Literatur: Vom schwersten aller Anfänge

Nr. 37 –

Autor:innen altern, wann aber sollen sie mit Schreiben aufhören? Darüber denkt die Schriftstellerin Isolde Schaad in ihrem neuen Erzählband nach.

Portraitfoto von Isolde Schaad
«Die Trägheit ist die Mutter des Aufhörens, selten die Einsicht»: Isolde Schaad. Foto: Ayşe Yavaş

Nicht mehr zu schreiben, davon kann bei der aufs 80. Lebensjahr zugehenden Isolde Schaad keine Rede sein. Künstler:innen beziehen zwar AHV, kennen aber keine Pensionierung. Jede und jeder muss selbst entscheiden, eventuell das Schreiben oder zumindest das Publizieren einzustellen.

In «Das Schweigen der Agenda. Geschichten vom Innehalten und Aufhören», dem neuen Buch der in Zürich lebenden Schaffhauserin, geht es ums Innehalten, wie der Untertitel treffend sagt. Den aus unterschiedlichsten Perspektiven erzählten sechs Variationen zum Thema hat die stets süffig formulierende Autorin einen mit «Leitmotiv» überschriebenen kurzen Essay vorangestellt.

Das Recht auf Widerworte

Aufhören sei «der schwerste Anfang», konstatiert Schaad darin – egal ob es darum gehe, die Haare zu färben, High Heels zu tragen, Reisen zu planen oder abnehmen zu wollen. «Es ist längst zu spät», stellt sie trocken fest, um sogleich zu widersprechen und auf das Recht auf Widerworte, etwa gegen «haarsträubende Ansichten» von Nachbar:innen oder Gästen, zu pochen.

Aufhören, sich zu wehren, wäre ein «Akt der Feigheit», die Preisgabe der «Tapferkeit vor dem Freund», meint Schaad mit Rückgriff auf Ingeborg Bachmanns berühmtes Diktum. Dass «das Ende schwieriger als der Anfang» ist, zeigt sie an Beispielen wie Ludwig van Beethoven, Marcel Proust oder Robert Musil und mokiert sich über unentwegt auf den Bühnen herumhüpfende gealterte Rockstars. Gerne wüsste sie, ob Max Frischs früher, selbstkritischer Publikationsverzicht sein Leben angenehmer gemacht hatte. «Die Trägheit ist die Mutter des Aufhörens, selten die Einsicht», steht als etwas ratlose Konklusion am Ende ihrer streitlustigen Enquête, wobei Schaad fast bitter schliesst: «Die Erkenntnis, dass das Thema Aufhören linear und entsprechend brutal zum Thema Entsorgung führt, blieb spürbar, doch unausgesprochen. Sie war keine Linderung des Unabänderlichen, das dahinter steht. Das Endgültige.»

Diesem Auftakt folgen sechs Geschichten von jeweils zehn bis vierzig Seiten, die den Faden vom «Zu-Ende-Gehen» lose weiterspinnen. «Denn erstens kommt es anders und zweitens, als man denkt», könnte das Motto für die von unerschrockener Beobachtung und kühner Anverwandlung gespeisten Texte lauten. Sie handeln von einer als Sozialdetektivin auf Abwege geratenden Studentin, von trügerischen Erinnerungen an eine früh verstorbene Freundin oder von einer «#MeToo-ad-hoc-Gruppe», die sich für die Rehabilitierung der Künstlerin Sophie Taeuber Arp einsetzen will.

In der wohl gelungensten Geschichte, «Der Tag danach», eignet sich die Verfasserin den angejahrten US-Starautor Philip Roth am ersten Tag nach dessen selbsterklärtem definitivem Schreibverzicht an: «Er kneift sich in den Hintern. Alter, heute beginnt das Goldene Zeitalter, ohne die Mühsal, ein Schriftsteller zu sein, bloss weil man nichts anderes tun mag und die Welt einen dann ein Leben lang als Schriftsteller behauptet, sodass man lebenslänglich dieser Schriftstellerdarstellung hinterherhusten muss. Schluss damit.» Über zehn Seiten hinweg, die es in sich haben, entwirft Schaad ein Porträt des Grossschriftstellers, das sie aus genauer Kenntnis von dessen Leben und Werk sowie des aktuellen Literaturbetriebs entwickelt: frech und pointenreich, stilistisch elegant der sarkastisch-satirischen Verve des Porträtierten entlanggeschrieben.

Die längste, titelgebende Erzählung, «Das Schweigen der Agenda», thematisiert das Schwinden von Gewissheiten und das Wachsen von Zweifeln am Beispiel der 45-jährigen Industriedesignerin Paula: 1989, siebzehn Jahre nach dem grausamen Krebstod ihrer Mutter, stöbert sie Agenden und Fotos der Verstorbenen auf. Dabei stösst sie – nicht überraschend – auf Familiengeheimnisse. Schaad erzählt halb dokumentarisch (Paula teilt das Geburtsjahr mit der Verfasserin), halb fabulierend, wie sich die Tochter in Nachforschungen verstrickt, ohne verlässliche Ergebnisse. Und zeigt dabei auf, wie wenig wir von unseren Nächsten wirklich wissen. Am Ende ihrer Tage bleibt die zuvor akribisch geführte Agenda der Mutter leer. «Eine Agenda, die aufhört, eine leere Agenda, was bedeutet sie? Glück schreibt nicht, denkt Paula. (…) Kann ein todkranker Mensch glücklich sein? Jein.»

Dieses «Jein» ist gleichsam die Kürzestzusammenfassung von Isolde Schaads literarischer Beschwörung vom Enden und Aufhören.

Das Lachen und die Wut

Zwischen die Geschichten hat die Autorin fünf knappe Etüden gestellt, die nochmals deutlich machen, dass ihre Stärke in der kurzen und satirischen Form liegt: Angeblich dem «Grossen Duden, neudeutscheste Fassung» entnommen, entwirft Schaad vergnüglich zu lesende, karikierende Definitionsentwürfe zu «Frau», «Mann», «Kind», «Hund» oder ­«Hypermama».

Das Lachen sei etwas ganz Wichtiges in ihrem Leben, aber auch die Wut, sagte Schaad vor neun Jahren in einem Porträt in dieser Zeitung. Die studierte Kunsthistorikerin hatte eigentlich Karikaturistin werden wollen. Ihr beissender Humor zeichnet denn auch seit Jahrzehnten ihr Schreiben aus, wie nun auch «Das Schweigen der Agenda».

Buchpremiere im Literaturhaus Zürich am Donnerstag, 14. September 2023, um 19.30 Uhr.

Buchcover von «Das Schweigen der Agenda. Geschichten vom Innehalten und Aufhören»
Isolde Schaad: «Das Schweigen der Agenda. Geschichten vom Innehalten und Aufhören». Limmat Verlag. Zürich 2023. 155 Seiten. 32 Franken.