Der produzierte Notstand: Asylkrise? Welche Asylkrise?
Die rechten Parteien fordern einen immer restriktiveren Umgang mit Geflüchteten. Nun mischt auch der neue Justizminister Beat Jans mit. Doch ein Reality Check zeigt: Die Probleme in der Asylpolitik liegen anderswo als behauptet.
Unter den Redewendungen steht der Gang nach Canossa bekanntlich für einen Buss- und Bittgang. Eine spezifische Variante davon scheint sich in der Schweiz einzubürgern: der Gang nach Chiasso. Noch jede:r Justizminister:in sieht sich früher oder später gezwungen, in den südlichen Grenzort zu fahren und dort am Zoll Abbitte in der Flüchtlingspolitik zu leisten. Fort mit den humanitären Idealen, her mit noch mehr repressiver Abschottung! Beat Jans, der neue Sozialdemokrat an der Spitze des Justiz- und Polizeidepartementes EJPD, hatte es besonders eilig, nach Chiasso zu kommen – und gab sich dabei auffallend hart.
Nach nur fünfzig Tagen im Amt – wo er sich doch erst nach hundert hätte öffentlich äussern müssen – fuhr er letzte Woche ins Tessin. Dort verkündete er verschiedene Massnahmen, um die Zahl angeblich aussichtsloser Asylgesuche zu senken, darunter ein «24-Stunden-Verfahren» für Gesuchsteller:innen aus dem Maghreb oder ein «Case-Management für kriminelle Intensivtäter». Bei allen denkbaren Herausforderungen in der Asyl- und Migrationspolitik wählte Jans also den billigsten Sündenbock: den jungen, mutmasslich kriminellen Mann aus Marokko, Algerien oder Tunesien. Und sagte dazu noch einen Satz, den die Medien mit ihrem Hang zum Linkenbashing noch so gerne zitierten: «Es ist keine linke Politik, bei Problemen wegzuschauen.»
Der neue Justizminister reiht sich mit seinen Äusserungen in den Chor alarmistischer Stimmen der rechten Parteien ein. Da ist etwa die bis in die Mitte unterstützte Forderung, dass Frauen aus Afghanistan nicht mehr grundsätzlich Asyl erhalten sollten. Da ist die von FDP-Ständerat Andrea Caroni eingebrachte Idee, die Auslagerung von Asylverfahren ins Ausland zu prüfen, frei nach dem Vorbild Grossbritanniens, das solche in Ruanda durchführen will. Und schliesslich ist da auch noch die Aussage des designierten SVP-Präsidenten Marcel Dettling, die Schweiz könne auch gleich die Genfer Flüchtlingskonvention aufkünden – angesichts ihrer historischen Bedeutung nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs eine rhetorische Grenzüberschreitung sondergleichen.
Begriffe wie «Asylkrise» oder «Asylchaos» werden von Politik und Medien längst wie selbstverständlich verwendet. Umso bemerkenswerter ist deshalb der Widerspruch aus der Praxis: von jenen, die sich nicht erst seit fünfzig oder hundert Tagen mit der Asylpolitik beschäftigen, sondern seit Jahren und zum Teil Jahrzehnten. «Ich sehe kein Asylchaos weit und breit, stattdessen sehr viele funktionierende Strukturen», sagt etwa Hanna Gerig, die Geschäftsleiterin des Zürcher Solinetzes, das vor allem abgewiesene Asylsuchende unterstützt. «Viele der politisch diskutierten Massnahmen haben schlicht nichts mit der Realität zu tun», sagt auch Moreno Casasola von der Basler Freiplatzaktion, einer offenen Beratungsstelle für Migrant:innen.
Leute wie Gerig und Casasola werden gerne als Idealist:innen bezeichnet, die am liebsten ein Europa ohne Grenzen hätten. Tatsächlich sind sie die wahren Pragmatiker:innen der Schweizer Asylpolitik: Aus ihrer täglichen Arbeit kennen sie die prekären Lebenssituationen der Geflüchteten wie auch die kafkaesken Mühlen der Bürokratie. Und sie haben nicht nur gute Argumente auf ihrer Seite – sondern auch die nüchternen Zahlen.
