzt auch über eine Zukunft ohne den jetzigen Herrscher nachdenken. «Unabhängig davon, wie konservativ und falkenartig die Eliten werden, bleiben sie doch pragmatischer als Putin», schreibt etwa die Analystin Tatjana Stanowaja in der Zeitschrift «Foreign Affairs». Auch wenn es bloss eine Mutmassung bleibt: Ein Regime, dessen einzige soziale Norm rohe Gewalt ist, kann sich schnell selbst zerlegen.

Das Ableben von Jewgeni Prigoschin und die Zukunft seiner Privatarmee sind diesen Sonntag auch Thema im «Hörkombinat». Zu Gast: WOZ-Redaktorin Anna Jikhareva.