Asylpolitik: Wie man eine permanente Krise bastelt
Für Asylsuchende gebe es womöglich bald nicht mehr genug Unterkünfte, konstatiert der Bund. Mit der tatsächlichen Anzahl der Gesuche hat das aber wenig zu tun. Im Asylbereich herrscht seit Jahrzehnten ein hausgemachter Notstand.
Containerdorf oder Zivilschutzanlage? Betten in der Turnhalle oder doch eine Militärkaserne? Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider befürchtet, dass dem Bund bis Ende Jahr der Platz für neu ankommende Asylsuchende ausgehen könnte, und beschäftigt sich deshalb seit längerem damit, neue Unterbringungsmöglichkeiten zu suchen.
Ursprünglich sollten das einige neue Containerdörfer werden – natürlich provisorische. Die Kantonsregierungen fanden das eine gute Idee. Der bürgerlich dominierte Ständerat, der die Kantone in Bundesbern vertritt, aber nicht. Er versenkte den Vorschlag des Bundesrats. Nun droht eine neuerliche «Notsituation» im Asylbereich: Wasser auf die Mühlen des rechten Wahlkampfs.
Die SVP hat angesichts dieser Prognosen an der ausserordentlichen Session zu Asyl- und Migrationsfragen letzte Woche regelrecht hyperventiliert und einen «Asylansturm» diagnostiziert. «Wir können hier nicht immer diskutieren, in welcher Turnhalle man noch wie viele Betten aufstellen kann», befand etwa SVP-Mann Gregor Rutz.
Erfindung der «Renitenz»
Um zu verstehen, wieso das Asylregime schon wieder an seine Grenzen stösst, hilft ein Blick in die Geschichte. Es zeigt sich: Entscheidend ist nicht die Anzahl tatsächlich eingereichter Asylgesuche.* Eine Krise ist immer gebunden an die Autorität derjenigen, die sie ausrufen. Wo beginnt sie? Wo hört die Normalität auf? Es ist ein Ermessensspielraum. Seit Jahrzehnten sprechen die Asylbehörden in der Schweiz von Krisen. Damit meinen sie nicht etwa Bürgerkriege oder Armut in der weiten Welt: Skandalisiert wird seit jeher die Knappheit der Betten in Turnhallen. Die Krise ist fast so alt wie das Asylgesetz selbst.
Ein solches gibt es überhaupt erst seit 1979. Bis dahin waren asylrelevante Fragen noch über das allgemeine Ausländergesetz geregelt worden. Es sah vor, dass Ausländer:innen, die aus politischen oder anderen Gründen gefährdet sind, «Dauerasyl» beantragen können. Die politische Debatte war in der Nachkriegszeit jahrzehntelang geprägt vom Gedanken des antikommunistischen Exils.
Die erste Version des neuen Asylgesetzes war denn auch noch vergleichsweise liberal. Was sich aber schon bald nach seinem Inkrafttreten ändern sollte. Zu Beginn der 1980er Jahre nimmt die Zahl der Asylgesuche sprunghaft zu. Das gilt auch für die Zahl der Länder, aus denen die Gesuchsteller:innen stammen: Erstmals stellen Schutzsuchende aus aussereuropäischen Staaten – etwa aus Sri Lanka – in grösserem Umfang Gesuche um Asyl in der Schweiz. Vor dem Hintergrund globaler Vernetzung und europäischer Integration verändert sich in dieser Zeit die Bedeutung von «Asyl» grundsätzlich – hin zu einem dauerhaften Phänomen und einem Ausdruck struktureller globaler Ungleichheiten.
Als Reaktion auf die damalige markante Zunahme der Zahl von Geflüchteten wird das Asylgesetz einer ersten verschärfenden Revision unterzogen. Ein Prozess, der über die nächsten zwei Jahrzehnte zur Konstante wird: Insgesamt dreizehnmal wird das Asylgesetz angepasst, bis es 1999 durch ein neues ersetzt wird. Mit jeder Revision werden Verschärfungen vorgenommen. Im Rahmen der zweiten Revision von 1988 halten etwa die «vorläufige Aufnahme» und die Ausschaffungshaft Einzug ins Asylrecht. Als Krisenlösung wird die Beschleunigung des Asylverfahrens beschworen. Beschleunigung heisst immer, dass sich die Zeit, während derer Asylsuchende staatlich untergebracht werden müssen, verkürzt. Mit dieser Begründung werden zunehmend prekäre, improvisierte und unwirtliche Unterkünfte legitimiert.
