Zum 8. März: Wann, wenn nicht jetzt?

Nr. 10 –

Die weltpolitische Lage ist düster. Umso wichtiger also, die Hoffnung nicht zu verlieren: Feministinnen aus sechs Ländern erzählen, wofür sie kämpfen und woraus sie Kraft schöpfen.

Illustration von Christina Baeriswyl: eine Hand hält ein Weltkugel
Illustration: Christina Baeriswyl
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Portraitfoto von Renee Bracey Sherman

Renee Bracey Sherman: Versteckter Widerstand

Die feministische Bewegung in den USA ist vielfältig: Es gibt Kämpfe für Lohngerechtigkeit und bessere Schwangerschaftsbetreuung, Kämpfe gegen häusliche Gewalt und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Zentraler Bestandteil in der Bewegung für körperliche Selbstbestimmung ist das Recht auf Abtreibung.

In vielen republikanisch regierten Bundesstaaten existiert heute ein vollständiges Abtreibungsverbot. Wer auf einen Schwangerschaftsabbruch angewiesen ist, muss in einen anderen Staat reisen, was mindestens 500 Dollar kostet. Oder die Person kommt an Abtreibungspillen heran, was zum Glück immer häufiger passiert – mehr als sechzig Prozent aller Abtreibungen werden mittlerweile mit Medikamenten vorgenommen. Aber auch das ist teuer und in vielen Fällen nicht legal.

Unser ganzes Gesundheitssystem ist problematisch, weil Profite im Vordergrund stehen und die Krankenversicherung oft vom Arbeitsverhältnis abhängig ist. Das ist schon seit Jahrzehnten so. Doch seit der Oberste Gerichtshof 2022 das landesweite Abtreibungsrecht gekippt hat, ist die Lage noch ernster. Hilfe zum Schwangerschaftsabbruch wird stärker kriminalisiert, betroffen sind Eltern, Ärzt:innen und freiwillige Helfer:innen. Seit Donald Trump im Januar wieder ins Weisse Haus eingezogen ist, hat seine Regierung weitere Restriktionen eingeführt. So kürzte sie etwa Mittel für die Gesundheitsversorgung. Über bestimmte Dinge darf man nun nicht einmal mehr sprechen, etwa über den Rassismus im Gesundheitssystem. Es ist erschütternd, wie viele Organisationen sich dem einfach fügen.

Der Widerstand äussert sich dieses Mal anders als während Trumps erster Amtszeit. Damals gab es breite Proteste, über die dann auch gross berichtet wurde. Mittlerweile läuft die Arbeit versteckter. So werden etwa Abtreibungspillen unauffällig per Post verschickt. Und «abortion funds» spielen eine grosse Rolle: Sie sammeln Spenden, um Schwangeren notwendige Reisen und medizinische Behandlungen zu ermöglichen. Hier sind die unabhängigen Kliniken enorm wichtig. Sie sind oft der letzte Ort, den Betroffene aufsuchen können. Aber natürlich sind bei all diesen Organisationen die Kapazitäten begrenzt, das Geld ist irgendwann aufgebraucht.

Ich bin froh, dass viele demokratisch regierte Bundesstaaten den Kampf aufgenommen haben, indem sie zum Beispiel «shield laws», also Schutzgesetze erlassen haben. Ärzt:innen wird so ausdrücklich versichert, dass sie Schwangere behandeln dürfen, die aus Bundesstaaten kommen, in denen Abtreibungen illegal sind. Beeindruckend ist zudem, dass es Aktivist:innen in einigen Bundesstaaten gelungen ist, Volksabstimmungen auf die Beine zu stellen. So wurde das Abtreibungsrecht zumindest teilweise zurückerkämpft. Solche Erfolge sind enorm wichtig.

