DJ Marcelle: Noch so eine gepflegte Überraschung
Sie mag die Gefahr in der Musik und scheut sich nicht vor kühnen Sprüngen: DJ Marcelle aus Amsterdam will ihrem Publikum voraus sein.
Wo anfangen? Unter einem Regenschirm in São Paulo? Oder mit David Helbichs im Internet berühmt gewordenen, mittlerweile in drei Bänden versammeltem Fotoprojekt «Belgian Solutions», das im Gespräch als Chiffre für Zu- und Unfall auftaucht? Der Handlauf einer Treppe, der einfach irgendwo in der Wand verschwindet. Die verbeulten Trottoirs und Rohre und das Kauderwelsch auf schepp versenkten Verkehrstafeln. Oder doch 1977? Wo anfangen bei DJ Marcelle, wenn nicht gleichzeitig?
«Die Schönheit der ‹Belgian Solutions› besteht darin, dass sie zwar Lösungsversuche sind, aber das Problem nicht an der Wurzel gelöst wird. Daraus entstehen surrealistische Improvisationen», sagt DJ Marcelle / Another Nice Mess, so geht ihr ganzer Künstlerinnenname, der eigentlich für fast jede Gelegenheit zu lang und kompliziert ist. Darum nennen sie die meisten einfach DJ Marcelle, und ihr sei das komplett egal. «Ich bin sowieso die Marcell-e», die letzte Silbe niederländisch abgelautet. Der Garten einer Hotelkette in Zürich West, das architektonische Gegenstück zur belgischen Lösung vielleicht, ist ein guter Treffpunkt. Wenn Marcelle streng ist mit der Kunst, dann lächelt sie am Ende des Satzes. Das tut sie oft.
Stille, Dadaismen, Reden
Fast jedes Wochenende ist sie mit ihrem Rollkoffer voller Schallplatten unterwegs. Darin Fund- und Einzelstücke, viel zeitgenössische Musik, ihre selbst produzierten Alben, gerne etwas von ihrer Lieblingsband The Fall oder aus dem Mikrouniversum des seltsamen Einzelgängers Muslimgauze, Platten mit Geräuschen, Platten mit Stille, Dadaismen, Reden. Und auch Stücke, die sie bis zu ihrem Auftritt selbst nie recht angehört hat, weil sie erst am Nachmittag noch in einem Plattenladen in die Tasche gesteckt wurden.
Marcelles Sammlung in einem Amsterdamer Häuschen umfasst an die 20 000 Platten. Das macht das Zügeln eigentlich unmöglich, das Umherziehen auf der Welt macht es umso interessanter. Durch das Nachtleben europäischer Grossstädte, auf anderen Kontinenten, als alljährlicher Gast an der Bad Bonn Kilbi in Düdingen – oder im Helsinkiklub in Zürich, mit dem sie eine langjährige Freundschaft verbindet. Immer wieder kommt sie auf Besuch und richtet ihre «nice mess» an, immer anders, der Zufall darf mitspielen: «Ich halte eine gepflegte Unordnung», sagt sie über ihre Sammlung in Amsterdam, über die Vorbereitung, das Packen, «ich weiss zwar, wo die Sachen sind, aber ich freue mich auch über die Zufälle. Meine Sets probe ich nicht.»
Statt der üblichen zwei hat Marcelle stets drei Plattenspieler auf ihrem Pult. Fast ein Allgemeinplatz ist das, als wüsste die Musikwelt nicht längst Bescheid. Von der Dreibödigkeit ihrer DJ-Sets, vom mitunter ruppigen Fahrstil, mit dem sie durch die unverwandtesten musikalischen Nachbarschaften kurvt, obskure Gegenden, schon wieder abgebogen, wo die meisten DJs gerade den Tempomat einrasten würden. Vielerorts in Europa hat sie mittlerweile einen guten Ruf, so richtig dazugehören will sie nicht. «Was ich mache, ist eigentlich gar nicht so verrückt oder herausragend. Es fällt nur so auf, weil der Rest dermassen vorhersehbar ist.»
Im Gegensatz zu vielen DJs scheint es Marcelle nicht darum zu gehen, die Bedürfnisse des Publikums zu ertasten. Sie will gar nicht eins werden mit ihm – eine Vorstellung, die in die Tradition der modernen Dance Music eingeschrieben zu sein scheint. Sie bleibt dem Tanz lieber eine Nasenlänge voraus. «Das Publikum ist im Grunde konservativ. Ich stehe aber auf Überraschung. Mir wird schnell langweilig», das sei auch bei der Arbeit so.