Die endgültige Abkehr vom antikommunistisch geprägten politischen Asyldiskurs der Nachkriegszeit erfolgt mit einem dringlichen Bundesbeschluss vom Juni 1990. Er sieht unter anderem ein Arbeitsverbot und Sanktionen gegen «renitente» Asylbewerber:innen vor. Spätestens dieser Bundesbeschluss markiert den Beginn einer Politik der Abwehr von Asylsuchenden.
Zu diesem Zeitpunkt steckt das Asylwesen schon seit zehn Jahren immer wieder in der Krise. Die Zahl der Gesuche nimmt zu. Statt sich aber an diese Gegebenheit anzupassen und etwa den Zugang zum Arbeits- oder Wohnungsmarkt zu öffnen, wird die Rede von krisenhaften, überfüllten Unterbringungsstätten zur Grundfeste der behördlichen Argumentation für gesetzliche Verschärfungen: zu einem dauerhaften Vorwand.
Die Behörden nehmen von da an immer mehr zentral geführte Sammelunterkünfte und Notschlafstellen in Betrieb: Nachdem 1988 die Unterbringung in Zivilschutzbunkern noch als unzumutbar galt, bezeichnen die Behörden bereits 1991 umfunktionierte Industrieanlagen, Baracken und Container als geeignete Infrastrukturen für Asylsuchende – aus Angst vor Widerstand in den Gemeinden, denen Asylsuchende zugewiesen werden könnten. Mit solchen Unterbringungsstätten, so die voreilige Argumentation der kantonalen Behörden, könnte Widerstand verhindert werden.
Die temporäre Notunterkunft wird so zu Beginn der 1990er Jahre normalisiert. Spätestens seit diesem Zeitpunkt ist die Asylkrise auch eine Unterbringungskrise. Das politische Klima, in dem diese Verschärfungen im Asylbereich vorgenommen werden, ist historisch verstrickt mit dem kulturalistischen Diskurs der «Überfremdung», mit dem in den 1960er Jahren öffentlichkeitswirksam ausländerfeindliche Polemik geschürt wird. Damals gibt die isolationistische Splitterpartei «Nationale Aktion gegen Überfremdung von Volk und Heimat» (NA) den Ton der radikalen Rechten an. Im folgenden Jahrzehnt büsst sie aufgrund ihrer thematischen Eindimensionalität aber an medialer Bedeutung ein. In den 1980er Jahren gelingt ihr das Comeback, indem sie die Asylpolitik diskursiv mit dem alten Steckenpferd des «Überfremdungsproblems» besetzt und Asylsuchende zum Gegenstand der Skandalisierung erklärt.
Angriffe von rechts
Die Auswirkungen dieser neuen Hetze sind verheerend. Im Schatten der im Parlament vertretenen NA treten rechtsradikale Schlägertrupps und Neonazis in Erscheinung und üben teilweise schwere Übergriffe gegen Geflüchtete, aber auch gegen Punks oder Homosexuelle aus. In dilettantischen Hasspublikationen bewerben sie ihre Aktionen – und erhalten ein grosses Medienecho.
Ab den späten 1980er Jahren richten sich die rassistischen Angriffe vermehrt gegen Asylunterkünfte. Es kommt zu zahlreichen Brandanschlägen, bewaffneten Überfällen und Hetzjagden gegen Personen, die in behördlich zugewiesenen Sammelherbergen auf ihren Asylentscheid warten. Die NA selbst ändert ihren Namen 1990 in Schweizer Demokraten (SD). Ihre Bedeutung verliert sie schliesslich endgültig gegen Ende des Jahrhunderts. Ihre Ideen und Positionen gehen in der erstarkenden SVP auf.