Aufgezeichnet von Lukas Hermsmeier

Renee Bracey Sherman (39) lebt in Washington D. C. und ist seit vielen Jahren Abtreibungsaktivistin. 2016 gründete sie die Initiative We Testify, um Schwangerschaftsabbrüche zu enttabuisieren. 2024 erschien ihr Buch «Liberating Abortion». 

 

Portraitfoto von Rosebell Kagumire

Rosebell Kagumire: Sich vernetzen und sich verbünden!

Schon als Kind in Uganda war mir bewusst, dass ich in eine sehr ungleiche Welt hineingeboren worden war. Später war ich als junge Journalistin stets auf der Suche nach Stimmen marginalisierter Menschen – in der Politik oder auch in Kriegen und Konflikten. Und ich fing an, über feministische Themen zu schreiben, unsere Geschichte und unsere aktuellen Probleme zu verstehen. Und zu überlegen, was zu tun ist.

Wir Frauen bilden in Afrika nur eine der Kategorien politisch, sozial und familiär benachteiligter Menschen. Weitere sind queere Afrikaner:innen oder auch religiöse oder ethnische Minderheiten. Wir alle leiden gemeinsam an den sich überschneidenden Auswirkungen des Patriarchats, des Kapitalismus und den Nachwirkungen des Kolonialismus. Ich glaube deshalb, dass sich afrikanische Feministinnen um das Problem der Ungleichheit auf der Welt im Allgemeinen kümmern müssen. Das ist sehr wichtig zu verstehen: Unsere Erfahrungen sind in der Geschichte der Unterwerfung, der Sklaverei, der Kolonisierung und des Neokolonialismus verwurzelt.

Das grösste Problem für uns Frauen in Afrika ist die Tatsache, dass wir sozial an den Rand gedrängt werden – angefangen in der Familie, etwa in Bezug auf Landrechte und Bildung. Überhaupt die Schule besuchen zu dürfen, stellt noch immer eine sehr grosse Hürde dar. Dasselbe gilt für die Gesundheitsversorgung. Wir haben auch heute noch eine hohe Müttersterblichkeit in Afrika, und die HIV-Rate steigt unter heranwachsenden Mädchen wieder an. Ausserdem sind wir viel zu oft Gewalt ausgesetzt: Von Kenia über Kamerun bis Südafrika kämpfen wir gegen enorm hohe Femizidraten. Das hat eindeutig auch mit der Veränderung der Geschlechterrollen zu tun. Dass sich die Frauen emanzipieren, erzeugt eine Menge Spannungen. Aktuell sind wir überdies mit der abrupten Kürzung internationaler Hilfsgelder konfrontiert, etwa in den Bereichen Ernährungssicherheit und Gesundheit. Das wird ganz direkt Frauen und Mädchen treffen.

Menschen in wohlhabenden Ländern müssten sich der Frage stellen: Was hat die Armut Afrikas mit vergangenen Verbrechen, kolonialer Enteignung sowie der anhaltenden Plünderung unserer Ressourcen zu tun? Dass afrikanische Frauen heute mehr denn je Opfer von Kriegen werden – vom Kongo über den Sudan und Moçambique bis hin zur Sahelzone –, ist auch Folge einer zunehmenden globalen Militarisierung. Es gibt in Afrika so viele vertriebene Frauen und Mädchen, die morgens nicht wissen, wie sie den Tag überleben sollen.

Darauf gibt es keine einfachen Antworten. So müssen wir mehr in sichere Räume investieren, in denen wir über Lösungen reden können. Wir Afrikanerinnen befinden uns an einem Punkt, der mehr denn je von uns abverlangt; umso wichtiger ist es, dass wir uns vernetzen und zusammentun. Dafür kämpfe ich mit unserer Onlineplattform, auf der Feministinnen aus allen Ländern des Kontinents zu Wort kommen. Als Einzelkämpfer:innen stossen wir oft an unsere Grenzen, sind mental erschöpft. Deshalb müssen wir uns mehr denn je umeinander kümmern.