1977, Punk bricht aus: Einmal Kotzen auf die für bourgeois befundenen Üppigkeiten der Siebziger, auf alles Virtuose, Bombastische. Vielleicht nicht ganz zufällig hat Marcelle damals begonnen, Platten aufzulegen. Zwei Jahre später erscheinen die Postpunkalben «Cut» von The Slits und «Metal Box» von Public Image Limited – auch Marcelle ist Punk als Formalität schon längst verleidet, es gehen alle Türen und Schubladen auf. «Ich hörte John Peels Radiosendung und war begeistert von The Fall, die mich dann vierzig Jahre lang inspirierten.»
Originalität im Durcheinander
Die Achtziger fahren an, Peels Sendungen hätten sie fasziniert, «die Art, wie er Stile durcheinandermischte, aber ein Stück nach dem anderen, es war ja fürs Radio.» Würde man diese Sendung einklappen wie ein Leporello, sodass die Stücke übereinanderlägen, vielleicht käme man damit Marcelles Herangehen auf die Spur. Sie hörte zu und sammelte und legte übereinander, begann auch, selbst Radiosendungen zu produzieren. «Es geht immer weiter, das ist das Schöne an der Sache. Ich will neue Musik spielen, das ist unbedingt nötig.» Musik aus Afrika, schiefen Techno, verrückten Drum and Bass, konkrete Musik, Dub. «Wenn man verschiedene Stile gegeneinanderstellt oder übereinanderlegt, dann werden sie besser.»
Klar landet sie damit in Berlin. New York. Oder in Jinja, Uganda, wo das Festival Nyege Nyege afrikanische Undergrounds mit den DJs anderer Kontinente und weltweiten Marken wie der Clubkulturplattform Boiler Room verkabelt. «Wenn ich in Afrika bin, spiele ich keine Musik aus Afrika. Und wenn ich auf einem Technofestival bin, dann spiele ich keinen Techno.» Es gehe ihr um Kontext – und Originalität, die erst im Durcheinander von Herkünften, Einflüssen, Fantasien und Nöten bestehen könne.
Marcelle schreibt im Hotelgarten zur Erklärung den Namen «Muslimgauze» auf einen Zettel. Der 1998 jung verstorbene Produzent aus Manchester, ein zurückgezogener Geist, der ein überbordendes, elektronisch-avantgardistisches Werk um die Thematik der Landnahme und Unterdrückung von muslimischen Kulturen geschaffen hat. Ein Mysterium, das bis heute fasziniert, manche aus politischer Sicht auch befremdet. Brennend hat ihn nämlich Palästina interessiert, immer ging es um die Anliegen der arabischen Welt, wobei Muslimgauze aus Überzeugung nie in besetzte Gebiete gereist ist und auch keine familiäre Beziehung dorthin hatte. «Ich erwarte von der Kunst, dass sie insofern authentisch ist, dass sie von lediglich dieser einen Person hergestellt werden kann. Du kannst sie nicht kopieren. Es ist diese Dringlichkeit, die mich auch an Muslimgauze beeindruckt. Musikalisch war er eh genial.»
Ganz generell möge sie es, «wenn die Gefahr in der Musik lauert». Manchmal lauert sie auch über der Musik als Wetterlaune: Kürzlich in São Paulo sei der Platzregen durch das Bühnendächlein eingebrochen. Mit dem Regenschirm in der einen und dem nächsten seltsamen Track in der anderen Hand arbeitete Marcelle unbeeindruckt weiter.
Wie aufhören mit DJ Marcelle? Einmal in diesem Sommer in Lüttich war es so: mit einem höhnischen Lachen, das nicht aufhören wollte – von der Schallplatte lachte es mechanisch, gespenstisch. Sie packte derweil ihre Musik zusammen und all den Krimskrams, den sie zur Verschönerung ihres Arbeitsplatzes um die Plattenspieler drapiert hatte. Dann ging sie ab, fast: Wie ein Küsschen auf die Stirn der Verwunderten im Publikum spielte sie ganz zum Schluss noch einen Dub.
Live: DJ Marcelle, Osilasi und Leoni Leoni in: Zürich Helsinki, Freitag, 13. Oktober 2023, 20 Uhr.