Working Poor: Dann gibt es wochenlang nur Pasta
Obwohl Kathrin Weber und ihr Mann arbeiten, reicht das Geld kaum zum Leben – vor allem ihre Kinder leiden unter der Not. Die WOZ hat sie und ihre Familie über Monate begleitet.

Am schlimmsten ist es im Dezember: Dann haben beide Kinder mit nur zwei Tagen Abstand Geburtstag, und eine Woche später ist Weihnachten. Schon Monate zuvor sucht Kathrin Weber in Prospekten nach günstigen Angeboten. Weil das Geld knapp ist, entscheidet der Preis darüber, was ihre Kinder geschenkt bekommen. «Ich kaufe jeweils ein, wenn es in der Migros Rabatt gibt», erzählt die 37-jährige Mutter. Doch dieses Jahr hat sie noch keine Geschenke kaufen können, denn immer wieder flatterten unerwartete Rechnungen in den Briefkasten.
Weber und ihr Mann zählen zu den «Working Poor». Obwohl beide arbeiten, reicht das Einkommen kaum aus, um mit dem zehnjährigen Sohn Denis und der achtjährigen Tochter Ronja über die Runden zu kommen. Derzeit arbeitet Weber, die keine abgeschlossene Lehre hat, zu siebzig Prozent bei einem Discounter. Ende des Monats erhält sie dafür 2900 Franken ausbezahlt. Wie viel ihr Mann bei den SBB verdient, weiss sie nicht. Es fällt ihr manchmal schwer, den Überblick zu behalten. Was sie aber weiss: Wenn alle Fixkosten bezahlt sind, bleiben ihr 500 Franken im Monat für alles andere. Für Lebensmittel, Kleidung, Schulmaterialien und vieles mehr. Wenn Weber ihren Kindern doch einmal etwas kauft, das in ihrem Budget nicht eingeplant ist, dann müssen in den darauffolgenden Wochen Teigwaren gegessen werden. Die WOZ hat Kathrin Weber seit Februar dreimal getroffen. Ihr Leben in dieser Zeit: ein Auf und Ab. Um ihre Familie zu schützen, wird ihr richtiger Name nicht genannt.
Die neusten Daten zur Armut in der Schweiz stammen aus dem Jahr 2021. Demnach sind laut Bundesamt für Statistik rund 134 000 Kinder einkommensarm und rund 275 000 Kinder armutsgefährdet, was einer Armutsquote von 8,7 Prozent und einer Armutsgefährdungsquote von 17,8 Prozent entspricht. In der Schweiz gilt eine Einzelperson als arm, die durchschnittlich 2279 Franken im Monat zur Verfügung hat, bei zwei Erwachsenen mit zwei Kindern gilt ein monatliches Einkommen von 3963 Franken als Schwelle. Armutsgefährdet ist, wer ein deutlich niedrigeres Einkommen als die Gesamtbevölkerung hat. Die Grenze für einen Einpersonenhaushalt liegt bei 2515 Franken im Monat.
Hinter jeder Zahl steckt eine Geschichte. Diejenige von Kathrin Weber beginnt nicht besonders gut. Sie hatte schon schlechte Startchancen, wie sie bei den ersten zwei Treffen in ihrem Wohnzimmer im Februar erzählt. 1986 in Zürich geboren, wächst sie beim Vater und der Grossmutter auf. Womit er sein Geld verdient hat, weiss sie nicht mehr genau. Er habe Post verteilt, sagt sie. Die Mutter arbeitete im Verkauf und auf dem Schlachthof. Noch als sie ein Baby war, trennten sich die Eltern. Schon als Kind musste Weber den Haushalt machen. Der Vater sei Alkoholiker gewesen, sagt sie. Mit der Mutter hatte sie kaum Kontakt, der Vater habe dies verboten. Mit elf riss sie aus, erst nach einigen Tagen griff die Polizei sie auf. Doch eine Vermisstenmeldung machte ihr Vater keine – noch heute ist ihr das Entsetzen darüber anzusehen. Es folgten Aufenthalte in der Psychiatrie und in Heimen. Sie nahm Drogen, unter anderem Kokain.