Aufgezeichnet von Simone Schlindwein

Rosebell Kagumire (41) ist in Uganda aufgewachsen und hat als Journalistin für diverse regionale und internationale Medien gearbeitet. Als Aktivistin betätigt sie sich als Campaignerin und Onlinestrategin und leitet die panafrikanische Onlineplattform AfricanFeminism.com. Aktuell lebt sie im Senegal.

 

Portaitfoto von Büşra Sünetci

Büşra Sünetci: Schutz und Unabhängigkeit!

Jeden Tag leisten Frauen in der Türkei Widerstand gegen die bestehenden Ungerechtigkeiten. Sie verteidigen ihre Rechte mit der Kraft der feministischen Bewegung – mit juristischen Mitteln, auf der Strasse, am Arbeitsplatz, auf Social Media. Und dank Frauenorganisationen, Frauenhäusern, Beratungsstellen und Solidaritätsnetzwerken spüren wir alle: Wir sind nicht allein.

Zu kämpfen haben wir in der Türkei insbesondere mit Gewalt, Ungleichbehandlungen in Gerichtsverfahren, geschlechterspezifischer Diskriminierung in der Arbeitswelt und mangelnder wirtschaftlicher Unabhängigkeit.

Geht es um Gewalt gegen Frauen, wenden die offiziellen Institutionen keine wirksamen Mechanismen zu ihrem Schutz an. Oft werden die Betroffenen von der Polizei gar nicht ernst genommen; Ermittlungen gegen mutmassliche Täter werden verzögert, einstweilige Verfügungen nicht ordnungsgemäss umgesetzt. Es gibt Strafverfolgungsbeamte, die Frauen dazu raten, ihre Anzeigen zurückzuziehen, oder sie unter Druck setzen mit Sprüchen wie «Denken Sie an Ihre Familie». Die Zahl der Frauenhäuser liegt in der Türkei zudem weit unter dem Bedarf, und die bestehenden Einrichtungen sind unzureichend ausgestattet.

Am häufigsten klagen Frauen bei unserer Beratungsstelle darüber, dass sie in rechtlichen Verfahren alleingelassen würden. Viele kämpfen hart für ihr Recht auf Unterhalt oder auch um ein faires Verfahren in Fällen häuslicher Gewalt. Gerade im Bereich sexueller Übergriffe werden Täter durch die gängige Rechtsprechung ermutigt, etwa wenn Gerichte von «ungerechtfertigten Provokationen» vonseiten des Opfers sprechen. Dass die türkische Regierung 2021 aus der Istanbul-Konvention, der Übereinkunft des Europarats gegen Gewalt gegen Frauen, austrat, hat unser Vertrauen ins Justizsystem zusätzlich erschüttert.

Auch am Arbeitsplatz sind Frauen nach wie vor sexistischem Verhalten ausgesetzt. Geht es um Beförderungen, haben sie es schwerer als ihre männlichen Mitarbeiter. Entlassungen wegen Schwangerschaft sind üblich. Die Lohnungleichheit hält sich zäh. Hinzu kommt ein Mangel an Kinderbetreuungseinrichtungen, was es vielen Müttern erschwert, erwerbstätig zu bleiben.

Den 8. März erachte ich nicht nur als einen Tag des Feierns, sondern vor allem auch als einen Tag des Kämpfens. Ich werde in Ankara am feministischen Nachtmarsch sowie an verschiedenen Workshops und Diskussionsrunden teilnehmen. Schliesslich müssen wir die Aufklärung über die Gleichstellung der Geschlechter in allen Belangen fördern.

Fürs Erste brauchen wir stärkere rechtliche, ökonomische und auch psychologische Unterstützung. Das heisst: mehr Frauenhäuser und bessere Anstellungsmöglichkeiten – damit Frauen Schutz finden, wenn sie bedroht werden. Und damit sie wirtschaftliche Unabhängigkeit erlangen können.

