Le Monde diplomatique: 26 Texte aus 25 Jahren (2013): Was bin ich?
Über Sinn und Unsinn von Volkszählungen in Exjugoslawien
Seit zwei Jahren kursiert dieser Witz in Bosnien-Herzegowina: Im Erdkundeunterricht fragt die Lehrerin: „Wie viele Einwohner hat unser Land?“ Bleierne Stille. Nur der kleine Ivica schnippt ungeduldig mit den Fingern: „Ich weiß es, ich weiß es!“ – „Und, wie viele sind es?“ – „Ich weiß nicht“, antwortet der Schüler fröhlich. „Bravo“, freut sich die Lehrerin. „Richtig! Woher weißt du das?“
Der Witz bezieht sich auf die Volkszählung, die im Herbst 2011 auf Initiative der EU-Kommission in den Balkanländern Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Kroatien, Mazedonien, Montenegro und Serbien hätte stattfinden sollen: In Mazedonien (circa 2 Millionen Einwohner) wurde der Zensus damals abgebrochen, in Bosnien-Herzegowina wurde er gleich verschoben, und in allen anderen Ländern, in denen man zu Ende gezählt hatte, tobt seither ein Streit über die Ergebnisse.
In Bosnien-Herzegowina (circa 3,7 Millionen Einwohner) soll in diesem Oktober, also mit zwei Jahren Verspätung, die erste Volkszählung seit dem Jugoslawienkrieg (1992–1995) nachgeholt werden. Sie wird in enger Kooperation mit Eurostat organisiert, doch schon im Vorfeld hagelt es Kritik von allen Seiten.
„Es wird aber auch alles und jedes politisiert“, empört sich Dennis Gratz, Jurist, Filmemacher und Vorsitzender von Nasa Stranka (Unsere Partei), einer sozialliberalen, antinationalistischen Partei, die seit 2008 existiert. Gegründet wurde sie von Gratz, dem ehemaligen Kriegsreporter Predrag Kojović und den Filmregisseuren Danis Tanović („No Man’s Land“) und Dino Mustafić. „Man will die Bürger von Bosnien-Herzegowina unbedingt zwingen, sich zu einer bestimmten ethnischen Zugehörigkeit zu bekennen. So etwas gibt es nirgendwo sonst in Europa. Das ist mal wieder ein perfektes Beispiel für die Absurdität des bosnischen Systems.“
Tatsächlich geht es nicht einfach nur darum, die Menschen an verschiedenen Orten zu zählen; man will vor allem wissen, zu welcher „Nationalität“ sie sich bekennen. In den bosnisch-herzegowinischen Gemeinden geht die Furcht um, die Zählung laufe darauf hinaus, die kriegsbedingten Umsiedlungen und „ethnischen Säuberungen“ zu ihren Ungunsten rechtsgültig zu machen und damit festzuschreiben.
Staatsbürgerschaft und Nationalität: Anderswo mögen diese beiden Begriffe mehr oder minder synonym gebraucht werden – nicht jedoch in Exjugoslawien. So besitzen etwa die Einwohner von Bosnien-Herzegowina alle die bosnische Staatsbürgerschaft, können aber bosniakischer, kroatischer oder serbischer Nationalität sein.Und die Bewohner Serbiens (circa 7,2 Millionen Einwohner) sind keineswegs alle serbischer Nationalität, sie können auch Ungarn, Albaner, Roma, Bosniaken, Bulgaren oder Rumänen sein. Übrigens wurde bei den Volkszählungen im früheren Bundesstaat Jugoslawien auch schon nach der Volkszugehörigkeit gefragt. Damals mussten die Bürger außerdem noch ihre Muttersprache und ihre Konfession angeben, wobei man sich auch als Atheist oder Agnostiker bezeichnen konnte.
