Zum Anfang: Aufhören ist einfach. Doch wie nur, wie nur weiter?

Nr. 18 –

Der erste Satz eines Textes kann verheerend sein. Oder aber auch Pfeile mitten ins Herz schiessen. Beispiele aus der Literaturgeschichte belegen das.

Es ist nicht wahr, dass aller Anfang schwer ist. Zumindest nicht in der Literatur. Der Autor kann einfach mal etwas schreiben und eine Redensart zitieren oder etwas in der Art. Und später kann er, der modernen Textverarbeitung sei Dank, die Redensart ohne weiteres wieder entfernen und durch etwas Gescheiteres ersetzen (was hier nicht geschehen ist).

Nein, schwer ist nicht der Anfang. Sondern das Wissen darum, dass nach dem Anfang noch eine ganze Menge mehr kommt, die einen ordentlich fordern wird. Dabei spielt es keine Rolle, ob man nun einen Text, eine neue Partnerschaft oder ein Unternehmen begründet: Der erste Schritt wird nicht als schwer wahrgenommen, weil er tatsächlich schwer ist, sondern weil ihm Hunderte weitere folgen und viele davon als ein hilfloses Straucheln geraten können. Wobei der Autor in dieser Hinsicht einen Vorteil hat: Die Backspace-Taste stellt für ihn einen Segen dar, den andere vergeblich herbeisehnen. Die Folgen einer falschen Investition sind wesentlich schwieriger zu beheben als die Niederschrift eines unlogischen Gedankens.

Das Ende als Anfang

Auch wer aufhört zu rauchen, fängt in Wahrheit an, Nichtraucher zu sein, was wesentlich schwieriger ist, als die angebrochene Packung Zigaretten zu entsorgen. Es ist das leichteste Ding der Welt, mit dem Rauchen aufzuhören: Man macht es einfach nicht mehr, drückt die Zigarette aus und kauft keine neuen. Ungleich mühevoller ist es hingegen, plötzlich ein Mensch zu sein, der in all den Momenten, da er früher zur Zigarette gegriffen hat, genau dies unterlässt.

Gleiches gilt auch für das Ende einer Beziehung; es bedeutet nichts anderes als den Anfang einer Periode, in der man nicht mehr ständig mit einem Gegenüber interagiert, sondern radikal auf sich selbst zurückgeworfen ist. Für manchen Menschen ist das eine derart fürchterliche Vorstellung, dass sie ihm eine Trennung unmöglich macht, auch wenn alles dafürspricht. Es ist ihm nicht möglich, mit dem Alleinsein anzufangen – weil er in dieses Alleinsein hinausschaut und dort nichts Erfreuliches finden kann.

Vom gelungenen Anfangen

Viele Menschen, die gern Bücher lesen, sagen, der erste Satz eines Buchs sei für sie enorm wichtig. Wenn der nicht sitze, sei für sie das ganze Buch gestorben. Das klingt etwas affektiert, doch unrecht haben sie nicht, wie drei Beispiele zeigen mögen. Der erste Satz eines Buchs verankert dessen Stimmung wie auch dessen Sprache, und wer ihn am Schluss noch einmal liest, wird darin die Essenz des Werks wiederfinden, ob das nun die Absicht des Autors gewesen ist oder nicht.

Walter Moers, der in jungen Jahren derbe Comics gezeichnet hatte, bevor er Bestsellerautor wurde, hat seinen ersten und sehr lustigen Roman «Die 13½ Leben des Käpt’n Blaubär» genannt. Konsequenterweise schreibt er auf der ersten Seite flott und knapp: «Ein Leben beginnt gewöhnlich mit der Geburt – meins nicht.» Ein origineller Satz, der einen mehr wissen lassen will, und Moers hat die Backspace-Taste vermutlich mehr als einmal benutzt, bis er diesen einfachen, brillanten Satz gefunden hat. Dennoch begann die wahre Arbeit für Moers – und der wahre Genuss beim Lesen – erst mit den darauffolgenden Worten, die hinsichtlich Einfallsreichtum und Stil diesem Anfang in nichts nachstehen.