Aufgezeichnet von Çiğdem Akyol

Die Sozialarbeiterin Büşra Sünetci lebt in Ankara. Sie ist Mitarbeiterin der türkischen Frauenrechtsorganisation Kadın Dayanışma Vakfı (Stiftung für Frauensolidarität).

 

Portraitfoto von Lucía Cavallero

Lucía Cavallero: Der Wandel ist unaufhaltbar

Die feministische Bewegung in Argentinien hat in den vergangenen Jahren einen gesellschaftlichen Wandel angestossen. Sie hat die Menschen für geschlechtsspezifische Gewalt sensibilisiert, aber auch ganz grundlegend die Art und Weise verändert, wie Beziehungen am Arbeitsplatz, im privaten Bereich oder an den Universitäten verstanden werden. Sie hat auf die Verbindung zwischen wirtschaftlicher und geschlechtsspezifischer Gewalt aufmerksam gemacht. Und sie hat auf institutioneller Ebene viel erreicht, etwa die Legalisierung von Abtreibungen und die Schaffung des Ministeriums für Frauen, Geschlecht und Diversität.

Ebendieses Ministerium wurde vergangenes Jahr unter Präsident Javier Milei abgeschafft. Derzeit erleben wir einen starken Angriff auf den Feminismus und eine Politik des Hasses gegen die LGBTIQ*-Gemeinschaft. Mileis Regierung hat bereits politische Massnahmen zur Prävention geschlechtsspezifischer Gewalt abgeschafft und droht, weitere von unserer Bewegung erkämpfte Gesetze aufzuheben, etwa die Aufnahme des Femizids ins Strafgesetzbuch, den Zugang zu sexueller und reproduktiver Gesundheitsversorgung und zu einer umfassenden sexuellen Aufklärung.

Gleichzeitig trifft die argentinische Wirtschaftskrise Frauen am härtesten, weil sie häufig informell beschäftigt sind. Haushalte alleinerziehender Frauen verzeichnen die höchste Verschuldung und die höchsten Armutsquoten, ausserdem ist die Armut auch landesweit gestiegen: Sechs von zehn Kindern in Argentinien sind heute davon betroffen.

Die Regierung nutzt den Staat, den sie angeblich so sehr hasst, zur Förderung von Hass, zur Legitimierung von Gewalt und dazu, Frauen zum Verstummen zu bringen. Nicht nur auf institutioneller, auch auf gesellschaftlicher Ebene findet eine Art Enthemmung statt; Gewalt gegen Frauen wird normalisiert. Aber ich glaube nicht, dass diese Strategie Erfolg haben wird: Die Veränderungen, die unsere Bewegung in der Vergangenheit bereits bewirkt hat, sind unumkehrbar.

Wir Feminist:innen haben ein breites Repertoire an Widerstandsstrategien und organisieren uns auf vielfältige Weise. Neben Protesten und Demonstrationen wie derjenigen zum 8. März gehören dazu etwa Versammlungen an Universitäten, in Schulen und am Arbeitsplatz. Unsere Aktivist:innen verfolgen unterschiedliche Strategien – von der Begleitung in Situationen geschlechtsspezifischer Gewalt bis hin zu sexueller Aufklärung an den Schulen. Ärzt:innen setzen sich in Spitälern für den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen ein. Feministische Gewerkschafter:innen kämpfen für gerechte Arbeitsbedingungen. Initiativen wie diese, die gleichzeitig an verschiedenen Orten ansetzen, machen die Bewegung stark.

Ich hoffe, dass die Demonstration zum 8. März riesig und bunt wird. Wir wollen zeigen, dass die feministische Bewegung eine zentrale Rolle im Widerstand gegen Mileis Politik spielt, und Alternativen zur Gewalt und Grausamkeit der extremen Rechten aufzeigen.

