Argentinien vor der Wahl: Mit der Kraft der Frauen gegen die Kettensäge

Nr. 46 –

Der rechtslibertäre Präsidentschaftskandidat Javier Milei will Argentiniens Wirtschaft umkrempeln und die Frauenrechte einschränken. Doch er stösst auf den Widerstand einer starken feministischen Bewegung.

Der Monatslohn von Verónica Gonzáles* reicht nicht aus, um die Miete zu bezahlen. Um über die Runden zu kommen, muss die vierzigjährige Krankenschwester Überstunden machen und sich verschulden. «Brot, Strom, Wasser – alles ist teuer. Ich hoffe, dass der zukünftige Präsident etwas an dieser Situation ändert», sagt sie, während sie ihrer sechsjährigen Tochter auf dem Spielplatz zuschaut. Die alleinerziehende Mutter lebt mit ihren drei Kindern in Ituzaingó am Rand des Grossraums Buenos Aires. Hier ist die Armutsrate besonders hoch: 45 Prozent der Menschen leben unter der Armutsgrenze – ihr Einkommen reicht nicht aus, um die Grundbedürfnisse abzudecken.

Frauen wie Gonzáles könnten die argentinische Präsidentschaftswahl am Sonntag entscheiden. Der rechtslibertäre Ökonom Javier Milei tritt zur Stichwahl gegen Sergio Massa an, den Wirtschaftsminister der amtierenden Mitte-Links-Regierung. Umfragen zufolge wird es zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den beiden Kandidaten kommen. Beim ersten Wahlgang am 22. Oktober erhielt Massa 36,8 Prozent der Stimmen und Milei knapp 30 Prozent. Erheblich grösser war der Unterschied unter den weiblichen Wählerinnen: 45 Prozent von ihnen stimmten für Massa.

Die Anti-Todo machen sich breit

Der Aufstieg von Javier Milei ist ein Phänomen. Der 53-Jährige mit Sturmfrisur, der bei Fernsehauftritten schnell die Fassung verliert, bezeichnet sich als Anarchokapitalisten. Er will die argentinische Zentralbank abschaffen und den Peso durch den US-Dollar ersetzen. Mit der «Kettensäge» will er den Sozialstaat beschneiden, öffentliche Ausgaben radikal kürzen und elf der achtzehn Ministerien schliessen – darunter das Bildungs-, das Gesundheits-, das Arbeits- und das Frauenministerium. An ihre Stelle soll ein «Ministerium für Humankapital» treten. Mit diesen Massnahmen will Milei die Inflation bekämpfen – die Hauptsorge der meisten Argentinier:innen. Die jährliche Teuerungsrate hat in diesem Jahr die Hundertprozentmarke überschritten.

Im Vergleich zu anderen Ländern Lateinamerikas ist der Sozialstaat in Argentinien relativ stark ausgebaut: Öffentliche Bildung und Gesundheitsversorgung sind kostenlos, Arme und Arbeitslose erhalten staatliche Unterstützung. Milei hat den Staat zum «Feind» erklärt – er sei «das Problem und nicht die Lösung». Er will aber nicht nur Argentiniens Wirtschaft mit extremen neoliberalen Reformen umkrempeln. Milei ist auch Abtreibungsgegner, will den obligatorischen Sexualkundeunterricht abschaffen und spricht sich für den freien Zugang zu Schusswaffen aus. Eine Politikerin aus seiner Partei hat vorgeschlagen, ein Gesetz zu verabschieden, das Männern erlauben soll, sich von der Vaterschaft loszusprechen, um keinen Unterhalt zahlen zu müssen.

Viele seiner Vorhaben richten sich direkt gegen Errungenschaften der feministischen Bewegung. Und die ist in Argentinien besonders stark: 2015 trat die Bewegung gegen Femizide «Ni una menos» (Nicht eine weniger) eine feministische Welle in ganz Lateinamerika los. Im tief katholisch geprägten Argentinien erreichten Frauen und Queers die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen sowie die Gründung eines Ministeriums für Frauen, Gender und Diversität.

«Milei steht für eine neoliberale extreme Rechte», sagt die Politikwissenschaftlerin Valeria Brusco. Manche vergleichen ihn mit Donald Trump, aber Brusco ist anderer Meinung: «Trump vertrat einen wirtschaftlichen Protektionismus, um die nationale Industrie zu schützen. Milei hingegen will alles dem Markt überlassen.» Brusco erforscht die Beweggründe der Menschen, die Milei wählen. Dabei hat sie die Entstehung einer neuen politischen Identität in Argentinien festgestellt: die Anti-Todo. Die Haltung bezeichnet Personen, die «gegen alles» sind. Die meisten davon seien junge Männer, die sich durch die Coronalockdowns eingeschränkt fühlten und von den traditionellen politischen Parteien enttäuscht seien. Eine Umfrage der Universidad Nacional de Córdoba unter 10 000 Milei-Wähler:innen, an der Brusco mitgearbeitet hat, zeigt: 63 Prozent lehnen die politischen Parteien ab, 80 Prozent sind gegen die Besteuerung von grossen Vermögen, und 60 Prozent halten feministische Forderungen für exzessiv.

