Walter Moers: Was träumt ein Tornado?

Nr. 41 –

Der grosse Psychedeliker der deutschen Literatur ist zurück: Walter Moers schickt sein schuppiges Alter Ego auf die «Insel der Tausend Leuchttürme».

Illustration von Walter Moers: eine Hummdudel aus dem Tierreich Zamoniens
Aus dem Tierreich Zamoniens: Der, die oder das Hummdudel. Zeichnung: © Walter Moers

Es soll ja Leute geben, für die Zamonien längst zu einer zweiten oder dritten Heimat geworden ist, wie für andere Hogwarts oder Mittelerde. Schon seit bald einem Vierteljahrhundert erkundet Walter Moers diese Fabelwelt, die er einst für «Die 13½ Leben des Käpt’n Blaubär» (1999) erschaffen und in mittlerweile neun weiteren Zamonien-Büchern in alle erdenkliche Richtungen ausgebaut hat. Erstaunlich daran ist, dass der Autor und Zeichner, zuvor bekannt vor allem für seine Comics über «Das kleine Arschloch», damit zu einem Liebling einer Literaturkritik werden konnte, die sonst alles, was auch nur entfernt nach Fantasy riecht, mit sehr spitzen Fingern umblättert.

Das liegt sicher auch daran, dass die besten Romane aus seinem Zamonien-Komplex nicht nur von ihrem exorbitanten Reichtum an surrealen Ideen und Daseinsformen leben. Als Fantast ist Moers darüber hinaus ein eingefleischter Sprachfetischist: Wenn er mit erfundenen Wörtern und selbstreferenziellen Erzählkniffen um sich schmeisst, gibt es auch für ein Bildungsbürgertum mit aktenkundiger Albernheitsintoleranz einiges aufzufangen. Die zamonische Literaturhauptstadt Buchhaim etwa, samt ihrer monströsen Steampunkunterwelt: eigentlich ein einziger gigantischer Köder für diese Zielgruppe. Da entwirft Moers einen bodenlosen Bibliothekskosmos, der einem Umberto Eco oder einem Jorge Luis Borges alle Ehre machen würde («Die Stadt der Träumenden Bücher», 2004).

Pause im Gehirn

Dabei ist Moers auch einer der grössten Psychedeliker der deutschen Literatur, siehe etwa «Ensel und Krete» (2000). Ein Exkurs über die Wirkung des Hexenhutpilzes gehört noch zu den sachlicheren Passagen in diesem Kunstmärchen, das in seiner posthumanen Ökologie wirkt, als wäre es heute geschrieben worden. Im Finale lösen sich die Grenzen dann vollends auf: zwischen Flora und Fauna, zwischen Haus und Hexe, zwischen belebter und unbelebter Welt. Und wer ist schon mal, mit den Füssen in einem pechschwarzen Tümpel stehend, als Meteor durchs Weltall geflogen? Wahnsinn! Da hilft nur noch, um es mit einem anderen geistigen Zustand aus dem Zamonischen zu sagen: saloppe Katatonie. (Der Begriff bezeichnet einen spontanen Hirnkrampf: Pause im Gehirn, um sich vor Überlastung zu schützen, hilfreich etwa beim Sturz in ein Dimensionsloch.)

Diese antirealistische Haltung programmatisch auf den Punkt gebracht: «Ich habe schon immer eine Schwäche für Kunst gehabt, die mir zeigt, was ich mit eigenen Augen nicht sehen kann.» In seinem neusten Roman legt Moers diesen Satz jetzt seinem fiktiven Alter Ego in den Mund, dem Lindwurm Hildegunst von Mythenmetz.

Der zamonische Dichter fährt hier zur Kur nach Eydernorn, genannt die «Insel der Tausend Leuchttürme» (auch wenn es, sauber gezählt, nur 111 sind). Dort stösst Mythenmetz auf eine ganze Reihe von lokalen Besonderheiten, von der traditionellen Sportart des Kraakenfiekens über die Musik der Salzluftorgel bis hin zu gewohnt bizarren Bewusstseinsformen, für die H. P. Lovecraft Pate gestanden haben könnte. Im örtlichen Museum lernt Mythenmetz die Gefahren der Tierwelt kennen, wie den Rückwärtsesserfisch, auch Kotzfisch genannt: Nachdem er seine Beute verdaut hat, setzt der Kotzfisch sie im Magen wieder so zusammen, dass sein Opfer danach «genauso aussieht wie vor dem Verschlingen». Das dergestalt rückverdaute Opfer würgt er dann aus, worauf dieses nun als täuschend echte, hochgiftige Attrappe seiner selbst im Wasser treibt.

Reisen im Kopf

Von seinen Erfahrungen auf Eydernorn berichtet Mythenmetz in Briefen an einen Freund, die Zeichnungen sind diesmal mit Bleistift statt mit Tusche ausgeführt. «Die gängige Meinung, dass die Form des Briefromans überholt sei, finde ich überholt», so Walter Moers, als er kürzlich in der «Welt» die zehn für ihn prägendsten Bücher vorstellte, von Edgar Allan Poe bis Bram Stoker. Gängige Meinung hin oder her: Wenn Moers im Nachwort zum neuen Roman beteuert, als Herausgeber habe er die legendär weitschweifigen Ausführungen von Mythenmetz radikal straffen müssen, so klingt das hier nach – selbstironischer – Schutzbehauptung.

Moers neigt in seinem Zamonien ohnehin zu einer enzyklopädischen Gründlichkeit, die man manchmal getrost Geschwätzigkeit nennen darf. Bevor etwas in Gang kommt, will der jeweilige Schauplatz erschöpfend erkundet und erfasst sein, und für die «Insel der Tausend Leuchttürme» gilt das jetzt mehr denn je. Streckenweise wirkt dieser Briefroman wie das Bulletin eines Nordseetouristen, der ausführlich Buch führt über Land und Leute, nur eben ins Fantastische gedreht: Kraakenfieken auf Eydernorn statt Golfen auf Norderney.

Es wartet dann doch noch eine Heldenreise auf Mythenmetz, und die hat, sehr zeitgemäss, mit unheimlichen Wetterphänomenen zu tun und mit der poetischen Frage, wovon ein Tornado träumt, wenn er schläft. Das beginnt mit einer typischen Moers-Erfindung, die unverkennbar auch eine Metapher für seine Literatur ist: Kopfreisen dank «interdimensionaler Kartographie». Das funktioniert mit speziellen Landkarten, die Mythenmetz förmlich eintauchen lassen in die dargestellte Landschaft. Also total immersiv, wie Virtual Reality? Na ja, wie fantastische Literatur halt.

Buchcover von «Die Insel der Tausend Leuchttürme»
Walter Moers: «Die Insel der Tausend Leuchttürme». Roman. Penguin Verlag. München 2023. 656 Seiten. 58 Franken.