Aufgezeichnet von Sophia Boddenberg

Lucía Cavallero (39) ist Soziologin und engagiert sich seit acht Jahren im Kollektiv Ni Una Menos in Argentinien. Als Aktivistin konzentriert sie sich insbesondere auf die Verbindung der Kämpfe gegen geschlechtsspezifische und wirtschaftliche Gewalt.

 

Portraitfoto von Zoélie Charpentier

Zoélie Charpentier: Gewerkschaft und Gisèle

Der Ort, an dem wir die meiste Zeit verbringen, ist unser Arbeitsplatz. Deswegen ist er für mich der beste Ort für mein feministisches Engagement. In meinem Unternehmen mit Sitz in Rennes arbeite ich als Sicherheitsbeauftragte im Betriebsrat. Seit zwei Jahren bin ich zudem für eine der zwei grossen französischen Gewerkschaften, die CGT, im Departement Ille-et-Vilaine aktiv. Mein Studium im Bereich Telekommunikation war sehr männerdominiert, und ich war schnell mit Vorurteilen gegenüber Frauen konfrontiert. In der Arbeitswelt hat sich das zwar ein wenig verbessert, aber die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen war immer ein Thema. Zuallererst, was die Bezahlung angeht: Wir haben in einer Erhebung festgestellt, dass schon bei der Anstellung ein Unterschied von fünf Prozent zuungunsten der Frauen besteht. Bei den über Fünfzigjährigen liegt der Lohnunterschied bei zwanzig Prozent. Das ist gewaltig und beweist, dass die Ungleichheit im Laufe der Karriere noch zunimmt.

Aber es gibt in der Arbeitswelt noch andere feministische Themen. Ganz vorne rangiert die sexualisierte Gewalt gegen Frauen. Hier arbeiten wir daran, konkrete Lösungen wie etwa anonymisierte Beschwerdestellen einzurichten. Wir wollen Frauen die Angst nehmen, ihre Karriere zu gefährden, wenn sie Belästigungen melden. Alles, wofür ich mich in der Arbeitswelt engagiere, betrachte ich immer aus feministischer Perspektive, auch wenn dieses Engagement kompliziert und langwierig ist. Die Gewerkschaften sind gerade dabei, sich zu modernisieren. Ich würde jungen Leuten immer sagen, dass man dort ganz tolle Begegnungen machen kann und einen Platz findet. Dass in den Gewerkschaften demokratische Strukturen herrschen und man an ganz vielen konkreten Vorschlägen mitarbeiten kann.

In Frankreich gibt es mittlerweile eine junge Generation von Feminist:innen, die besonders in den sozialen Netzwerken unterwegs sind: Frauen wie Capucine Coudrier oder der Verein Notre Ohrage, das sind echte Vorbilder für mich. Im letzten Jahr wurde das Recht auf Abtreibung in die Verfassung aufgenommen – damit haben wir weltweit etwas Einmaliges geschafft. Das war ein immenser Schritt. Jetzt geht es darum, die Strukturen auszubauen, damit jede Frau diese Möglichkeit problemlos wahrnehmen kann.

Aber auch wenn es viele messbare Fortschritte gibt, bereitet mir das Erstarken des Konservatismus und der extremen Rechten Sorge. Ich fürchte, wir müssen eher mit Rückschritten rechnen. Gerade deswegen muss der Kampf für mehr Gleichstellung fortgesetzt werden.

Wirklich aufgewühlt hat mich in den letzten Wochen der in seinen Details so unerträgliche Prozess gegen Dominique Pelicot und die anderen fünfzig Angeklagten. Gisèle Pelicot ist eine Heldin. Sie hat durch das öffentliche Gerichtsverfahren dafür gesorgt, dass die Scham die Seite wechselte. Das ist eine ermutigende Botschaft für alle, die Vergewaltigungen und sexualisierte Gewalt erfahren mussten: Ihr seid nicht allein!

Aufgezeichnet von Romy Strassenburg

Zoélie Charpentier (27) ist im Betriebsrat eines internationalen Unternehmens in Rennes tätig und kämpft als Gewerkschafterin gegen Ungleichheiten in der Arbeitswelt.

