Tourismus: An Dua Lipas Strand
Albanien erlebt einen Reiseboom, gleichzeitig wandern viele aus: Das kleine Land auf dem Balkan zählt bald dreimal so viel Feriengäste wie Einwohner:innen. Wie lange kann das gut gehen?
An der staubigen Hauptstrasse ist ein Rohr aufgebrochen. Mal zwei, dann wieder drei Einwohner des Dorfes beugen sich über das Loch im Boden und schauen zum Mann hinunter, der in der Grube hockt und die Leitungen zu reparieren versucht. Mehr passiert heute nicht in Akerni, diesem Dorf in Südalbanien mit gerade einmal 300 Einwohner:innen.
Die Mittagssonne brennt vom Himmel. Es ist Ende Juli und mit über vierzig Grad eine der heissesten Wochen seit langem. Ein paar Bewohner trinken Bier in einer schattigen Bar, aus der albanische Volksmusik schallt. Er beziehe eine Pension von hundert Franken im Monat, erzählt einer von ihnen. Zum Überleben reicht das nicht, also hält er noch Schafe und Kühe. Dann führt er in seinen Garten: überall Obstbäume, Truthähne gackern, Schafe blöken, der Hund treibt die Herde mit lautem Gebell durch ein Zaungatter.
Der kleine Mann mit den kräftigen Händen und dem blauen Poloshirt, der sich nur als Astrit vorstellt, lebt seit den siebziger Jahren in Akerni. Er hat sein Geld als Landwirt, als Polizist und als Wirtschaftsmigrant in Griechenland verdient. Heute stockt er seine mickrige Pension mit dem auf, was seine Tiere und der Garten hergeben.
Akerni liegt in einem rund 20 000 Hektaren grossen Flussdelta. Das Küstenfeuchtgebiet zieht Vögel aus ganz Europa an, darunter auch Pelikane und Flamingos. Wissenschaftler:innen bezeichnen es als eine der wichtigsten Raststätten für Zugvögel an der südlichen Adria. Jetzt wird hier, mitten im Naturschutzgebiet, ein Flughafen gebaut. Der Bauherr: Behgjet Pacolli, einer der reichsten Unternehmer auf dem Balkan, ein Kosovo-Albaner mit Schweizer Pass. Pacolli hat in Prishtina das Luxushotel Swiss Diamond eröffnet und war von 2017 bis 2020 Aussenminister der jungen Republik gewesen. Seine Baufirma Mabetex Group mit Sitz in Lugano hat Grossbauten auf der ganzen Welt errichtet und den Kreml in Moskau renoviert.
«Der Flughafen ist ein Glück für uns»
Während Naturschützer:innen seit Jahren Sturm gegen das Projekt laufen, können es viele Bewohner:innen nicht erwarten. «Ich bin froh, dass der Flughafen gebaut wird», sagt Astrit. «Er ist ein Glück für uns. Der ganze Süden wird davon profitieren.»
Damit das Projekt 2025 fertig wird, fahren im Minutentakt Lastwagen an Astrits Haus vorbei. Die Strasse ist nicht asphaltiert, viel Staub liegt in der Luft. Die Büsche am Strassenrand haben die Farbe gewechselt – von Grün zu Grau zu Weiss. In der Bar wischen die Männer mit ihren Zeigefingern über die staubige Oberfläche der Plastiktische, um zu verdeutlichen, wie dreckig es hier ist. «Wenn die Schafe den Staub essen, können sie sogar sterben», sagt Astrit. Trotzdem sind alle der festen Überzeugung, dass alles besser wird, wenn der Flughafen in Betrieb geht. «In Italien hat jede Stadt einen Flughafen, Albanien hat nur einen», sagt einer der Männer am Tisch.
Er hat recht. Was die Infrastruktur angeht, gehört Albanien zu den Schlusslichtern auf dem Balkan. Es gibt keine Eisenbahn und – insbesondere im gebirgigen Norden – schlechte Strassen und Probleme mit der Stromversorgung. Bis vor wenigen Jahren glich der Flughafen in Tirana einem Bahnhof. Es gab nur einen Gepäckscanner und keine Lesegeräte für die Tickets.