Im Herbst 2012 wurden in 60 Ortschaften in Bosnien-Herzegowina bereits vorbereitende Pilotzählungen durchgeführt, die allerdings sehr überraschende Ergebnisse erbrachten: Nicht weniger als 35 Prozent der Gezählten bezeichneten sich keineswegs als „Bosniaken“, „Serben“ oder „Kroaten“, sondern als „Bosnier“, „Herzegowiner“ oder sogar als „Bosno-Herzegowiner“. Es wäre tatsächlich eine Art politischer Erdrutsch, sollten sich diese Ergebnisse im Oktober landesweit wiederholen.
Seit den Friedensverträgen von Dayton 1995 ist das gesamte politische Leben in Bosnien-Herzegowina darauf ausgerichtet, das Gleichgewicht zwischen den drei großen konstitutiven Volksgruppen der Serben, Kroaten und Bosniaken zu wahren. Der Europäische Gerichtshof hat das Land bereits wegen diskriminierenden Verhaltens gegenüber seinen Minderheiten verurteilt. Laut Verfassung dürfen beispielsweise Bosno-Herzegowiner, die jüdischer Herkunft oder Roma sind, weder für das dreiköpfige Staatspräsidium noch für die Völkerkammer des Parlaments kandidieren.
Derweil fühlen sich die Nationalisten unter den drei „Staatsvölkern“ schon im Belagerungszustand. Die Kroaten befürchten einen Bevölkerungsschwund: Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung, der 1991 noch 17,5 Prozent ausmachte, könnte bald auf 10 Prozent gesunken sein. Da der Großteil von ihnen rund um Mostar in der Herzegowina lebt, könnten kroatische Nationalisten auf ihre alte Idee zurückkommen, neben der Föderation Bosnien-Herzegowina und der Republika Srpska im Norden noch eine dritte, kroatische Entität im Süden zu etablieren.
Auch bei den Bosniaken wächst die Unruhe. Mittels Kampagnen im vergangenen Winter wurden sie systematisch aufgefordert, bei der bevorstehenden Volkszählung auch ja die richtigen Begriffe einzutragen: Nationalität? Bosniake. Sprache? Bosnisch. Religion? Muslimisch. Die bosniakischen Nationalisten befürchten, vor allem unter den Städtern könnten viele ihrer Landsleute sich schlicht als „Bürger“ von Bosnien-Herzegowina deklarieren. Diese Kampagnen wollten im Grunde an die alten Ängste vor den anderen Volksgruppen appellieren: Wenn sich alle Kroaten und Serben auch als solche definieren, würden allein die Bosniaken an Einfluss verlieren.
Dagegen war die Nationalitätenfrage früher nie ein großes Thema. Jeder traf seine eigene Wahl. Slobodan Milošević etwa bezeichnete sich als Serbe, sein Bruder Borislav dagegen bekannte sich als Montenegriner. 1991 erbrachte die letzte Volkszählung vor dem Zerfall des Bundesstaats sogar mehr „Jugoslawen“ als je zuvor.
Alma Becirić, eine Lehrerin aus Sarajevo, erinnert sich: „Dass ich mich bei der Zählung als Jugoslawin registrieren ließ, war keineswegs eine politische Aussage. Es ging einfach nicht anders. Mein Vater war Muslim und meine Mutter Serbin; auch mein erster Mann stammte aus einer gemischten Ehe.“ 1991 erfanden viele Bürger aus Protest gegen den wachsenden Nationalismus absurde Bezeichnungen. In manchen Städten gab es plötzlich Scharen von Eskimos und Marsmenschen. Heute ist sich Frau Beciric nicht mehr sicher, welche Nationalität sie bei der Volkszählung im Herbst angeben soll.
Der Sinn für Satire ist noch nicht ganz verschwunden. 2011 wurden in Kroatien zum Beispiel noch 303 Jedis, 123 Erdlinge, 24 Marsianer und 12 Internationalisten gezählt. Andererseits ist hier die serbische Gemeinschaft durch die kriegsbedingten Wanderbewegungen drastisch geschrumpft: von 12 Prozent (1991) auf 4,36 Prozent der heutigen Bevölkerung Kroatiens. Geschrumpft ist freilich auch die Zahl der Kroaten, die sich zum katholischen Glauben bekennen.