Mehr Waffen, mehr Gefahr

Einer von ihnen ist der 26-jährige Luciano Gómez*. Er interessiert sich kaum für Politik, identifiziert sich mit keiner Partei. Den Vorschlag von Milei, die Zentralbank abzuschaffen und den US-Dollar einzuführen, findet er gut. «Milei hat eine Lösung für die Inflation», sagt er auf einer Parkbank im Parque Rivadavia in einem Mittelschichtsviertel in Buenos Aires. Massa hingegen hält er für einen der Verantwortlichen für die Wirtschaftskrise. «Ich möchte für jemanden stimmen, der neue Ideen hat, und nicht für jemanden, der so weitermachen will wie bisher. Wie soll sich dann etwas verändern im Land?» Milei gebe ihm Hoffnung.

Gómez arbeitet als Promoter für ein australisches Unternehmen und wirbt auf sozialen Netzwerken für digitale Produkte. Er wird in US-Dollar bezahlt, sein monatliches Einkommen liege bei etwa 500 Dollar. Während das in Australien noch nicht einmal ein Viertel des Mindestlohns ausmacht, verdient Gómez in Argentinien mehr als das Dreifache des Mindestlohns – je nach Wechselkurs.

Mit den frauenfeindlichen Aussagen Mileis ist der junge Mann nicht einverstanden, er befürwortet die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Das Vorhaben, das Frauenministerium zu schliessen, unterstützt er aber. «Das Ministerium hat nicht dazu geführt, dass es weniger Gewalt gegen Frauen gibt – es führt nur zu unnötigen öffentlichen Ausgaben», sagt er. Feminismus und LGBTIQ+-Aktivismus diene nur der Selbstdarstellung, findet er.

Auch den freien Zugang zu Schusswaffen hält Gómez für einen guten Vorschlag. Er erzählt die Geschichte von einem Freund, bei dem eingebrochen wurde. Die Einbrecher hätten ihn verprügelt. «Wenn mein Freund eine Waffe gehabt hätte, dann hätte er sich verteidigen können», sagt er.

Verónica Gonzáles hingegen macht sich Sorgen, dass Amokläufe an Schulen zunehmen könnten, wenn der Waffenbesitz erleichtert würde. «Ich muss hier im Park schon aufpassen, dass mir niemand die Tasche klaut oder meine Tochter entführt – wie soll das denn mit Waffen werden?», fragt sie. Auch mit Mileis Plänen, das Bildungssystem zu privatisieren, ist sie nicht einverstanden. «Ich komme jetzt schon nicht über die Runden. Wie soll ich dann noch Schulgebühren für meine Kinder bezahlen?»

Feministinnen und queere Aktivist:innen in Argentinien sind alarmiert. «Die Stimme der Frauen gegen Milei ist eine Stimme der Selbstverteidigung», sagt die 54-jährige Soziologin und Schriftstellerin María Pía López, die seit der Entstehung von Ni una menos Teil der Bewegung ist. Der feministische Aufbruch habe zu einer starken Politisierung der Frauen geführt. «Die jungen Frauen sind mit dem Feminismus aufgewachsen. Sie haben sich in ihrem Viertel, in der Schule oder an der Uni kollektiv organisiert – diese Erfahrung hat eine ganze Generation geprägt», sagt López. Die jungen Männer hätten keinen solchen Politisierungsprozess durchlebt. «Sie waren alleine, fühlten sich durch den Feminismus bedroht, und dann kam auch noch Corona», sagt die Soziologin. Das habe sie möglicherweise für rechtsextreme und libertäre Diskurse anfälliger gemacht.

Auch wenn Milei die Wahl nicht gewinnt – der von ihm verbreitete Diskurs der Gewalt und des Hasses hat bereits Spuren in der Gesellschaft hinterlassen. Er habe «die Schwelle des Sagbaren verschoben», sagt López. Milei hat zum Beispiel die Zahl der während der letzten Militärdiktatur (1976–1983) Verschwundenen angezweifelt. Victoria Villarruel, die bei einem Wahlsieg Vizepräsidentin würde, kommt aus einer Militärfamilie und verharmlost die Menschenrechtsverbrechen der Diktatur. Argentinien hat im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern viel Aufarbeitungs- und Erinnerungsarbeit geleistet; die führenden Mitglieder der Militärjunta wurden zu langen Haftstrafen verurteilt.