 

Portraitfoto von Mingyeong Lee

Mingyeong Lee: Männern den Rücken kehren

Für mich hat alles mit einem brutalen Mord begonnen: 2016 wurde in der Nähe einer U-Bahn-Station in Seoul eine junge Frau von einem Mann erstochen. Was für mich ein einschneidendes Ereignis war, wurde von vielen meiner männlichen Freunde verharmlost. Ich wollte darüber sprechen und den Vorfall als das benennen, was er war: als einen Femizid. Mit meinem ersten Buch, «Reclaim the Language», habe ich mich an Frauen gewandt, die dieselbe Sprachlosigkeit erfahren haben wie ich. Ich habe sie darin ermutigt, sich vom heteronormativen Diskurs zu lösen – und sich keinen Mann zu suchen.

Nach seinem Erscheinen 2016 wurde mein Buch zum Bestseller. Viele der späteren 4B-Feminist:innen haben es gelesen. 4B, das bedeutet: kein Sex, keine Beziehung, keine Ehe und keine Kinder mit Männern. Diesen Grundsätzen stimme ich voll und ganz zu.

Ich bin überzeugt, dass Frauen in jeder Hinsicht zusammenhalten müssen: sowohl sexuell als auch politisch und wirtschaftlich. Aus diesem Grund kämpfe ich dafür, dass Frauen sich vereinen. Für mich bedeutet die 4B-Bewegung Widerstand – vor allen Dingen Widerstand gegen die strukturelle Benachteiligung von Frauen im Patriarchat. Dabei geht es um die finanziellen, psychischen und physischen Ressourcen von uns Frauen – überall werden wir unterdrückt und ausgebeutet. Indem sie Männern den Rücken kehren, lösen sich die 4B-Aktivistinnen aus dieser Unterdrückung. Die Kategorie «Frau» ist konstruiert, und dass Frauen heiraten und Kinder kriegen sollen, ist eine gesellschaftliche Konvention und keineswegs natürlich.

Auch der feministische Buchverlag, den ich gegründet habe, basiert auf dem 4B-Prinzip: Hier arbeiten ausschliesslich Frauen, wir managen die Firma gemeinsam. Da gibt es schon auch Konflikte. Trotz der Herausforderungen ist es mir wichtig, ein wirtschaftliches System zwischen Frauen aufzubauen. Dank meiner Firma bin ich finanziell unabhängig und nicht auf staatliche Subventionen angewiesen – politische Entwicklungen beeinflussen mich daher weniger. Viele Feminist:innen protestieren nach wie vor täglich gegen den nach seinem Putschversuch im Dezember suspendierten Präsidenten Yoon Suk-yeol. Den 8. März werde ich im engen Kreis verbringen; mit meinen Student:innen, nahen Feminist:innen und Kolleg:innen – wir haben sonst schon genug Demonstrationen.

Die aktuelle innenpolitische Lage verunsichert viele Feminist:innen. Gleichzeitig ist auch die Zukunft der 4B-Bewegung ungewiss, was dazu führt, dass einige ihren Mut verloren haben oder ihre Überzeugungen aufgeben. Wir waren mal weit über 200 000 Frauen, die gemeinsam träumten. Für manche war das ein Tagtraum, der irgendwann endete, für andere aber war es eine irreversible Veränderung. Für mich kann dieser Traum die Realität verändern. Gerade heute brauchen wir eine solche Perspektive.

Aufgezeichnet von Nyima Sonam

Mingyeong Lee (32) ist Autorin. Sie verlegt und übersetzt feministische Bücher und ist seit Beginn in der 4B-Bewegung aktiv. Daneben setzt sie sich für das Recht auf Abtreibung ein und gründete ein Sprachinstitut, an dem Frauen gefördert werden. Sie lebt in Seoul.