In der kroatische Region Istrien, die in den letzten zwanzig Jahren für nationalistische Anwandlungen am wenigsten empfänglich war, wurden fast ebenso viele Istrier wie Kroaten gezählt. Mario Pušić aus der Kleinstadt Labin erklärt, warum: „Sich als Istrier zu bezeichnen ist eine Form von Verweigerung: Man lehnt es ab, sich zwischen der kroatischen und der italienischen oder auch der serbischen Nationalität zu entscheiden. Istrien war immer eine Vielvölkerregion. Warum kann man diese Mischung nicht anerkennen, als unsere besondere Identität?“
Auch die Jugoslawen sind noch nicht ausgestorben: 2011 bezeichneten sich in Montenegro und Kroatien etliche hundert Menschen als Jugoslawen, in Serbien waren es knapp 23 000. Die meisten von ihnen leben in der Region Belgrad und der Vojvodina; manche von ihnen gehen so weit, sich als rechtlose Minderheit zu bezeichnen. Tatsächlich verfügen die nationalen Minderheiten in Serbien über einen jeweiligen Nationalrat, der ihre kollektiven Rechte, speziell in Bezug auf Sprache und Bildung, verteidigen soll.
In Serbien entstand auch eine Initiative für die offizielle Anerkennung der „Jugoslawen“. Doch das Ansinnen wurde abgeschmettert. Eine jugoslawische Nationalität sei „künstlich“, hieß es von offizieller Seite. Die von der Vojvodina ausgehende Initiative stieß nicht überall auf Verständnis: Viele Bürger Serbiens meinen, dass die „Jugo-Nostalgie“ durchaus nicht im Widerspruch zu einer ausdrücklich bekundeten nationalen Identität stehe.
In Montenegro mit seinen 625 000 Einwohnern wirken die Vorbereitungen zur Volkszählung eher wie eine Wahlkampagne. Vor dem Zensus von 2011 gab es eine Flut von Flugblättern und Wahlplakaten, auf denen die Bürger aufgefordert wurden, sich als „Montenegriner“, „Serben“ oder auch „Bosniaken“ zu bekennen und als „serbisch“- oder „montenegrinisch“-sprachig zu deklarieren. Besonders aktiv war die Serbisch-Orthodoxe Kirche, deren Priester den Gläubigen predigten, sie sollten sich zu ihrem „Serbentum“ bekennen. Dem trat allerdings die autokephale Montenegrinisch-Orthodoxe Kirche entgegen, die der serbischen Kirche die Zuständigkeit für Montenegro abspricht.
Die Entwicklung der Zahlen ist aufschlussreich: Gegenüber dem Zensus von 2003 sank der Anteil der „Serben“ lediglich von 30 auf 29 Prozent (dagegen hatten sich 1991 – also in der alten jugoslawischen Teilrepublik – nur 10 Prozent als Serben bekannt). Wer sich noch heute als serbisch bezeichnet, bekundet damit seinen Widerstand gegen die 2006 verkündete Unabhängigkeit und eine montenegrinische Nationalität.
Im Kosovo fand die letzte richtige Volkszählung 1981 statt. Die späteren wurden boykottiert: 1991 von den Albanern und 2011 von den Serben, die im Norden des Kosovo leben, das sich 2008 für unabhängig erklärte.
Mit den jüngsten Ergebnissen waren allerdings auch die Albaner ganz und gar nicht einverstanden. Nach dem Zensus von 2011 hat das Kosovo nur 1 739 825 Einwohner, was weit unter den meisten Hochrechnungen liegt, die „von mindestens 2 Millionen Menschen“ ausgingen. Ohne den überwiegend serbisch besiedelten Norden mit etwa 50 000 Einwohnern setzt sich die Bevölkerung des Kosovos aus 93 Prozent Albanern, 1,5 Prozent Serben, 1 Prozent Türken, 1 Prozent Aschkali, 0,5 Prozent Roma und 0,5 Prozent Goranen zusammen. Die Volkszählung von 1981 hatte noch 1 584 440 Einwohner ermittelt, davon 77,4 Prozent Albaner, 10 Prozent Serben, 3,7 Prozent Muslime, 2,3 Prozent Roma.