Henry David Thoreau, ein amerikanischer Philosoph des 19. Jahrhunderts, der seine Einsichten gewann, indem er täglich stundenlang zu Fuss unterwegs war, schrieb ein kleines, aber umso durchdringenderes Buch mit dem harmlosen Titel «Vom Spazieren». Es ist in einer grandiosen Übersetzung im Diogenes-Verlag erschienen und beginnt so: «Ich möchte zugunsten der Natur sprechen, zugunsten absoluter Freiheit und Wildheit – im Gegensatz zur Freiheit und Kultur im bürgerlichen Sinne –, und ich möchte den Menschen als untrennbaren Teil der Natur und nicht als Mitglied der Gesellschaft betrachten.»

Mit diesen Worten, mit solchen Worten, schiesst Thoreau einen Brandpfeil ab, dem noch weitere folgen, und sie alle finden ihr Ziel, nämlich das Herz. Das Thema, über das er schreibt – die urtümliche Wahrheit der Natur –, ist zugleich sein Mittel, mit dem er darüber schreibt; Thoreaus Sätze sind wie Bäume und Sträucher, und sein Buchanfang wirkt damit wie der Anbeginn der Welt.

Ein weniger gelungenes Beispiel liefert Sabine Scholl, die ihrem neuen Roman «Wir sind die Früchte des Zorns» folgenden Anfang verpasst hat: «Odette trippelt vorsichtig, die Sandalen mit stadtglatten Sohlen geben wenig Halt.»

Ein solcher Satz gibt auch dem Leser nicht allzu viel Beistand, und dass die Figur Odette in der Überschrift als Schwiegermutter vorgestellt wird, hilft nicht. Der Leserin, dem Leser ist diese Odette mit ihrem Namen, der so bemüht ist wie der Titel des Werks, auf Anhieb unsympathisch, da sie, anstatt entschieden aufzutreten oder wenigstens der Länge nach hinzufallen, auf stadtglatten Sohlen trippelt. Was auch immer «stadtglatt» bedeuten soll.

Der Leser ärgert sich. Er mag den zweiten Satz nicht lesen; er hat Angst vor ihm, ahnt Blicke in Handtäschchen und weitere Ausführungen über die faszinierende Marschfähigkeit von Damenschuhen. Ein ziemlich misslungener Anfang, der zeigt, wie recht die Menschen haben, die behaupten, der erste Satz eines Buchs sei von grosser Bedeutung. Wo die Früchte des Zorns hängen und wer sie pflückt, will nach einem solchen Anfang keiner mehr wissen.

Ein Anfang bestimmt eine Richtung

Das Anfangen, und hier sei dem Anfang dieses Textes widersprochen, ist also doch schwer. Nicht, weil es als solches unternommen werden muss, und auch nicht, weil es den Anfang von viel Arbeit bedeutet. Sondern weil damit, wie die drei Beispiele belegen, eine Richtung vorgegeben wird, über die man genau nachdenken sollte, bevor man sie einschlägt: Wer anfängt, wird irgendwann vollenden, und man ist gut beraten, seine Werke so zu gestalten, dass sie einem selbst und anderen zur Freude und Heilung gereichen.

PS: Die Backspace-Taste wurde für den Anfang dieses Textes fleissig eingesetzt. Auch für den Rest.

Die Solothurner Literaturtage machen in verschiedener Hinsicht einen «Anfang». Jeden Morgen diskutieren zwei AutorInnen über das Anfangen – und bringen einen Anfang eines neuen Textes mit: am Freitag Michail Schischkin und Peter Esterhazy, am Samstag Navid Kermani und Ilma Rakusa, am Sonntag Zsuzsanna Gahse und Ales Steger.

Weitere Informationen: www.literatur.ch.