Stellenweise konnte das auch sehr praktisch sein; es reichte aus, eine halbe Stunde vor Abflug vor Ort zu sein. Diese Zeiten sind vorbei. Der Flughafen wurde stark vergrössert, Rolltreppen und Reisepassscanner mit Kameras wurden angeschafft, neue Terminals gebaut. Aber es wird eng. Der Flughafen in Tirana ist derzeit der einzige, der von Tourist:innen angesteuert wird. Der zweite, weitaus kleinere liegt in Kukës, einer abgelegenen Stadt in den Bergen. Er wird überwiegend von der Diaspora genutzt, die nach Grossbritannien ausgewandert ist.
Dreissig Prozent mehr in einem Jahr
In Albanien kann man gerade ein ambivalentes Phänomen beobachten. Immer mehr Einwohner:innen wandern aus, und immer mehr Fremde kommen. Genau das war jahrzehntelang verboten gewesen. Während der kommunistischen Diktatur (1944–1992) galt Albanien als das «Nordkorea Europas» und eines der isoliertesten Länder der Welt.
Heute, dreissig Jahre später, boomt der Tourismus. Immer mehr Menschen wollen ihre Ferien hier verbringen, wo jahrzehntelang niemand hindurfte. Der Geograf Dhimitër Doka von der Universität Tirana beobachtet dieses Phänomen seit Anfang der neunziger Jahre. Damals, erzählt er, gab es gerade einmal 26 Hotels in Albanien und circa 10 000 ausländische Besucher:innen. Der Tourismus verzeichnete einen Umsatz von acht Millionen Franken im Jahr. Zum Vergleich: Der Export von Heilkräutern brachte damals hundert Millionen Franken ein.
«Unsere Wirtschaftsstruktur hat sich in den letzten zwanzig Jahren komplett verändert», sagt Doka. «Der Tourismus ist zum wichtigsten Wirtschaftszweig aufgestiegen und bringt rund drei Milliarden Franken jährlich ein.» Albanien ist der neue Reisetrendsetter auf dem Balkan. Anders als Kroatien und Griechenland gilt das Land vielen als unentdeckt und aufregend. In Zeiten der Inflation ist es für viele aber vor allem eines: günstig. «Arm, aber sexy», titelte die deutsche «Zeit» unlängst.
Vergangenes Jahr stellte Albanien mit knapp acht Millionen Tourist:innen einen neuen Rekord auf. In diesem Jahr sollen es noch mehr werden. Von Januar bis Juli haben bereits über fünf Millionen Menschen Albanien besucht – ein Anstieg um dreissig Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Der Flughafen vor der Haustür des Schafhirten Astrit soll noch mehr Tourist:innen ins Land bringen. Und die Vögel im Schutzgebiet? «Hier gibt es keine Flamingos», winkt Astrit ab, «nur Möwen.» Auch Edi Rama, seit 2013 Albaniens Ministerpräsident, spielt die Bedeutung des Vogelreviers herunter, macht sich sogar über die Umweltschützer:innen lustig. Diese kritisieren wiederum, dass das Bauprojekt illegal sei und die Regierung bereits Land an Investoren verpachtet habe. Das Gebiet rund um Astrits Garten soll einer Ferienanlage weichen: Strände, Weinfelder, ein eigener Jachthafen. Im Entwicklungsplan ist von einem «einzigartigen» und «privaten» Resort die Rede. Als Beratungsfirma hat der Bauherr Pacolli die renommierte Munich Airport International GmbH angeheuert, eine Tochterfirma der Flughafen München GmbH. Astrit weiss nichts von diesem Millionenprojekt. Er sagt: «Wenn der Flughafen einmal da ist, kann ich grillierte Maiskolben an Touristen verkaufen.» Die auf einem Rost zubereiteten Snacks bringen fünfzig Rappen, im besten Fall einen Franken pro Stück ein.
Das Treffen mit dem Hirten Astrit steht am Anfang einer Reise an die albanische Riviera, einen 120 Kilometer langen Küstenstreifen zwischen Meer und Bergen. Wer an die Riviera will, muss den Llogara-Pass überwinden, eine kurvenreiche Strasse, die über den Gebirgskamm in südlicher Richtung der Küste entlang und hinunter zum Küstenörtchen Dhërmi führt. Derzeit wird ein Tunnel durch den Berg gebohrt, der die Strecke verkürzen soll. Das Ziel: Vom neuen Flughafen in Vlora soll man in weniger als einer Stunde an die schönsten Strände Albaniens gelangen. Um die Buchten an der Riviera mit dem azurblauen Wasser ist in den letzten Jahren ein Hype ausgebrochen. Kein Ort in Albanien wird von so vielen Menschen besucht wie die Riviera, und keiner verändert sich so rasend schnell. Hier wird derzeit eine Frage verhandelt, die in Zeiten der Klimakatastrophe immer wichtiger wird: Was ist für ein armes Land lukrativer, das schnelle Geld mit Hotelburgen und Immobilienspekulation oder der Schutz von Naturlandschaften?