Seit Jahrzehnten tobt im Kosovo ein erbitterter Kampf um die Demografie. Die serbischen Nationalisten prangern die hohe Geburtenrate der Albaner an, die sie mal als Beweis für deren kulturelle Rückständigkeit, mal als politische Strategie interpretieren. Die Albaner sind zweifellos das europäische Volk, bei dem der „demografische Übergang“ zu niedrigeren Geburtenraten am spätesten eingesetzt hat, aber auch die ländliche serbische Bevölkerung weist noch sehr hohe Geburtenraten auf.
Die demografische Besonderheit des Kosovo lässt sich also kaum an der ethnischen Zugehörigkeit festmachen; viel eher reflektiert die Geburtenrate die Unterschiede zwischen Stadt und Land oder den unterschiedlichen sozialen Milieus. Gleichwohl legitimieren die Kosovo-Albaner, quasi als Reaktion auf die abfälligen Urteile der Serben, ihre Forderungen seit Jahren mit ihrer überwältigenden Bevölkerungsmehrheit.
Im Kosovo wie in Mazedonien und Serbien ist das Ringen um die „richtige“ Zahl für die albanischen Nationalisten ein existenzielles Thema. „Uns fehlen die Albaner der Diaspora“, meint Belgzim Kamberi, Präsident des Komitees zum Schutz der Menschenrechte im serbischen Preševo-Tal. „Bei einer Volkszählung im Sommer, wenn die Auslandsalbaner nach Hause kommen, sähe das Resultat ganz anders aus.“
Tatsächlich kann die hohe Geburtenrate auf dem flachen Land die seit Jahren anhaltende Abwanderung in die reicheren europäischen Länder nicht ausgleichen. Daher haben viele Albaner im Preševo-Tal die Volkszählung von 2011 boykottiert. Doch der Sinn einer Volkszählung besteht nun einmal darin, die demografischen Verhältnisse zu einem bestimmten Zeitpunkt abzubilden: Wer nicht da ist, wird nicht gezählt.
Vollends aus dem Ruder lief die ganze Sache in Mazedonien. Dort sollte der Zensus in der ersten Oktoberhälfte 2011 stattfinden. Doch vier Tage vor dem geplanten Abschluss entschied das Organisationskomitee, die Zählung auf unbestimmte Zeit auszusetzen. Die habe, so die Begründung, in manchen Gebieten ohnehin noch gar nicht begonnen; vor allem aber seien in den albanisch besiedelten Gebieten viele Personen mitgezählt worden, die zu dem Zeitpunkt gar nicht im Lande waren, sondern im Ausland lebten.
Der Zensus von 2002 hatte eine Bevölkerungszahl von 2 Millionen Menschen ergeben, von denen sich 64 Prozent als Mazedonier, 25 Prozent als Albaner deklarierten, weitere 11 Prozent als Roma, Türken oder Serben. Dieses Ergebnis hatten die Albaner stets angefochten, die ihren eigenen Bevölkerungsanteil auf ein Drittel oder sogar auf 40 Prozent schätzen. Der albanische Journalist Augustin Palokaj hat keineswegs Unrecht, wenn er von einer „albanischen Zahlenmanie“ spricht.
In Albanien selbst, wo die Volkszählung 2011 durchgezogen wurde (Ergebnis: 3,216 Millionen Einwohner), wurde das Ergebnis von Vertretern der nationalen Minderheiten – Mazedonier, Roma, Griechen und andere – nachträglich kritisiert. Die Allianz Rot und Schwarz (AK), eine neu gegründete nationalistische Bewegung, hatte mit einer vehementen Kampagne verhindert, dass in den Fragebogen überhaupt „ethnische“ Merkmale auftauchten. Die Begründung lautete, solche Fragen zielten darauf, die Einheit des albanischen Volkes zu zerstören. Besonders umstritten sind die Zahlen, die die griechische Minderheit betreffen, die notorisch verdächtigt wird, irredentistische Ziele zu verfolgen.
