Reiseliteratur: Auf dem Pfad der verdrängten Geschichte
Wer vor einer Islamisierung Europas warnt, kennt den Kontinent schlecht: Zu einem guten Teil ist dieser seit Jahrhunderten islamisch. Tharik Hussain erzählt in «Das Minarett in den Bergen» von einer Entdeckungsreise durch den Westbalkan.

«Das Minarett in den Bergen» von Tharik Hussain ist ein Buch für Schweizer:innen. Hierzulande gibt es zwar Berge, aber kaum Minarette, erst recht nicht in den Bergen, und unsere Verfassung verbietet, von einer Mehrheit der Stimmbevölkerung so gewollt, den Bau von Minaretten. In der Schweiz leben rund 480 000 Muslim:innen – die meisten von ihnen sind rechtlich «Ausländer:innen». Der Islam ist nach dem Christentum die zweitgrösste Religion des Landes, aber er ist, wie der Westschweizer Politologe und Islamkenner Patrick Haenni einmal sagte, für die Schweizer Gesellschaft «ein fast vollständiges Mysterium».
Hussains Buch ist die Geschichte einer Familienreise durch den Westbalkan im Sommer 2016: Tharik, geboren in Bangladesch, aufgewachsen in London, seine Frau Tamara, als Engländerin geboren, zum Islam übergetreten, und ihre beiden Töchter Amani und Anaiya, vierzehn und zwölf Jahre alt. Gemeinsam reisen sie durch Bosnien-Herzegowina, Serbien, den Kosovo, Nordmazedonien, Albanien und Montenegro, um Geschichte und Gegenwart des Islam in dieser Gegend zu erkunden. Die Familie Hussain reist mit einem 350 Jahre alten Reiseführer, den Evliyâ Çelebi (1611–1683) geschrieben hat. Der osmanische Schriftsteller war einer der grossen Reisenden der Weltgeschichte.
Tharik Hussain stellt sich mit seinem Buch in die reiche Tradition der islamischen Reiseliteratur, die hierzulande nur unzulänglich bekannt ist. Literaturinteressierte kennen am ehesten noch Ibn Battūta, den der französische Autor Mathias Énard in seinem Roman «Strasse der Diebe» (2013) beschworen hat. Der Gelehrte aus Tanger hatte im Mittelalter fast die ganze bekannte Welt bis nach China bereist.
Wie kam die Saudiflagge hierher?
Wie seine grossen Vorbilder will Hussain nicht nur sachlich informieren, sondern auch unterhalten. Nicht nur die Fakten sind ihm wichtig, ebenso aussagekräftig sind die Geschichten, Legenden und Fantasien, die unter den Menschen der bereisten Länder zirkulieren – und ebenso ernst nimmt er die Gedanken und Gefühle der Reisenden selbst. Die literarische Gattung, die so entsteht, könnte man vielleicht als Reiseroman bezeichnen.
Hussain weiss, wie man Spannung aufbaut und Erwartungen weckt. So vermittelt er zum Beispiel zuerst einmal den Schrecken, den er empfindet, wenn er über einem Kloster des liberalen, an der Mystik orientierten Bektaschi-Ordens die Flagge der strikten, intoleranten Saudis wehen sieht – und schon wollen wir wissen, wie die zwei gegensätzlichen Strömungen des Islam an diesem Ort zusammenkommen konnten. Hussain ist unsentimental, witzig und kennt die Bilderwelt in unseren Köpfen. Gräber beschreibt er schon mal als «grüne Holzkisten in Toblerone-Form». Seine Erzählung hat das Flair einer Entdeckungsreise. Wir Lesenden müssen uns nie schämen wegen mangelnder Sachkenntnis, denn was hier verhandelt wird, ist auch dem Autor neu.
Glauben und Bier trinken
Über diese «oft geschmähten und vergessenen Religionsgemeinschaften», so bekennt er, wusste er «fast nichts», bevor er auf den Balkan kam. Da er selbst gläubiger Muslim ist und zudem ein charmanter, respektvoller Gesprächspartner, kommt er leicht mit den verschiedensten gläubigen und nichtgläubigen Menschen ins Gespräch, die ihm und uns ihre Geschichten und Erfahrungen schenken: Menschen, die oft aufblühen, weil da endlich einmal einer vorbeikommt, der sich für sie interessiert. Staunend können wir erleben, wie in diesem Buch, von Kapitel zu Kapitel deutlicher, ein ganzer, mit Leben gefüllter Kontinent aus Verdrängung und Verachtung auftaucht: das islamische Europa. In der Tat, wir müssen umlernen: Europa ruht auf einem antiken jüdisch-christlichen und islamischen Fundament.
Tharik Hussain sucht und findet die toleranten und lebenslustigen Seiten des Islam. Er trifft Muslime, die Bier trinken, und erzählt von islamischen Traditionen, die das Miteinander mit anderen Religionen ebenso wertschätzen wie gleichgeschlechtliche Liebe. Man könnte ihm vorwerfen, dass er die humanen Seiten des Islam idealisiert. Dem wäre zu entgegnen, dass die anderen, die finsteren Seiten der islamischen Geschichte nur zu oft thematisiert werden. Was nottut, ist Vervollständigung. Vor allem aber: Tharik Hussain ist kein distanzierter Beobachter. Als Muslim aus Bangladesch hat er als Jugendlicher in London Rassismus, Verfolgung und Gewalt erlebt. Ihm wurde vermittelt, dass er nicht dazugehört.
Gleichzeitig weiss er als Intellektueller, Lehrer, Wissenschaftler und Journalist die westliche Welt zu schätzen. Die Entdeckung des islamischen Anteils an Europa ist für ihn eine existenzielle Erfahrung, die ihm die Möglichkeit eröffnet, doch noch dazuzugehören. Nicht zuletzt deswegen reisen auch seine Frau und seine beiden Töchter mit: um ihr kulturelles Erbe kennenzulernen.
