Recht auf Abtreibung: Die «grüne Welle» erreicht Mexiko
Der Oberste Gerichtshof in Mexiko hat entschieden, dass Abtreibungen nicht mehr bestraft werden dürfen. Das ist ein grosser Schritt für die feministische Bewegung.
Tausende Menschen haben letzte Woche in Mexiko die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs gefeiert, Freiheitsstrafen für Abtreibungen als verfassungswidrig zu erklären. Die entsprechende Rechtsordnung im Bundesstrafgesetzbuch «verletzt die Menschenrechte von Frauen und gebärfähigen Personen», entschied das Gericht.
«Die grüne Welle wächst in Lateinamerika», schrieben feministische Organisationen daraufhin in den sozialen Netzwerken. «Grüne Welle» bezieht sich auf das grüne Halstuch, das, ausgehend von Argentinien, zum Symbol für den Kampf für legale Abtreibung in ganz Lateinamerika geworden ist. Mexiko folgt mit der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Ländern wie Argentinien, Kolumbien und Uruguay, die in den vergangenen Jahren Schwangerschaftsabbrüche entkriminalisiert haben.
Noch 200 Personen im Gefängnis
In Mexiko waren Schwangerschaftsabbrüche bisher in 11 von 32 Bundesstaaten straffrei. 2021 kam es zu einem Präzedenzfall: Der Oberste Gerichtshof erklärte die Kriminalisierung von Abtreibungen im Bundesstaat Coahuila für verfassungswidrig. Anwältinnen der feministischen Organisation Gire (Grupo de Información en Reproducción Elegida) setzten sich anschliessend dafür ein, dass Schwangerschaftsabbrüche in allen mexikanischen Staaten straffrei werden sollten, am Ende mit Erfolg.
Mit der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 6. September ist das Parlament dazu verpflichtet, mit Abtreibungen verbundene Delikte aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Alle Bundesstaaten müssen die Entscheidung umsetzen. Keine Frau oder gebärende Person in Mexiko darf mehr angezeigt oder verurteilt werden, weil sie einen Schwangerschaftsabbruch vorgenommen hat. Vorher galten Haftstrafen von bis zu fünf Jahren. Auch Ärzt:innen und Angestellte in Gesundheitseinrichtungen, die die Eingriffe vornehmen, sind von Haftstrafen befreit. Alle öffentlichen Gesundheitseinrichtungen sind jetzt dazu verpflichtet, Abtreibungen vorzunehmen.
Derzeit wegen bis anhin illegaler Abtreibungen inhaftierte Frauen müssen freigelassen werden, eigentlich schon seit der Entscheidung von 2021. Feministische Organisationen schätzen, dass sich ungefähr 200 Personen noch wegen Straftaten in Verbindung mit Abtreibungen im Gefängnis befinden.
Offen ist derzeit, wie sehr der Gerichtsentscheid insbesondere in den konservativen Bundesstaaten umgesetzt werden kann. Auch dort, wo Abtreibungen schon erlaubt sind, lehnen es manche Ärzt:innen aus moralischen oder religiösen Gründen ab, den Eingriff vorzunehmen. Ausserdem kann der Gerichtsentscheid die soziale Stigmatisierung gegenüber Schwangerschaftsabbrüchen und die gesellschaftliche Bestrafung von Menschen, die an Abtreibungen beteiligt sind, nicht beenden.
Vorbild Argentinien
Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs ist ein wichtiger Schritt im Kampf für reproduktive Rechte in Mexiko, und es ist ein Erfolg der feministischen Bewegung, die in den vergangenen Jahren immer stärker geworden ist. Als Vorbild vorangegangen waren Argentinien und Kolumbien. In Argentinien hatte der Senat im Dezember 2020 nach einem jahrzehntelangen Kampf entschieden, die Bestrafung von Schwangerschaftsabbrüchen zu beenden. Gefolgt war im Februar 2022 Kolumbien mit einer Entscheidung des Verfassungsgerichts.
Allerdings gibt es auch gegenläufige Tendenzen: So erstarken in ganz Lateinamerika konservative Gruppen, die die erkämpften Rechte rückgängig machen wollen. In Argentinien etwa erhielt der rechtslibertäre Präsidentschaftskandidat Javier Milei bei den Vorwahlen im August die meisten Stimmen. Er will das Recht auf Abtreibungen wieder abschaffen, falls er die Wahlen im Oktober gewinnt.
In Chile, wo Schwangerschaftsabbrüche nur in drei Fällen erlaubt sind – nach einer Vergewaltigung, bei Lebensgefahr der Mutter und bei einer Schädigung des Fötus –, verfügt die rechte Republikanische Partei über eine Mehrheit im Verfassungsrat. Ihre Mitglieder wollen das Verbot von Abtreibungen in der neuen Verfassung verankern, die sie derzeit ausarbeiten. In El Salvador, Nicaragua, Honduras und der Dominikanischen Republik sind Abtreibungen grundsätzlich verboten und werden mit Freiheitsstrafen geahndet.