Schutzquote bleibt hoch
Mitte Februar hat das Staatssekretariat für Migration (SEM) seine jährliche kommentierte Asylstatistik veröffentlicht. Die wichtigste Nachricht: Die Schutzquote ist unverändert hoch. Sie betrug 2023 rund 54 Prozent, während sie im Vorjahr sogar bei 59 Prozent lag. Mehr als die Hälfte, bisweilen fast zwei Drittel der Menschen, die in die Schweiz kommen, haben also Anspruch auf ein Bleiberecht. Unter die Schutzquote fallen alle Personen, die Anspruch auf Asyl nach der Genfer Flüchtlingskonvention haben oder die zumindest eine vorläufige Aufnahme erhalten, weil sie nicht in ihr Land zurück können – beispielsweise, weil dort wie in Syrien ein Bürgerkrieg tobt.
Die Zahl der Asylgesuche war zwar im letzten Jahr mit rund 30 000 Gesuchen vergleichsweise hoch, allerdings noch immer deutlich tiefer als im sogenannten Flüchtlingssommer 2015 (vgl. Grafik). Überhaupt: Sind 30 000 Personen viel angesichts der Kriege, der Hungersnöte und der Auswirkungen der Klimakatastrophe rund um den Globus? Dass die Schweiz durchaus mehr Kapazitäten zur Aufnahme hätte, zeigt eine andere Zahl, die in der Statistik separat geführt wird: In den letzten beiden Jahren hat die Schweiz praktisch nebenher 100 000 Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen.
Asylgesuche nach Jahren
Die Schweiz profitiert bei der Aufnahme stark vom Dublin-System und der europäischen Abschreckungspolitik: Sie konnte 2023 dreimal so viele Asylsuchende in andere Länder zurückweisen, als sie selbst zur Prüfung von deren Gesuchen übernehmen musste. Das SEM schreibt ausserdem: «Ein grosser Teil der in Europa eintreffenden Migranten will weiterhin nach Deutschland und Frankreich. Die Schweiz hat gegenüber dem nördlichen und dem westlichen Nachbarn als Zielland weiterhin eine geringe Bedeutung.»
System unter Stress
Aus einer humanitären Perspektive kann man also mit Fug und Recht sagen: Die Schweiz könnte deutlich mehr tun bei der Aufnahme von Asylsuchenden, gerade als reiches Land. Aus einer repressiven Sicht darf man feststellen: Die Schweiz ist ein Transitland, die Abschreckung zeigt Wirkung. Nüchtern betrachtet gilt auf jeden Fall, dass die Problembewirtschaftung der rechten Parteien masslos übertrieben ist. Aber läuft deswegen auch schon alles gut im Asylland Schweiz?
Nach dem Gang nach Chiasso erhielt Bundesrat Jans einen offenen Brief aus seinem Heimatkanton. Die Basler Freiplatzaktion hielt nicht zurück mit ihrer geharnischten Kritik an der «Asylmissbrauchsrhetorik» des SP-Justizministers. Es sei ja durchaus richtig, die Probleme im System anzugehen. Bloss müsse man dafür zuerst die richtigen Probleme erkennen. Der Brief zählt gleich eine Reihe davon auf: die ungenügende Unterbringung der Asylsuchenden etwa oder ihre mangelhafte medizinische Versorgung.
