Jugendrebellion in China: «Eine Ratte wie ich»
Mit neuen Wortkreationen und weissen Zetteln: Wie Chinas Jugend gegen Ausbeutung, blockierte Aufstiegsmöglichkeiten und Arbeitslosigkeit protestiert.
Im Juni 2023 betrug die offizielle Arbeitslosenquote bei städtischen 16- bis 24-Jährigen in China 21,3 Prozent, fünf Jahre zuvor war sie noch halb so hoch gewesen. Seit Juni haben die Behörden keine Zahlen zur Jugendarbeitslosigkeit mehr veröffentlichen wollen. Zu brisant ist das Thema – und zu düster sind die Perspektiven junger Leute.
Anders als noch vor zwanzig Jahren sind Karriere und sozialer Aufstieg für viele von ihnen blockiert. Selbst wer es in begehrte Jobs schafft, muss zuerst einmal mit den harten Arbeitsbedingungen zurechtkommen. Die Desillusionierung hat zugenommen, ebenso wie die Zahl derjenigen, die resigniert haben oder aussteigen. Die Situationen junger Leute in den Städten unterscheiden sich jedoch eklatant – abhängig davon, ob sie aus der Mittelklasse oder aus Wanderarbeiterfamilien kommen.
Schon in der Schule sind Kinder und Jugendliche in chinesischen Städten einem enormen Wettbewerbsdruck ausgesetzt. Ein abgestuftes Prüfungssystem soll die Leistungsstärksten herausfiltern; ihnen bleibt der Zugang zu besseren Schulen und Universitäten vorbehalten. Viele Eltern investieren erheblich in die Bildung ihres Kindes. Stundenlange Nachhilfe gilt nicht primär den Leistungsschwachen, sondern soll alle fit machen für die Prüfungen, von denen der weitere Aufstieg abhängt. Nur wer den jahrelangen Stress durchhält und die Prüfungen besteht, schafft es später auf die Universität. Doch selbst ein universitärer Abschluss garantiert längst nicht mehr einen gut bezahlten Job. Die Verlangsamung des Wirtschaftswachstums, die Krise im Immobiliensektor und die staatlichen Eingriffe in die IT-Branche haben die Jobaussichten für Graduierte verschlechtert.
Auch jene, die einen Job in einem der begehrten Sektoren ergattern, sehen sich mit blockierten Aufstiegsmöglichkeiten, stagnierenden Löhnen und überlangen Arbeitszeiten konfrontiert. Eine Wohnung in einer Grossstadt können sich viele eh nicht mehr leisten. So versuchen etliche, über eine Prüfung wenigstens an einen «sicheren» Job im öffentlichen Dienst zu kommen. Allerdings wird nur ein Bruchteil der Bewerber:innen eingestellt.
Strategien der «Überstundenhunde»
Auch wenn viele Junge in China weiter an Aufstieg und Karriere glauben: Abneigung und widerständiges Verhalten junger Leute gegen den Arbeitsstress zeigen sich seit Jahren auch in den sozialen Medien. Bereits 2019 starteten IT-Beschäftigte unter dem Motto «996.icu» – Arbeit von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends, sechs Tage die Woche – eine Onlinekampagne gegen Erschöpfung und Arbeitsdruck. «icu» steht für «intensive care unit», also die Intensivstation, auf der man bei diesem Stress landen kann.
Im Zusammenhang mit der «996»-Kampagne berichteten junge IT-Beschäftigte auch, wie sie sich aus Protest nicht mehr anstrengten und bewusst langsam arbeiteten. Sie bezeichneten das als «Fischen» (mo yu), ein Wortspiel, ausgehend vom Sprichwort «In trüben Gewässern lässt sich leicht fischen». Andere IT-Beschäftigte wiesen auf ihre Situation als ausgebeutete Arbeitskräfte hin, indem sie sich als «Codierungsbauern» (manong) und «Überstundenhunde» (jiabangou) bezeichneten – oder als «dagongren», ein gängiges Wort für proletarische Wanderarbeiter:innen.