Im Teufelskreis
Für Menschen wie Kathrin Weber und ihre Kinder ist es meist unmöglich, den Absprung aus der Armutsspirale zu schaffen. Denn Notlagen der Eltern haben gravierende Auswirkungen auf den Lebensweg der Kinder, deren Entwicklungsmöglichkeiten vom Geldbeutel der Eltern beeinflusst werden. «Wie viel eine Familie zur Verfügung hat, hängt stark von der höchsten abgeschlossenen Ausbildung der Eltern ab», sagt Isabelle Lüthi von der Caritas Zürich. Verfüge mindestens ein Elternteil über einen Universitäts- oder Fachhochschulabschluss, sei die Armutsquote der Kinder mit 2,8 Prozent am geringsten. Verfüge hingegen kein Elternteil über eine Ausbildung nach der obligatorischen Schulzeit, liege die Armutsquote der Kinder bei rund 10 Prozent, die Armutsgefährdungsquote steige auf beinahe 40 Prozent. Kinder, die in armutsbetroffenen Familien aufwüchsen, hätten weniger Zugang zu frühkindlicher Bildung, sagt Lüthi: «Dadurch fallen sie hinter Gleichaltrige zurück und können den Rückstand auch später nicht mehr aufholen.»
Erstmals heiratete Weber mit achtzehn Jahren; da lebte sie noch in einem Heim. Den Ehemann habe sie am Hauptbahnhof in Zürich kennengelernt, wo er jobbte. Er habe sie misshandelt, sagt Weber. Sie reichte die Scheidung ein – und blieb auf 50 000 Franken Schulden sitzen, die sie noch immer abzahlt. Sie will kein Mitleid, sie will, dass man versteht, was es heisst, wenn für die eigenen Kinder das Geld gerade so zum Leben reicht. Sie will, dass es den beiden besser gehen wird als ihr. Sie redet schnell und lächelt viel – auch wenn das, was sie erzählt, oftmals bitter ist.
Vor vierzehn Jahren lernte sie ihren jetzigen Mann kennen. Damals steckte sie noch im Scheidungsverfahren. Eine Kollegin vermittelte ihr den Kontakt zu einem Mann, der in Marokko lebte. Sie schreiben sich, dann fliegt sie zu ihm. «Wegen der dortigen Kultur haben wir uns recht schnell verlobt», erinnert sie sich. Geheiratet haben sie im Jahr 2012. Da ist sie im siebten Monat mit ihrem Sohn Denis schwanger. Zwei Jahre später wird ihre Tochter geboren. Doch Ronjas Gesundheit ist prekär. Sie kam mit nur einem Ohr zur Welt. Weitere Krankheiten kommen hinzu, unter anderem ist das Kind entwicklungsverzögert. Weber holt einen blauen Ordner hervor, in dem sie die medizinischen Dokumente von Ronja abgeheftet hat. Während sie davon erzählt, sitzt die Tochter neben ihr auf dem Sofa und spielt.
Ihr Mann habe in Marokko «etwas mit Wirtschaft und Finanzen studiert», aber im Service gearbeitet. Sein Abschluss wurde hier nicht anerkannt. Die Familie brauchte staatliche Unterstützung. Das Wort «Sozialamt» spricht Weber leise aus. «Diese Bevormundung ist nicht meine Welt», sagt sie. Nach einem Jahr fand ihr Mann Arbeit bei der SBB-Reinigung. Inzwischen arbeitet er dort beim Rangierdienst. Nach drei Jahren Mutterschaft wurde auch Weber wieder erwerbstätig.
Während sie all das erzählt, erwähnt sie am Rande, sie und ihr Mann seien mittlerweile getrennt. Zwar lebe man noch gemeinsam in der Wohnung, doch ein Paar seien sie nicht mehr. Zu gross sei der Stress der vergangenen Jahre gewesen; sie hätten es als Familie nicht geschafft, nun gehe es darum, die Trennung zu organisieren. Eine Scheidung, das weiss sie, ist ein zusätzliches Armutsrisiko. «Ich arbeite, ich habe zwei Kinder, ich muss den Haushalt machen.» Bei den Arztterminen mit Ronja sei sie immer allein: «Es ist sehr viel.» Doch für ihre Kinder sei sie bereit, immer zu funktionieren. Dann holt sie ihr Handy hervor und zeigt Bilder von Kuchen, die sie gebacken hat – das sei viel billiger, als in der Bäckerei einzukaufen. Der Familienalltag stresst auch die Kinder. Sie bekommen mit, wie hart die Eltern arbeiten und wie knapp das Geld ist. Der zehnjährige Sohn muss mehr Verantwortung übernehmen als Gleichaltrige in bessergestellten Haushalten. Die Eltern können es sich kaum erlauben, bei der Arbeit zu fehlen, dann springt Denis ein.
Armut ist Stress
Kathrin Weber lebt im permanenten Ausnahmezustand. Stets plagt sie die Sorge, ob sie das alles schafft und was sie ihren Kindern bieten kann. Sie hat Angst, sich noch mehr einschränken zu müssen. Sie kauft auf Vorrat, geht nie aus. Nur Zigaretten leistet sie sich. Wenn die Kinder auf Geburtstage eingeladen sind, sind das Zusatzkosten, die ihr schlaflose Nächte bereiten. Ferien im Ausland sind eigentlich unmöglich, an teure Hobbys oder Besuche in Freizeitparks ist nicht zu denken. Weber muss öfter Nein statt Ja sagen.
