China: Die Weltmacht in der «Müllphase»
Das Regime in Peking ist alarmiert: In der Gesellschaft kursiert ein Begriff, der Arbeit und Disziplin infrage stellt – und die Enttäuschung vieler Leute auf den Punkt bringt.
Anfang Juli sorgte in den chinesischen Onlinemedien der Suizid einer dreissigjährigen Investmentbankerin für Aufregung. In den Diskussionen darüber hiess es, die Frau habe sich verzweifelt vom Dach des Firmengebäudes ihres Arbeitgebers gestürzt, weil sie aufgrund von Gehaltskürzungen, hohen Hypothekenraten und dem Wertverlust von Immobilien unter Druck gestanden sei. In den Beiträgen wurden auch Verbindungen zur allgemeinen Situation im Land und zu den Belastungen durch diverse Krisenerscheinungen gezogen. Dabei fiel immer wieder ein Begriff, der die derzeitigen Probleme und Enttäuschungen vieler Menschen in der Volksrepublik China auf den Punkt bringt: «historische Müllphase».
Der Begriff «Müllphase», auf Englisch «garbage time», stammt aus dem Sport. Er wird insbesondere im Basketball für die Zeit am Ende eines Spiels verwendet, wenn ein Team mit grossem Vorsprung führt. Der Ausgang des Spiels ist entschieden, aber es dauert noch eine Weile an. Die Restzeit gilt als sinn- und wertlos, als Müll halt. Die Teams wechseln Ersatzspieler:innen ein und lassen die Partie ausplätschern. Im chinesischen Internet tauchte der Begriff erstmals im September 2023 als Bezeichnung für eine Epoche auf.
Schlechte Stimmung
Der Schriftsteller Hu Wenhui bezeichnete in einem Blogbeitrag auf der Plattform Weibo die Spätphase der Sowjetunion unter KPdSU-Generalsekretär Leonid Breschnew (1964–1982) als «historische Müllphase». Die Entwicklung von Ökonomie und Militär in der Sowjetunion sei in dieser Zeit immer stärker hinter derjenigen in den USA zurückgeblieben. Nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan 1979 habe die «Müllphase» der sowjetischen Geschichte begonnen. Ähnliche Phasen hat es Hu zufolge auch in China gegeben, so am Schluss der Tang-Dynastie Ende des 9. Jahrhunderts und am Schluss der Ming-Dynastie Mitte des 17. Jahrhunderts. Der Beitrag bezog sich nicht auf die heutige Zeit – Kommentare zu früheren Dynastien werden in China allerdings oft als solche zur aktuellen Situation verstanden.
Hu Wenhui schlug vor, in einer «Müllphase», in der sich das Schicksal nicht mehr ändern lässt, am besten auszusteigen oder sich «hinzulegen». Der Begriff des «Hinlegens» verbreitete sich bereits in den letzten Jahren viral und beschreibt die Haltung junger Leute, die sich dem sinnlosen Abschuften und dem Streben nach einer beruflichen Karriere entziehen und versuchen, stattdessen nichts zu tun (siehe WOZ Nr. 43/23).
Hus Blogbeitrag wurde in den folgenden Monaten im Netz diskutiert und der Begriff «historische Müllphase» auch mit einem anderen in Zusammenhang gebracht: «Involution», wörtlich: Rückentwicklung oder Verfall. Involution steht für das Leben und die Lohnarbeit in einem Hamsterrad, in dem Leute rennen und rennen, ohne voranzukommen, sowie für die resignative, abwartende Haltung von Menschen als Folge dieser Stagnation. Involution, so ein Netzkommentar vor einigen Wochen, sei ein Ausdruck der angebrochenen «historischen Müllphase».
