Sachbuch: Griffe nach dem Balkan
Der Westbalkan ist für autoritäre Regimes wie China, Russland, die Vereinigten Arabischen Emirate oder die Türkei wirtschaftlich attraktiv. Denn es «locken niedrige Löhne, kaum Schutz der Arbeitskräfte, die manchmal mit Windeln arbeiten müssen, weil Toilettenpausen nicht vorgesehen sind, sowie niedrige Umweltstandards und der kurze Weg zur nötigen Genehmigung». Anhand zahlreicher Beispiele zeigt der renommierte Politikwissenschaftler und Südosteuropaspezialist Florian Bieber in seinem Buch «Pulverfass Balkan» auf, wie diese wirtschaftlichen Beziehungen Demokratie und Rechtsstaat aushöhlen und welche negativen Folgen sie für die Umwelt und die Einwohner:innen haben.
Seine differenzierte und gut lesbare Analyse widmet sich jedoch nicht nur den ökonomischen Aspekten, sondern erklärt auch, wie die oben genannten Regimes auf dem Westbalkan Fuss fassen konnten. Dabei geht er neben den wirtschaftlichen und politischen Dimensionen der Beziehungen auch gesellschaftlichen, kulturellen und historischen nach. Eine von China finanzierte und gebaute «Autobahn ins Nirgendwo» in Montenegro ist genauso Thema wie die Rolle einer türkischen Fernsehserie im Kontext der Erinnerung ans Osmanische Reich oder die wachsende Zahl arabischer Tourist:innen in Bosnien und Herzegowina, die sich von den Vorzügen des liberalen bosnischen Islam angezogen fühlen. Durch diesen Ansatz werden auch zahlreiche Widersprüche sichtbar. So investieren die Türkei und die Emirate insbesondere in Serbien, obwohl sich die Türkei als Schutzmacht der Muslim:innen auf dem Balkan gibt und die Emirate als eines der ersten Länder den Kosovo anerkannten.
Ausführlich geht Bieber auch auf das Versagen der EU ein, die Region in den letzten zwanzig Jahren zu integrieren. Dadurch habe sie diese erst zum «Spielball globaler Mächte» gemacht. Doch droht deswegen auch ein neuer Krieg, wie der reisserische Titel, dem man zumindest ein Fragezeichen gewünscht hätte, suggeriert? Florian Bieber schreibt zwar, die Region drohe nicht wie ein Pulverfass zu explodieren. Er warnt aber auch, vergangene und drohende Kriege seien in den serbischen Medien und in der Politik derzeit omnipräsent. Solche Propaganda habe die Kriege der 1990er Jahre mit ermöglicht.