«Wir haben es beim Asylsystem mit einem supergestressten Apparat zu tun», sagt Moreno Casasola von der Freiplatzaktion. «Das System krankt an seinen eigenen Vorgaben.» Tatsächlich wird immer wieder politisch gewollt ein Notstand produziert. Auch hier sind die Zahlen des SEM eindeutig: In der «regulären Planung» geht das Bundesamt von 5000 benötigten Unterbringungsplätzen für die Abwicklung der Verfahren aus. In «speziellen Situationen» kann das System auf 10 000 Plätze ausgebaut werden. Dafür eröffnet das SEM gemäss einer «Notfallplanung» jeweils temporäre Unterkünfte. Dazu gehört etwa jene im thurgauischen Steckborn, über die zuletzt schweizweit medial beachtet an einer Gemeindeversammlung diskutiert wurde. Wie das SEM auf Anfrage mitteilt, verfügt es aktuell über 9900 Betten in Bundesstrukturen, von denen 6000 belegt sind.
Der Effekt dieser Handorgelpolitik, bei der die Strukturen laufend auf- und wieder abgebaut werden: In den Standortgemeinden kommt es erwartbar zu gehässigen Diskussionen. Die Asylsuchenden wiederum werden häufig provisorisch in Zivilschutzbunkern ohne Tageslicht untergebracht, in denen insbesondere die medizinische Versorgung katastrophal ist. «Sie kriegen kaum je einen Arzt oder eine Psychologin zu Gesicht», kritisiert Lara Hoeft von Pikett Asyl. Die Rechtshilfeorganisation berät Asylsuchende, deren Gesuch abgelehnt worden ist. Das ganze Asylsystem wirke sich negativ auf die Gesundheit der Betroffenen aus, sagt Hoeft. Die mangelhafte medizinische Versorgung habe aber auch Einfluss auf die Verfahren: «Die Asylsuchenden können nur eingeschränkt medizinische Gründe für ihre Gesuche geltend machen, wenn sie nie einen Arzt oder eine Ärztin sehen.»
Herkunftsländer 2023
Die gegenwärtige Situation zeigt: Das Versprechen der damaligen Bundesrätin Simonetta Sommaruga vor der Asylreform 2019, dass künftig alle Verfahren «unter einem Dach» durchgeführt werden könnten, hat sich nicht erfüllt. «Das ist eine direkte Folge davon, dass man bewusst zu wenig Ressourcen in das System steckt, besonders in die Unterbringung», meint Casasola. «Warum geht man nicht einfach von mindestens 10 000 benötigten Plätzen aus?» Auch für Lara Hoeft ist klar: Es braucht weniger Stress im System. Eine der dringlichsten Forderungen von Pikett Asyl sind längere Beschwerdefristen. Statt sieben Tagen sollen sie wieder dreissig Tage betragen. «Häufig bekommen die Asylsuchenden in den temporären Unterkünften die Entscheide in ihren Verfahren viel zu spät oder gar nicht mit», sagt Hoeft.
Auch Denise Graf kennt das Schweizer Asylsystem in- und auswendig. Früher war sie bei Amnesty Schweiz aktiv, seit der Pensionierung ist sie in der Gruppe «Droit de rester» im Kanton Neuenburg tätig. Das dortige Verfahrenszentrum in Boudry steht derzeit wieder einmal in den Schlagzeilen, weil die Neuenburger Kantonsregierung dem Bund mit der Aufkündigung der Verträge droht. Das Zentrum sorge für zu viel Unruhe in der Gemeinde. Auch Graf sagt, das Zentrum mit mehr als 400 Plätzen sei zu gross. «Aber nicht nur für die Anwohner:innen, sondern auch für die Asylsuchenden. Sie müssen auf engem Raum zusammenleben, was Konflikte provoziert.» Die Massnahmen, die dagegen wirken könnten, seien seit Jahren bekannt: kleinere, familiärere Zentren, eine umfassendere Betreuung statt unverhältnismässiger Sicherheitsstrukturen – und mehr Arbeitsmöglichkeiten sowie Kontakt mit der Zivilgesellschaft.