Die Diskussion bringt eine zunehmend schlechte Stimmung in der Bevölkerung zum Ausdruck. Insbesondere die Millionen Wanderarbeiter:innen leiden seit Jahren unter stagnierenden Löhnen und den zuletzt gestiegenen Preisen für Konsumartikel. Damit verschärft sich der wirtschaftliche Druck, der schon durch hohe Wohnungs- und Bildungskosten sowie die ungenügende Absicherung mittels unterfinanzierter Sozialversicherungen besteht. Junge Leute sind ausserdem von einer hohen Jugendarbeitslosigkeit betroffen, von der zunehmenden Schwierigkeit, nach der Ausbildung oder dem Studium angemessene oder gar gute Jobs zu finden, sowie von blockierten Aufstiegschancen in den Unternehmen. Die Mittelklasse stöhnt über die Entwertung von Wohneigentum durch die anhaltende Immobilienkrise und den Rückgang der Börsenkurse. Und viele sind auch die zunehmende Überwachung und Gängelung leid, die ihren Alltag bestimmen.
Das Regime der Kommunistischen Partei ist alarmiert. Seine Legitimität fusst seit langem auf der steten Verbesserung der Lebensbedingungen für die Mehrheit der Bevölkerung. Schon die strikten «Null Covid»-Massnahmen während der Pandemie, das abrupte Ende dieser Massnahmen nach breiten Protesten Ende 2022 und die anschliessende unkontrollierte Ausbreitung des Virus liessen das Regime zuletzt schlecht aussehen.
Stagnation statt Blüte
Den zunehmenden Problemen stehen die Versprechungen des Regimes gegenüber. Dieses hatte nicht nur weitere wirtschaftliche Verbesserungen angekündigt, sondern spricht seit 2021 davon, die Armut überwunden und eine «Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand» erreicht zu haben. Im gleichen Jahr kündigte das Regime an, gegen die enorme soziale Ungleichheit vorzugehen und im Land für einen «gemeinsamen Wohlstand» zu sorgen (siehe WOZ Nr. 36/21).
Statt Verbesserungen und einer Blütezeit erfahren viele Menschen in der Volksrepublik jedoch Stagnation. Der vom Regime erhoffte Post-Covid-Aufschwung ab 2023 blieb aus, und die Immobilienkrise hat sich noch verschärft. Die Mitte Juli 2024 veröffentlichten Zahlen zeigen, dass auch die jüngste Entwicklung nicht den Erwartungen des Regimes entspricht. Das wirtschaftliche Wachstum liegt mit 4,7 Prozent im zweiten Quartal 2024 unter den angepeilten 5 Prozent, Industrieproduktion und Einzelhandelsumsatz fielen ebenfalls niedriger aus als erhofft.
Gegenmassnahmen wurden von der 3. Plenartagung des aktuellen Zentralkomitees der KP Chinas erwartet, die nach vorjähriger Verschiebung Mitte Juli stattfand. Das Zentralkomitee trifft sich etwa alle fünf Jahre zu einer solchen Tagung, um speziell die Wirtschaftspolitik der kommenden Jahre festzulegen. Begonnen hat diese Praxis 1978, als auf der 3. Plenartagung des damaligen Zentralkomitees jene Marktreformen angekündigt wurden, die das sozialistische System letztlich in den Kapitalismus führen sollten. 1993 wurde der Reformprozess wiederbelebt, der nach der Niederschlagung der Tian’anmen-Platz-Bewegung gestockt hatte, und 2013 wurde das Ende der Ein-Kind-Politik angekündigt.
Weitreichende Entscheidungen gab es keine, wurden letztlich doch nur bereits in den letzten Jahren beschlossene Ziele bestätigt. So sollen unter anderem Ressourcen in die «Produktivkräfte neuer Qualität» fliessen, wie es bereits seit 2023 heisst. Damit werden Sektoren wie die Hightechindustrie oder die Produktion erneuerbarer Energien bezeichnet, die alte Sektoren wie die Konsumgüterindustrie als Wachstumsmotoren ablösen sollen. Der Staat soll die notwendigen Ressourcen für diesen Wandel mobilisieren. Anders als bei früheren Tagungen wurden diesmal auch Fragen der nationalen Sicherheit aufgenommen, so der Schutz von Investitionen im Ausland und die Wahrung der eigenen Interessen in nahe liegenden Weltregionen.
