Leser:innenbriefe

Existenzielle Bedrohung
«Projektionen im Krieg: ‹Ich will meine Linke wieder zurück›», WOZ Nr. 46/23
Die WOZ zählt in Sachen Einordnungsleistung zusammen mit der «Republik» und der NZZ zu den Besten der gesamten Schweizer Medienszene. So jedenfalls sieht es das jüngste «Jahrbuch Qualität der Medien». Diese hohe Einschätzung bestätigt sich bei der WOZ immer wieder. Ein Paradebeispiel ist das hervorragende Interview mit Meron Mendel, in welchem die eigenartige Rolle von Teilen der Linken im gesamten Nahostkonflikt thematisiert wird, speziell nach dem Massaker der Terrororganisation Hamas vom 7. Oktober. Subtil und kenntnisreich analysiert Mendel den Antisemitismus und die schwierige Gemengelage des Nahostkonflikts – und was alles in diesen Konflikt hineinprojiziert wird. Es wäre zu wünschen, dass einige Linke dieses Interview zum Anlass nehmen, ihren Kompass wieder etwas zu justieren. Das Schweigen grosser Teile der Linken unmittelbar nach dem Massaker war ohrenbetäubend. Wer angesichts dieser Bestialität, wie etwa den vor laufenden Kameras ermordeten Babys, nach «Kontexten» suchen muss, ist politisch bankrott. Die Linke muss – bei aller berechtigten Kritik etwa an der Siedlungspolitik, an der extrem rechten Netanjahu-Regierung und jetzt an möglichen «Notwehrexzessen» in Gaza – wieder verstehen lernen, in welch existenzieller Bedrohungslage sich der Staat Israel nach wie vor befindet.
Jürg Müller-Muralt, Unterseen
Toxisches System
«Klimaaktivismus: Der Sinn des Klebens», WOZ Nr. 44/23
Der Transparenz wegen: Ich bin Sympathisant von Renovate, 65 Jahre alt, schreibe hier meine persönliche Sicht.
In einem Punkt liegt der Autor des Artikels falsch. Er schreibt: «Dahinter [hinter den Aktionen] verbirgt sich aber ein tiefes Vertrauen in die Institutionen.» Dieses ist nicht gegeben. Es liegt die Erkenntnis des völligen Versagens sämtlicher real existierenden Regierungsformen im Bereich der Klimapolitik vor. Ebenso ist innerhalb der Bewegung das Bewusstsein vorhanden, dass der Kapitalismus, der auf Gedeih und Verderben auf Wachstum angewiesen ist, ein toxisches System ist: für das Klima sowie die Umwelt und die Gesellschaft ganz allgemein. Er basiert auf Ausbeutung.
Renovate hat das Ziel, zu einer Massenbewegung zu werden, die die Konsumgesellschaft als Ganzes herausfordert. Das Ziel ist eine extrem schnelle Wende in Sachen Klimapolitik. Eine Revolution, die auch noch glücken soll (nicht wie diejenige des real existierenden Sozialismus), dauert zu lange. Es gibt die exemplarische Forderung bezüglich Gebäudesanierung. In der Erklärung auf der Homepage schreibt Renovate: «Der Wandel hat bereits begonnen, verläuft aber viel zu schleppend und würde beim aktuellen Tempo hundert Jahre dauern.» Das krasse Versagen der Politik wird offengelegt. Die zweite darauf basierende Forderung ist die Deklaration des Klimanotstands. Dieser wäre die Basis für eine zweckdienliche rasante Beschleunigung von Massnahmen.
Es ist bedauerlich, wie schwer es Renovate fällt, ihr Hauptziel einer Massenbewegung des zivilen Ungehorsams zu erreichen. Hier scheint der Kapitalismus ganze Arbeit geleistet zu haben. Er machte die Mittelschicht zu Konsumjunkies, machte sie blind dafür, dass sie mit diesem Konsum am Ast sägt, auf dem sie sitzt. Ich ermutige alle dazu, der Bewegung des zivilen Ungehorsams beizutreten. Entsteht dadurch für einmal eine Revolution, die nicht der Machtgier erliegt, umso besser.
Nils Zubler, per E-Mail
Politische Implikationen
«Working Poor: Dann gibt es wochenlang nur Pasta», WOZ Nr. 47/23
Euer Text zur Situation von Kathrin Weber berührt mich. «Dene wos guet geit, giengs besser / Giengs dene besser, wos weniger guet geit / Was aber nid geit, ohni dass’s dene / Weniger guet geit, wos guet geit» (Mani Matter). Was ich auf der Seite vermisse, sind Gedanken zu politischen Implikationen. Mich interessiert beispielsweise, ob Kathrin Weber wählen geht. Wenn nicht, würde mich interessieren, warum nicht. Mich interessiert weiter, was linke Parteien unternehmen, um Menschen wie Weber politisch anzusprechen. Schaue ich auf die Stimmbeteiligung der vergangenen Parlamentswahlen (46,6 Prozent), besteht hier ein enormer Nachholbedarf. Wie sehen Strategien linker Parteien in diesem Zusammenhang aus? Gibt es sie überhaupt? Vielleicht gäbe das ja einen eigenen Artikel?
Urs Schnell, per E-Mail