Ein Fischer wartet auf Jachten
Albanien liegt an der Adria, heisst es oft. Aber dieser Satz ist nur halb wahr. Albanien liegt zur einen Hälfte an der Adria und zur anderen am Ionischen Meer. Vor Vlora, der drittgrössten Stadt des Landes, verläuft die unsichtbare Grenze. Genauer gesagt: zwischen der Insel Sazan und der Halbinsel Karaburun. Genau dorthin steuert Sherif Durmishaj (53) sein Motorboot. Es ist 8.30 Uhr morgens, und das Meer ist so glatt wie ein Badezimmerspiegel. Durmishaj fährt beständige vierzig Kilometer pro Stunde. Langsam genug, damit die Tourist:innen auf seinem Boot Selfies machen können, und schnell genug, dass eine sanfte Brise weht.
Der Fischer wird von allen nur Baçi genannt. «Ich bin mit dem Meer aufgewachsen», sagt er, und so sieht er auch aus: Kapitänsmütze, wettergegerbte Haut, Vollbart. An diesem Morgen fährt er eine kleine Gruppe Tourist:innen an einen Strand auf der Rückseite der Halbinsel. Karaburun, zu Deutsch «schwarzes Kap», ist ein rund sechzig Quadratkilometer grosser Arm, der ins Meer hinausragt. Das Land ist militärisches Sperrgebiet und dementsprechend unberührt und menschenleer.
Baçi hofft, dass das so bleibt. «Vlora hat ohnehin schon genug Hotels», sagt er. Den Flughafen weiter nördlich begrüsst er trotzdem. Und auch ein neues Projekt, das die albanische Regierung auf Plakaten im ganzen Land bewirbt: In Vlora soll der erste Jachthafen Albaniens entstehen. «Die Touristen können von New York oder Brüssel hierherfliegen und von Vlora aus ins Mittelmeer stechen, nach Kroatien, Italien, Korfu und bis nach Nordafrika», sagt Fischer Baçi.
In seiner Stimme schwingt auch Stolz mit. Albanien hatte lange unter einem Negativimage zu leiden. Noch bis vor kurzem brachten viele das Land vor allem mit Korruption und Drogenhandel in Verbindung.
Während der Diktatur errichteten die Kommunisten Zäune an der Grenze, die Flucht galt als schwerer Landesverrat und wurde mit zehn bis zwanzig Jahren Haft bestraft. Viele landeten im Straflager. Wer auf einem Boot nach Italien oder Korfu floh, riskierte, erschossen zu werden. In den neunziger Jahren wurde die Küste zur Drehscheibe für Waffen- und Menschenhandel. Als Albanien 1997 am Rand eines Bürgerkriegs stand, verdienten sich die Schlepper in Vlora eine goldene Nase. Angesichts dieser dunklen Geschichte muss man Baçi verstehen, wenn er sich auf die ersten Millionär:innen freut, die hier an Land gehen.
Strand der Kosovar:innen
Evi Gjikuria kann sich noch gut an die neunziger Jahre erinnern. Die ganze Küste sei voller Bunker gewesen, erzählt sie. Gleichzeitig war da viel wilde Natur: Bäume mit Orangen und Nüssen, kilometerweite leere Strände. «Wir hatten das Glück, dass mein Urgrossvater an der Küste Land besass und mein Grossvater, ein Bauunternehmer, dort Ende der Neunziger die ersten Bungalows errichtete», erinnert sich Gjikuria. Ursprünglich hatte er die Holzhütten nicht für die Feriensaison, sondern für den Krieg gebaut. Seine Firma hatte den Auftrag bekommen, vorübergehende Unterkünfte für Geflüchtete aus dem Kosovo zu bauen. Am Ende, erzählt seine Enkelin, habe ihm die Investmentbank aus Dank das übrig gebliebene Baumaterial geschenkt. Das sei der Anfang ihres Resorts gewesen.