Die ironische Pointe besteht darin, dass seit dem Fall des kommunistischen Regimes zahlreiche Albaner aus dem Süden des Landes sich gern als Griechen ausgaben, weil sie sich davon eine erleichterte Einwanderung in das bis vor Kurzem noch attraktivere Nachbarland versprachen. Die AK macht dafür die von „Griechenland betriebene Einwanderungspolitik“ verantwortlich, die viele Albaner dazu gebracht habe, zum orthodoxen Glauben zu konvertieren und einen griechischen Namen anzunehmen.
„Das ist eine kaum verhohlene Expansions- und Annexionspolitik“, empört sich die AK-Sprecherin Lumturi Ratkoceri. Tatsächlich werden in allen grenznahen Regionen, zumal in orthodoxen Familien, seit Generationen zwei Sprachen gesprochen. Die kulturelle Nähe ist derart, dass sich von zwei Brüdern der eine als Grieche und der andere als Albaner bezeichnen kann.
Roma, Aschkali und Balkan-Ägypter
Die Unsicherheit über identitäre Zugehörigkeiten hat in der Balkanregion eine lange Geschichte. Ein Beispiel aus jüngerer Zeit: In Bosnien-Herzegowina wurde die offizielle Bezeichnung Muslimani („Muslime im Sinne einer Nation“) erst 1967 eingeführt; davor hatten sich die Bosniaken bei der Angabe ihrer Nationalität nur zwischen „serbisch“, „kroatisch“ und „unbestimmt“ entscheiden können. Bei den ersten Volkszählungen nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die meisten daher die Kategorie „unbestimmt“ angekreuzt. Doch dann unterzeichnete Tito 1954 ein Abkommen mit der türkischen Regierung, das den Balkan-„Türken“, womit alle Muslime im damaligen Jugoslawien gemeint waren, die Auswanderung ermöglichte. Da gab es auf einmal zehntausende Albaner, aber auch muslimische Slawen „türkischer Nationalität“, die sich in die Türkei verabschiedeten.
Die Millionen Einwanderer aus dem Balkan, die in der Türkei leben, gelten in ihrer neuen Heimat offiziell als Türken, weil die Türkei keine nationalen Minderheiten anerkennt. Bis vor wenigen Jahren mussten die Neuankömmlinge sogar ihren Familiennamen ändern. Diese „Neutürken“, die häufig enge Beziehungen zu ihrem Herkunftsland aufrechterhalten, leben folglich mit einer doppelten Identität. Ihre Muttersprache und ihre balkanischen Traditionen können sie nur in den eigenen vier Wänden pflegen. Ähnlich erging es im alten Jugoslawien den nichtalbanischen muslimischen Gemeinschaften im Kosovo und in Mazedonien, also vor allem Roma, Türken und Bosniaken. Sie unterlagen dem ständigen Druck, sich der albanischen Mehrheitskultur anzupassen, der insbesondere über religiöse Einrichtungen ausgeübt wurde.
Was die Roma betrifft, so sind sie seit jeher und überall eine ungewisse statistische Größe. Das liegt zum einen an den Behörden, die oft falsche Angaben über ihre Anzahl machen, und zum anderen an den Roma selbst, die sich je nach den politischen Kräfteverhältnissen mal als Serben oder Albaner (im Kosovo) oder als Mazedonier respektive Albaner (in Mazedonien) bezeichnen.
Hinzu kommt die ständige Verwirrung über die drei ethnisch-nationalen Kategorien der Roma, der Aschkali und der Ägypter (oder Balkan-Ägypter). Alle drei Gruppen werden auf Albanisch als „magjup“ („Zigeuner“) diffamiert und leiden gleichermaßen unter Diskriminierung und sozialer Marginalisierung. Doch lediglich die Roma sprechen Romani, während die Muttersprache der Aschkali und der Balkan-Ägypter, die vorwiegend in Albanien, im Kosovo und in Mazedonien leben, das Albanische ist.