Die aktuellen inländischen Krisen mit ihren sozialen Auswirkungen werden im Abschlussdokument kaum erwähnt, das Streben der Parteiführung nach äusserer und innerer Stabilität schon. Die Lösung lang bestehender struktureller Probleme wie etwa der niedrige Inlandskonsum und die Abhängigkeit der Wirtschaft von staatlichen Investitionen sind durch die beschlossenen Massnahmen in den nächsten Jahren deshalb nicht zu erwarten.
Ein Blick auf die derzeitige Lage zeigt, dass das Regime aussenpolitisch herausgefordert wird durch globale Krisen und die verschärften Konflikte um Ressourcen, Märkte und Einfluss mit den Konkurrenten aus den USA und deren Verbündeten. Innenpolitisch könnten die soziale Wut und die Unzufriedenheit zu weiteren Protesten führen. Die Diskussion um die «historische Müllphase», Ausdruck dieser Unzufriedenheit, kommt da zur Unzeit.
Schon in der Debatte über das «Hinlegen» hatten sich Vertreter des Regimes empört gegen den Begriff ausgesprochen und die jungen Leute aufgefordert, weiter hart zu arbeiten. Staatliche Medien und regimenahe Kommentator:innen wenden sich nun vehement gegen den neuen Begriff. Wang Wen, Leiter eines Thinktanks an der Pekinger Volksuniversität, hält die «Müllphase» für noch gefährlicher als das «Hinlegen», weil der neue Begriff den Aufstieg der Volksrepublik leugne und die Erwartung schüre, das Land werde letztlich scheitern.
Die Wunder betont
Qiao Liu, Fakultätsleiter an der Peking-Universität, bezeichnete den Ausdruck als «erzählerische Falle». Er unterstelle fälschlicherweise, die Volksrepublik habe den Höhepunkt ihrer Entwicklung schon erreicht. Und die «Peking-Rundschau», Sprachrohr der Kommunistischen Partei in der Hauptstadt, bezeichnete ihn als «durch Fakten widerlegt» und betonte dagegen die «Wunder» der schnellen wirtschaftlichen Entwicklung und der lang anhaltenden sozialen Stabilität im Land. Diese wären nicht möglich gewesen, wenn die Leute sich «hingelegt» hätten.
Alle drei betonen den wirtschaftlichen Aufstieg der Volksrepublik China in den letzten dreissig Jahren, der ausser Frage steht. Unklar bleibt allerdings, ob das Land in eine längere Phase von Krise und Stagnation eingetreten ist. In der Onlinediskussion über die «historische Müllphase» wurde unter anderem ein Bezug hergestellt zum Begriff der langen Phasen der Geschichte («longues durées») des französischen Historikers Fernand Braudel, also der langfristigen Entwicklung von Regionen abseits von Konjunkturen und Einzelereignissen.
Die Debatte erinnert jedoch eher an den italienischen Soziologen Giovanni Arrighi, der die Konzepte Braudels kritisch aufnahm. In seiner Untersuchung der kapitalistischen Hegemonialmächte seit dem 16. Jahrhundert spricht Arrighi von systemischen Zyklen der kapitalistischen Entwicklung und beschreibt auch Phasen der Stagnation und des ökonomischen Verfalls.
Sollte die Volksrepublik China nach dem sozialistischen Aufbau, der Reformphase und dem Aufstieg zur kapitalistischen Weltmacht statt des erwarteten «chinesischen Jahrhunderts» und der vom Regime angekündigten «nationalen Erneuerung» schon die «Müllphase» der neueren chinesischen Geschichte erreicht haben? Die Zukunft wird es zeigen.