Die Debatte drehte sich auch um «Involution» (neijuan). Dieser Begriff beschreibt das Hamsterrad, in dem die jungen Leute heute gefangen sind. Sie rennen und drehen sich im Kreis, ohne voranzukommen. Auch als Reaktion auf «Involution» begann 2021 eine Onlinediskussion über «Hinlegen» (tangping). Dabei beschrieben junge Leute, wie sie es bei der Arbeit und anderswo ruhig angehen liessen oder gleich ausstiegen. 2022 folgte «Wegrennen» (runxue), ein Wortspiel mit dem englischen «run». Es beschreibt die Fluchtgedanken junger Leute nach den Covid-19-Lockdowns von Frühjahr bis Herbst 2022 in Schanghai und anderswo, als Millionen von Menschen von der rigiden Null-Covid-Politik der Kommunistischen Partei betroffen waren. Als weiterer Begriff kam «Verrottenlassen» (bailan) dazu, eine Haltung, bei der alles egal ist und man sich der schlechten Lage ergibt.
Wer kann sich Verweigerung leisten?
In diesem Jahr erschienen online zudem Berichte, die mit «Eine Ratte wie ich» (shu shu wo a) anfingen – als selbstironischer Bezug auf die eigene prekäre Situation als Arbeiter:in oder Migrant:in vom Land. Schliesslich benutzten User:innen auch den Begriff «Dahintreiben» (liulang). Ähnlich wie «Hinlegen» beschreibt er das Aussteigen; als Reaktion auf die Lockdowns geht es nun aber mehr ums Losziehen und Herumreisen.
All diese Formen der Selbstironie, der Verweigerung und des Ausstiegs werden nicht nur diskutiert, sondern auch konkret praktiziert. Manche dieser Strategien setzen allerdings voraus, dass man über die nötigen finanziellen Mittel oder Beziehungen verfügt, um mit weniger oder ohne Einkommen durchzukommen. Das wiederum können sich zumeist nur Leute um die dreissig mit Berufserfahrung und Rücklagen oder Jüngere aus städtischen Familien mit mittleren Einkommen leisten.
Die Mehrheit, die aus ärmeren Schichten in der Stadt oder aus Familien von Wanderarbeiter:innen kommt, hat weniger Optionen. Die Eltern haben sich oft aufgeopfert und viele Überstunden geleistet, um die Ausbildung ihres Nachwuchses zu bezahlen. Sie setzen darauf, dass ihr Kind sie später finanziell unterstützen kann; schliesslich sind die Renten niedrig, und das System der Sozialleistungen bleibt löchrig.
Auch die Kinder aus ärmeren Familien stehen schon in der Schule unter Druck. Ihre Schulen sind meist schlechter ausgestattet, und die Eltern können sich die gute Nachhilfe nicht leisten. Beim Zugang zu höheren Lehranstalten werden diese Schüler:innen systematisch benachteiligt. Die meisten landen in Fabriken oder in informellen Jobs im Dienstleistungsbereich. Auch dort stagnieren die Löhne. Wer es auf die Berufsschule schafft, wird oft im Rahmen obligatorischer Praktika in Fabriken und KI-Datenzentren ausgebeutet. Manche bestehen trotz allem die Aufnahmeprüfung für eine Universität. Schliessen sie diese ab, haben sie im Wettbewerb gegen Absolvent:innen besserer Universitäten mit privilegierten sozialen Verbindungen wenig Chancen. So landen auch viele von ihnen trotz Bachelor- oder Masterabschluss in Fabriken oder müssen niedrig entlohnte Dienstleistungen erbringen. Wer aus einer ärmeren Familie kommt, hat zudem meist weder finanzielle Rücklagen noch die familiäre Unterstützung zur Überbrückung von Arbeitslosigkeit. Risiken, die mit «Hinlegen» oder anderen Verweigerungsstrategien verbunden sind, lassen sich so schlecht abfedern.
In den letzten beiden Jahren hat der Unmut unter jungen Leuten vor allem infolge der Quarantänemassnahmen und Lockdowns deutlich zugenommen. Zum Teil durften die Menschen ihre Wohnungen oder Wohnanlagen wochenlang nicht verlassen und arbeiteten im Homeoffice. Die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten war teilweise nicht mehr sichergestellt. Die Erfahrung von Isolation, Stress und Angst war traumatisch.