Die 28-Jährige sitzt mit einer E-Zigarette auf der Terrasse des Restaurants im Resort. Im Garten wachsen Blumen und Olivenbäume, der Strand ist nur wenige Meter entfernt. Drymades liegt gleich neben dem Küstenstädtchen Dhërmi, das in den letzten Jahren von Tourist:innen überrannt wurde. Sogar Dua Lipa, die berühmte Popsängern, hat hier Urlaub gemacht. Dua Lipa ist im Kosovo aufgewachsen, Jahr für Jahr verbringt sie ihre Ferien in Albanien, wie so viele aus der kosovarischen Diaspora.
«Albanien ist das Meer der Kosovaren», sagt Ueli Landolt, ein Schweizer mit albanischem Pass, der seit dreizehn Jahren in Tirana lebt und einst selbst eine Pension führte. «Für die Diaspora in der Schweiz ist Albanien auch ihr Land. Hier können sie unkompliziert Ferien machen und ihre Verwandten an den Strand holen.» Aus keinem Land reisen so viele Menschen nach Albanien wie aus dem Kosovo. Im letzten Jahr waren es allein im August knapp eine Million. Aber nicht nur im Kosovo, auch in den umliegenden Balkanländern gibt es eine albanische Minderheit. Hunderttausende reisen zusätzlich aus Montenegro, Griechenland und Nordmazedonien an. Und aus der Schweiz? Immerhin leben hier rund eine Viertelmillion Albaner:innen. Dementsprechend überraschen die Zahlen. Laut den albanischen Behörden reisten im August 2022 gerade einmal 11 000 Personen aus der Schweiz nach Albanien. Deutlich mehr kamen aus Italien (158 700), Polen (58 300) und Deutschland (36 100).
Wie lassen sich dann die vielen Schweizer Kennzeichen erklären, die man in Albanien beobachten kann? «In der Schweiz kann man beide Pässe besitzen», erklärt Landolt, «und ich gehe davon aus, dass viele aus der Diaspora mit kosovarischem Pass einreisen. Sei es aus Stolz oder weil es schneller geht, weil die Pässe gemäss einem bilateralen Abkommen nicht kontrolliert werden.»
Aber nicht nur Familien aus der Diaspora, sondern auch Festivalgänger:innen, viele davon aus Grossbritannien, entdecken Albanien für sich. Seit 2018 findet in Dhërmi das Technofestival Kala statt. Dann sind im Bungalowresort von Evi Gjikuria alle Betten ausgebucht. «Alle Hotels zusammengerechnet haben mittlerweile eine Kapazität von 5000 bis 6000 Betten», sagt sie. Trotz des Hypes wirkt die Unternehmerin dieser Tage etwas geknickt oder zumindest nachdenklich. Denn das schnelle Wachstum wird von einem grundlegenden Problem überschattet: Es gibt viel zu wenig Personal.
Kellner auf der Flucht
«Alle gehen weg», klagt Gjikuria. «Manche meiner Mitarbeiter haben ihr gesamtes Gehalt in Schlepper investiert. Sie sind im August, also mitten in der Saison, abgehauen, weil das Wetter im September zu stürmisch ist.» Die Route verläuft von Frankreich über den Ärmelkanal nach Grossbritannien. Bis zu 20 000 Franken verlangen die Schlepper dafür. Während britische Festivalbesucher:innen mit der Billigfluglinie Wizz Air nach Tirana fliegen, flüchten Albaner:innen, viele davon junge Männer, nach Grossbritannien.
Gjikuria macht das traurig. «Dass mein Vater damals auf ein Boot gesprungen ist, verstehe ich ja», sagt sie. «Aber im Jahr 2023? In meiner Generation?» In ihrem Resort bekommt das Bild vom traumhaften Albanien Risse. Die Lebenshaltungskosten an der Riviera sind für viele Einheimische nicht mehr bezahlbar. Zudem ist der Sozialstaat schwach, das Gesundheitssystem kommt schnell an seine Grenzen. Viele kritisieren, dass nicht Qualifikation, sondern gute Beziehungen entschieden, ob man einen Job erhalte. Die Folge: Junge Menschen wandern nach Westeuropa aus. Insbesondere Deutschland steht hoch im Kurs. Die Besitzerin eines Restaurants in der Stadt Saranda erzählt: «Seit 23 Jahren hatte ich nicht solche Probleme, Angestellte zu finden. Ich würde mittlerweile wirklich jeden nehmen.» Von ihrem Restaurant kann man zur griechischen Insel Korfu hinüberblicken. Die Europäische Union ist nur eine kurze Bootsfahrt entfernt.