«Es gab in Argentinien einen Pakt des ‹Nie wieder›. Dieser Pakt ist zerbrochen», sagt López. «Seit dem Ende der Diktatur ist noch nie eine politische Kraft zu einer Wahl angetreten, die den Staatsterrorismus verteidigt.»

Sergio Massa ist allerdings auch nicht der Kandidat, den sich viele Feministinnen gewünscht hätten. Er vertritt einen konservativen Flügel des Peronismus, steht dem Unternehmenssektor nahe. Die politische Richtung, benannt nach Juan Perón, der 1946 zum ersten Mal die Regierung übernahm, hat unterschiedliche Fraktionen. Historisch steht sie für einen starken Sozialstaat, dessen Ziel Peróns Ehefrau Eva einst wie folgt definierte: «Wo es ein Bedürfnis gibt, wird ein Recht geboren.»

Angesichts der politischen Mitte-Rechts-Orientierung von Massa sind nicht alle Feminist:innen bereit, sich offen für seine Wahl auszusprechen. Auch manche linke Parteien rufen zur Wahl «gegen Milei» auf, aber nicht «für Massa». In der feministischen Bewegung gebe es aber einen Konsens, dass Milei eine Gefahr darstelle, sagt die Soziologin María Pía López. Kollektive und Gruppen im ganzen Land organisieren Aktionen, um den Wahlsieg des rechtsextremen Kandidaten zu verhindern.

Mit queerem Humor

Eine von ihnen ist die Gruppe «Lesbianxs con Cristina». Sobald es dunkel wird, ziehen die Aktivist:innen durch die Stadtviertel von Buenos Aires, werfen Flyer in Briefkästen, kleben Sticker auf Laternenpfähle und hängen an Bushaltestellen Plakate auf. «Lasst uns die Katastrophe verhindern – Nein zu Milei» ist auf einem der Plakate zu lesen. «Milei ist eine Gefahr für alle, die keine heterosexuellen Männer aus einer bestimmten sozialen Klasse sind», sagt die 34-jährige Rocío Zuviría. Die Präsidentschaftswahl habe dazu geführt, dass fast überall über Politik geredet werde. Aber es gebe eine Art kommunikative Schranke zwischen denen, die Milei wählten, und jenen, die Massa wählten. «Wir müssen einander zuhören. Ich kann die Menschen verstehen, die wütend sind. Die Inflation betrifft uns alle.»

Auf sozialen Netzwerken verbreitet das Kollektiv Memes, die sich über Milei lustig machen und zur Wahl von Massa aufrufen. «Der Humor überbrückt die Schranken. Unsere Ästhetik des lesbischen Aktivismus kommt bei jungen Frauen und Queers an, die vielleicht durch die offizielle Kampagne nicht erreicht werden», sagt sie. Auf den sozialen Netzwerken ist auch Javier Milei bekannt geworden, im Wahlkampf bietet er dort einfache Lösungen für komplexe Probleme wie die Teuerung an.

«Die Ursachen für die Inflation sind vielfältig», sagt die feministische Ökonomin Camila Baron. «Es ist absurd, sie nur durch die öffentlichen Ausgaben erklären zu wollen.» Argentinien befinde sich seit mehr als acht Jahren in einer Wirtschaftskrise. Ein Kredit von über fünfzig Milliarden US-Dollar, den der rechte Expräsident Mauricio Macri 2018 beim Internationalen Währungsfonds (IWF) aufnahm, führte zu einem hohen Schuldenberg. Zu den Schulden im Ausland kommen die im Inland hinzu, eine informelle Wirtschaft, die negative Handelsbilanz sowie die Folgen der Pandemie.

Ob Milei seine Kettensägenfantasien ins Werk setzen kann, bleibt deshalb ungewiss. Gerade die Frauen spüren, dass sie die Kosten für seine Pläne tragen würden, sagt Politikwissenschaftlerin Valeria Brusco. «Viele leisten Care-Arbeit: Sie kümmern sich um Kinder, Kranke und ältere Menschen. Sie stimmen nicht dafür, alles umzustürzen.» Verónica Gonzáles sagt, als Frau und als Mutter könne sie nur Sergio Massa wählen. «Milei will uns Frauen unsere Rechte wegnehmen. Das wäre ein grosser Rückschritt.»

* Nachnamen auf Wunsch der Gesprächspartner:innen geändert.