Regularisierung als Ausweg
Ist dieser Kontakt einmal hergestellt, so könne daraus ein «Bündel von positiven Geschichten» entstehen, berichtet Hanna Gerig aus ihrer Arbeit für das Zürcher Solinetz. Quer durch die Schweiz engagieren sich in ähnlichen Kollektiven Freiwillige gemeinsam mit abgewiesenen Asylsuchenden oder vorläufig aufgenommenen Personen. Sie geben Sprachkurse, leisten Rechtsberatung, kochen füreinander (vgl. «Selbst ist die Solidarität»). «Man kann das natürlich als kitschig abtun», meint Gerig, «doch der direkte Austausch ist hochwirksam.»
Das zeigt eine letzte Zahl aus der Asylstatistik des SEM: 5366 Härtefallgesuchen wurde im vergangenen Jahr stattgegeben. Damit können insbesondere vorläufig Aufgenommene eine dauerhafte Bewilligung beantragen – sofern sie fünf Jahre in der Schweiz leben und ihre Integration beweisen können, etwa über Sprachkenntnisse. Angesichts der durch die Gesetze verursachten Prekarisierung dieser Menschen ist die Zahl der bewilligten Härtefallgesuche bemerkenswert. «Sobald man den Austausch ermöglicht, fördert man die Integration», sagt Gerig. «Die einzigen Ghettos von Geflüchteten, die es in der Schweiz gibt, sind vom Staat verursacht. Es sind die Bundesasylzentren.»
An diesem Punkt wollen denn auch linke Politiker:innen im Bundeshaus ansetzen, dem rauen Gegenwind der Verschärfungen zum Trotz. «Wir würden vielen Menschen immens viel Leid ersparen, wenn wir zu einer grundsätzlichen Regularisierung ansetzen», sagt Balthasar Glättli. Noch ist er Präsident der Grünen – doch sobald er sein Amt weitergegeben hat, will sich Glättli wie früher wieder stärker in der Asylpolitik engagieren. Was ihm vorschwebt: eine Regularisierung von Menschen in Nothilfe sowie von Sans-Papiers. «Wer mehr als vier Jahre in der Schweiz lebt, sollte ein Aufenthaltsrecht bekommen.» Klar käme gegen die Forderung nach einer Regularisierung sofort der Einwand, sie habe eine Sogwirkung. «Aber einmal im Ernst: Wer vier Jahre prekarisiert hier lebt, der tut es auch noch länger. Eine Regularisierung würde vor allem immens viele Ressourcen bei den Behörden sparen. Und sehr viel Geld.»
«Absolute Einfallslosigkeit»
Druck in diese Richtung machen will auch Céline Widmer, Nationalrätin der SP. Über die derzeitigen Vorschläge der rechten Parteien ist sie besorgt und schockiert: «FDP und SVP lassen sich nicht mehr unterscheiden.» Dass der eigene Bundesrat Jans die Schnellverfahren für Asylsuchende ausweiten will, die kaum Aussicht auf Asyl haben, irritiert sie. «Besser wäre es doch, die Verfahren für jene Asylsuchenden möglichst zügig durchzuführen, die mutmasslich Anspruch auf Asyl haben. Dann würde es vorwärtsgehen bei der Abarbeitung der Gesuche.»
Einig sind sich schliesslich alle Praktiker:innen, dass es für Armutsmigrant:innen wie die jungen Männer aus dem Maghreb eine Lösung braucht. «Sie haben nur eine Tür, um in die Schweiz zu kommen: den Asylweg», sagt Gerig. «Sie dauernd an den Pranger zu stellen, zeugt von absoluter Einfallslosigkeit.» «Sie haben keinen Goodwill, sie haben keine Lobby. Sie wissen, dass sie kein Asyl erhalten, entsprechend verhalten sie sich», meint Casasola. Ein Ausweg könnten Kontingente für junge Berufstätige aus dem Globalen Süden sein, schlägt Glättli vor. «Das ergibt auch angesichts der demografischen Entwicklung Sinn. Und wer weiss, dass es eine legale Tür gibt, riskiert nicht für sehr viel Geld sein Leben im Mittelmeer.»