Im Übrigen ist die Trennung zwischen Aschkali und Balkan-Ägyptern ausgesprochen unklar: Im alten Jugoslawien gab es einen „nationalen Schlüssel“ – ein komplexes Quotensystem – nach dem ihnen Posten und Arbeitsplätze zustanden, um die Gleichheit zwischen den nationalen Gemeinschaften zu gewährleisten. Damals hatten diese winzigen Minderheiten das vitale Interesse, ihre Aufsplitterung noch zu unterstreichen, um jeder einzelnen Gruppe die rechtliche Anerkennung zu sichern. Heute dagegen erkennen die kosovarischen Behörden nur eine einzige Kategorie an: die „Roma, Aschkali oder Ägypter“, die in offiziellen Dokumenten häufig unter RAE firmieren.
Alle kleinen Volksgruppen sehen sich stets dem Druck der größeren Gemeinschaften ausgesetzt. So wurden bei der Volkszählung von 2011 im Kosovo die Goranen – muslimische Slawen, die am Westhang des Gebirgszugs Šar Planina leben und eine dem Mazedonischen verwandte Sprache sprechen – von den in Prishtina mitregierenden bosniakischen Parteien mehr oder minder genötigt, sich zu Bosniaken zu erklären. 1981 waren dagegen viele Goranen noch als „Serben muslimischen Glaubens“ erfasst worden. Diese Option existiert heute nicht mehr. „Weder Belgrad noch Prishtina wollten je die Besonderheit der Gora und ihrer Bewohner, der Goranen, anerkennen“, seufzt Mursel Halili, Abgeordneter im kosovarischen Parlament. Im äußersten Norden Serbiens, in der Vojvodina, gibt es ein ähnliches Gezerre um die Identität kleiner katholischer Gemeinschaften, wobei diese Schokatzen und Bunjewatzen mal den Kroaten zugerechnet, mal als katholische Serben bezeichnet werden.
Die Unterscheidung zwischen Nationalität und Staatsbürgerschaft geht auf den Austromarxisten Otto Bauer (1881–1938) zurück, an dessen Konzept man in der Sowjetunion wie auch in Titos Jugoslawien anknüpfte. Zwar hat die Anwendung eines „Nationalitätenschlüssels“ bei der Postenvergabe im damaligen jugoslawischen Bundesstaat auch manchen Missbrauch begünstigte, aber er sorgte auch für die erstaunlich weitgehende Anerkennung und echte Wertschätzung sämtlicher Kulturen. Zum Beispiel wurden die weltweit ersten Radio- und Fernsehprogramme auf Romani im jugoslawischen Kosovo produziert.
Heute beziehen die Nachfolgestaaten der zerfallenen jugoslawischen Föderation ihre Legitimation nicht mehr aus der realsozialistischen Ideologie der „Brüderlichkeit und Einheit“, sondern im Gegenteil aus spezifisch nationalen Ansprüchen. Die allerdings können von den Verfechtern eines Ethnopluralismus leicht dazu missbraucht werden, der eigenen Gemeinschaft exklusive Rechte wie auch die Vorherrschaft über andere Gruppen zu sichern.
Jenseits der ethnopolitischen Dimension ist allen Ländern Südosteuropas eine Entwicklung gemeinsam, deren Folgen dramatisch sein werden: Die Bevölkerung schrumpft und altert zugleich. In den letzten zehn Jahren hat Serbien 300 000 Einwohner, also 5 Prozent seiner Bevölkerung verloren. Das liegt auch an dem fast überall (außer in Albanien) zu beobachtenden Geburtenrückgang, vor allem aber an der Massenauswanderung. Gerade junge Hochschulabsolventen emigrieren nach Westeuropa, Kanada, Australien oder in die USA. Eine neuere Studie zeigt, dass heute bereits 10 Millionen Menschen aus dem westlichen Balkan im Ausland leben.
Aus dem Französischen von Barbara Schaden
Jean-Arnault Dérens ist Chefredakteur des Onlinemagazins Le Courrier des Balkans. Dieser Text erschien im September 2013 in LMd.