Während an den Scheiben der Bäckereien und Restaurants Zettel mit «Wir suchen Kellner» angebracht sind, machen immer mehr Maklerbüros in Saranda auf. Der Immobilienmarkt boomt. Immer mehr Ausländer:innen aus Westeuropa, Skandinavien und Italien kaufen Ferienwohnungen, weil die Preise im Vergleich zu ihren Herkunftsländern erschwinglich sind. Sie sind auch eine Wertanlage. «Wir müssen aufpassen, dass wir unser Land nicht für wenig Geld an ausländische Investoren verkaufen», sagt Dhimitër Doka, der Geograf und Tourismusexperte von der Universität Tirana. Schon jetzt gleiche Saranda im Winter einer Geisterstadt.
Rambazamba in Ksamil
Ksamil ist dieser Tage das exakte Gegenteil einer Geisterstadt. Der Badeort im äussersten Süden Albaniens platzt aus allen Nähten. Kein Ort im Land wird von den Influencer:innen auf Tiktok und Instagram so schillernd als paradiesisch beworben.
Im Beachclub dröhnt die Musik. Der DJ am Pool spielt «Single Ladies», «Macarena» und Remixes von David Guetta, während Serdi Fejzullai, der Besitzer des Clubs, nach einem passenden Tisch auf der Dachterrasse sucht. «Manche beschweren sich über die Musik», brüllt er, «aber dann sollen sie halt zu den Nachbarn gehen.» Der Geschäftsmann ist 33 Jahre alt und trägt eine Rolex-Uhr und Birkenstock-Sandalen.
Als er 23 war, bewarb er sich für die Green-Card-Lotterie: Wer in die USA emigrieren will, kann sich Jahr für Jahr anmelden und wird nach dem Losprinzip ausgewählt. Fejzullai hatte Glück, er lebt heute mit seiner Frau und den kleinen Kindern in New York. Die Sommersaison verbringt er in Ksamil, dann arbeite er von acht Uhr morgens bis zwei Uhr in der Nacht, wie er sagt. «Letztes Wochenende waren wir voll», schreit Fejzullai gegen die Musik an. Dass er an der Küste einmal so ein Geschäft machen würde, hätte er sich früher wohl nicht gedacht. Mitte der neunziger Jahre, als er gerade einmal vier Jahre alt war, stellten seine Eltern einen Fastfoodvan an die Küste. Später erwarben sie das Land und errichteten eine Hütte darauf. Heute steht hier ein luxuriöser Club mit Pool und über hundert Mitarbeiter:innen.
Unabhängig nachprüfen lässt sich die Geschichte mit dem Fastfoodvan nicht. Eines der grössten Probleme in Albanien sind die ungeklärten Eigentumsverhältnisse. Während der kommunistischen Diktatur wurden Hunderttausende enteignet und zwangsumgesiedelt. Bis heute kämpfen Familien darum, ihr Haus und ihr Grundstück zurückzubekommen – viele scheitern.
Serdi Fejzullai und seine Familie hatten Glück. Sie waren nach der Wende zur richtigen Zeit am richtigen Ort. «1995 haben wir Fastfood aus dem Van verkauft, ich, meine Mutter und meine Schwester.» Er lacht. «Damals gab es vielleicht drei Touristen im Jahr.»
Die Journalistin Franziska Tschinderle und der Fotograf Ilir Tsouko leben seit 2021 als Korrespondent:innen in Albanien.
Von Stalin zur Nato
Albanien, ein Land mit 2,8 Millionen Einwohner:innen, war bis 1991 vom Rest der Welt abgeschottet. Das Balkanland galt damals als die letzte stalinistische Bastion in Europa. Heute ist Albanien Nato-Mitglied und EU-Beitrittskandidat. Aussenpolitisch hat das Land eine 180-Grad-Wende hingelegt: Es ist eines der proeuropäischsten in Südosteuropa.
Seit 2013 ist die Sozialistische Partei von Premier Edi Rama an der Macht. Rama, der im April 2021 für eine dritte Amtszeit gewählt wurde, verfügt in Washington und Brüssel über ein gutes Image. In Albanien werfen ihm viele vor, sowohl seine Partei als auch das Land praktisch im Alleingang zu führen. Von der grössten Oppositionspartei ist kein Widerstand zu erwarten – sie streitet seit Jahren über die Frage, wer ihr rechtmässiger Vorsitzender ist.