Sie holte sich Unterstützung bei der Caritas. Diese vermittelte ihr eine Patin, die mit den Kindern Ausflüge macht, sie zum Essen einlädt, mit ihnen spielt. Bei einem Telefonat im März wirkt Weber besonders gestresst. Der Vater ihrer Kinder ist immer noch nicht ausgezogen. Es ist Ramadan, sie muss jeden Abend möglichst ein anderes Gericht zum Fastenbrechen des Mannes zubereiten, obwohl sie getrennt sind. Mit dem Budget sei das eigentlich unmöglich.
Der Staat darf den Eltern bei der Erziehung nicht dreinreden. Doch wie arme Familien finanziell zu unterstützen sind, ist eine hochpolitische Frage. Beim Thema Kinderarmut geschieht auf Bundesebene wenig. Die grüne Nationalrätin Katharina Prelicz-Huber reichte 2022 im Parlament einen Vorstoss ein, der jedoch kürzlich abgelehnt worden ist. «Weil für die bürgerliche Mehrheit die Eigenverantwortung zählt», sagt sie. Und kritisiert: «Das grosse Credo ist: Wer will, der kann, und Familie ist Privatsache.» Wie die Caritas fordert Prelicz-Huber die Einführung von Ergänzungsleistungen für Kinder armutsbetroffener Familien, wie sie die Waadt, Genf, Solothurn und das Tessin bereits eingeführt haben.
Dabei unterscheiden sich die Massnahmen in jedem der vier Kantone. In der Waadt etwa wird der Bedarf der ganzen Familie bis zum sechsten Lebensjahr des jüngsten Kindes gedeckt, danach nur noch jener der Kinder. Im Tessin wird der Bedarf der ganzen Familie bis zum dritten Lebensjahr des jüngsten Kindes gedeckt. Mit diesem Angebot wird das Einkommen armutsbetroffener Familien auf ein Existenzminimum ergänzt. Laut Caritas habe eine Evaluation der Familienergänzungsleistungen gezeigt, dass der alltägliche Stress dadurch reduziert werde. Der Erhalt sei auch weniger stigmatisierend als die Sozialhilfe.
Reise nach Rimini
Im November ist die finanzielle Situation bei Kathrin Weber und ihrer Familie unverändert. Es gibt gute und schlechte Nachrichten. Sie hat sich wieder mit ihrem Partner versöhnt. Die Familie ist sogar zum ersten Mal gemeinsam ins Ausland in den Urlaub gefahren. Sieben Tage waren die Webers in Rimini, 500 Euro betrug ihr Budget. Dafür wurden einige Rechnungen verspätet bezahlt oder Ratenzahlungen vereinbart. Weber zeigt lachend die Bilder auf dem Handy. Sie ist stolz, dass sie ihren Kindern aus eigener Kraft diese Auszeit bieten konnte, und sie freut sich, dass eine Trennung kein Thema mehr ist.
Zusammengeschweisst habe sie die Angst um den Sohn, dem es nicht gut gehe. Wie die Tochter hinkt er in seiner Entwicklung hinterher. Weber fürchtet, dass auch Denis krank ist, es stehen Untersuchungen an. Aber sie hofft zumindest, in ein bis zwei Jahren die Schulden beglichen zu haben – «wenn nichts dazwischenkommt». Eine Perspektive, die sie anspornt.
Kommentare
Kommentar von maxmedia@bluewin.ch
Sa., 25.11.2023 - 13:34
Tschou zäme
Euer Text zur Situation von Kathrin Weber berührt mich.
"Dene wos guet geit, giengs besser
Giengs dene besser wos weniger guet geit
Was aber nid geit, ohni dass′s dene
Weniger guet geit wos guet geit"
Was ich auf der Seite vermisse, sind Gedanken zu politischen Implikationen.
Mich interessiert zB, ob Kathrin wählen geht.
Wenn nicht, würde mich interessieren, warum nicht.
Mich interessiert weiter, was linke Parteien unternehmen, um Menschen wie Kathrin politisch anzusprechen.
Schaue ich auf die Stimmbeteiligung der vergangenen Parlamentswahlen (45,1%), besteht hier ein enormer Nachholbedarf.
Wie sehen Strategien linker Parteien in diesem Zusammenhang aus? Gibt es sie überhaupt?
Guter Gruss,
Urs