Besonders prekär war auch hier die Situation für junge Menschen aus ärmeren Schichten und junge Wanderarbeiter:innen. Trotz des Ansteckungsrisikos mussten viele von ihnen weiterarbeiten oder verloren ihren Job und ihr Einkommen. Rücklagen waren schnell aufgebraucht. Teilweise konnten sie wegen Lockdowns und Reisebeschränkungen nicht mal zu ihren Familien in anderen Regionen zurückkehren. In der kurzen Revolte im November 2022 spiegelten sich die unterschiedlichen Erfahrungen wider: hier die politischen Parolen und «weissen Zettel» der jungen Demonstrant:innen in Schanghai und Peking – dort die proletarische Wut und Randale der Foxconn-Arbeiter:innen in Zhengzhou und die Angriffe auf Sicherheitskräfte in Wanderarbeitervierteln in Guangzhou.
Anfang Dezember 2022, kurz nach der Revolte, gab die Regierung plötzlich und unerwartet ihre Null-Covid-Politik auf. In den folgenden Monaten infizierte sich ein grosser Teil der Bevölkerung, Schätzungen zufolge starben etwa zwei Millionen Menschen an einer Covid-Infektion. Auch unter jungen Leuten ist der daraus folgende Vertrauensverlust gegenüber dem Regime enorm, zumal dieses sein Vorgehen gar als angeblichen «Erfolg» bei der Bekämpfung der Pandemie feierte.
Die erwartete wirtschaftliche Erholung nach der Pandemiekrise ist bisher ausgeblieben. Junge Leute trifft das besonders, wie die Zahlen zur Jugendarbeitslosigkeit diesen Sommer belegen. Das Regime verspricht ihnen weiter Wohlstand für harte Arbeit; die Realität sieht jedoch für viele anders aus. Gefährlich werden könnte dem Regime, wenn noch mehr junge Leute still rebellieren oder sich offen verweigern. Neben dem Aufbegehren gegen den Arbeitsdruck wollen viele junge Frauen auch kein oder nur ein Kind gebären, und die Geburtenrate ist so niedrig, dass sich die Arbeitskräfteknappheit weiter verschärfen wird.
Durchhalteparolen des Regimes
Bereits auf die «Hinlegen»-Debatte 2021 reagierte das Regime mit der blossen Betonung auf «harte Arbeit», ohne die kein Aufstieg möglich sei. In der Diskussion über die Jugendarbeitslosigkeit forderte die Kommunistische Jugendliga in diesem Jahr junge Graduierte auf, «die Ärmel hochzukrempeln und in der Landwirtschaft zu arbeiten» – so wie schon die aufs Land geschickten Jugendlichen in den sechziger und siebziger Jahren. Präsident Xi Jinping verlangte, Graduierte sollten sich der Situation stellen und «Bitterkeit essen» (chiku) – ein chinesischer Ausdruck fürs Durchbeissen in schwierigen Situationen. Auf dem chinesischen Microblogdienst Weibo kommentierte das ein User: «Diese Scheisskerle haben sich schon zu lange von den Massen entfernt!»
Ob sich mit Durchhalteparolen die Zersetzung des «chinesischen Traums» von Aufstieg und Wohlstand aufhalten lässt, wird sich erst zeigen. Auch wenn sie unter viel repressiveren Bedingungen agieren müssen: Wut, Witz und Widerstand eines Teils der heutigen jungen Leute in China erinnert an die Aufmüpfigen der Jugendbewegungen in den sechziger und siebziger Jahren in Westeuropa und Nordamerika. Auch damals wandten sich dem Müssiggang frönende «Gammler» und andere Aussteiger:innen gegen ein Leben im Hamsterrad von Lohnarbeit und Konsumzwang. Möglicherweise erleben wir in China die Entstehung einer solchen, für die kapitalistischen Interessen «verlorenen Generation».
Es ist nicht neu, dass sich in China junge Wanderarbeiter:innen gegen Ausbeutung und Arbeitsstress wehren. Wenn allerdings die Unterstützung des Regimes durch die Jungen aus der städtischen Mittelklasse weiter bröckelt, könnte das Herrschaftsmodell der Kommunistischen Partei in Schieflage geraten.