Als 1991 die ersten blutigen Konflikte in Kroatien den Beginn der Jugoslawienkriege ankündigen, die die bis dahin grösste Massenfluchtbewegung im Nachkriegseuropa auslösen werden, reagieren die Behörden erneut mit Verschärfungen. Die Verfahren sollen noch einmal beschleunigt, die Anzahl provisorischer Unterbringungsplätze aufgestockt werden. Nicht nur, um tatsächlich mehr Plätze zu schaffen, sondern auch zur strategischen «Attraktivitätsminderung» des Schweizer Asylwesens.
Die neue alte Krise im Asylbereich legitimiert auch weiterhin das hohe Tempo, mit dem die Verschärfungen ins Asylgesetz eingeschrieben werden. Ihren Höhepunkt erreicht diese Entwicklung mit der Implementierung der «Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht», die im Schnelldurchlauf des Behördenwegs trotz Referendum 1995 in Kraft treten. Damit wird etwa die Ausschaffungshaft verlängert, Rayonverbote und -zuweisungen werden ermöglicht und Durchsuchungen von Unterkünften und privater Habe legalisiert.
Der Grundsatz, auf Repression zu setzen, statt das Asylwesen an sich verändernde Tatsachen anzupassen, ist zu diesem Zeitpunkt längst etabliert. Der Diskurs wird von rechts angepeitscht. In seiner Botschaft begründet der Bundesrat sein repressives Massnahmenpaket mit der unzufriedenen Stimmung in der Bevölkerung gegenüber «straffälligen Asylsuchenden», die er an Initiativen der SD und der SVP festmacht.
Die Strategie der Rechtspopulist:innen ist erfolgreich. 2003 wird mit Christoph Blocher einer von ihnen zum Bundesrat gewählt. Als Vorsteher des Polizei- und Justizdepartements setzt er mit Unterstützung der Stimmbevölkerung weitere Verschärfungen durch, namentlich den Sozialhilfestopp für abgewiesene Asylsuchende. Und Blocher, der Hardliner, brüstet sich mit seinen angeblichen Erfolgen: Werden 2003 noch rund 22 000 Asylgesuche in der Schweiz eingereicht, sind es 2006 bloss noch 11 000.
Damals sind die Zahlen allerdings in ganz Europa rückläufig. Vor allem aber hat sich da längst gezeigt, dass Gesuchszahlen volatil sind und schnell zunehmen können. Blocher ist das egal. Er blufft mit seiner «konsequent angewandten Asylpolitik» und dem scheinbar damit zusammenhängenden Sparpotenzial. «Die Infrastruktur bei Bund und Kantonen war in den vergangenen Jahren auf 20 000 Asylgesuche pro Jahr ausgerichtet», heisst es in einer Medienmitteilung des Bundesrats von 2006, ein Jahr vor den Wahlen. Die Anzahl Betten wurde deshalb halbiert. Obwohl seit 1987 in keinem einzigen Jahr weniger als 10 000 Asylgesuche gestellt wurden, bis heute.
Schon sechs neue Zentren in Betrieb
Und wie viele sind es in diesem Jahr, in dem Gregor Rutz und seine Kolleg:innen einen «Asylansturm» heraufbeschwören? Ende August waren es erst 17 000. Hinzu kommen Geflüchtete aus der Ukraine. Ihre Aufnahme erfolgt aber ausserhalb des regulären Asylwesens. Nach Ankunft erfolgt sofort die Zuweisung in einen Kanton.
Zur Erinnerung: Erst 2019 trat die letzte grundlegende Revision des Asylgesetzes in Kraft, vier Jahre nach dem «Flüchtlingssommer» von 2015. Heute sind zusätzlich bereits sechs neue temporäre Zentren in Betrieb. Die Armee muss dafür ihre Infrastruktur zur Verfügung stellen. Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider ist auf der Suche nach neuen temporären Reserveunterkünften – mitten im Wahlkampf. Und dass in Turnhallen jetzt wieder Betten aufgestellt werden müssen, kommt Rutz mehr als gelegen.
*Korrigenda vom 5. Oktober 2023: In der Printausgabe und in der ersten Onlineversion fehlte in diesem Satz das Wort «nicht».