Klimaaktivismus: Der Sinn des Klebens

Nr. 44 –

Sie politisieren sich von einem Moment auf den anderen, ziehen bei Verkehrsblockaden den Zorn der Autofahrer:innen auf sich und stellen ihr Leben ganz in den Dienst des Kampfes gegen die Klimakrise: Was treibt die Aktivist:innen von Renovate Switzerland an?

Illustration von Alina Günter: wütender Autofahrer welcher aus dem Autofenster schreit
Illustration von Alina Günter: Hand mit Kleber

I am quiet, feeling the onset of riot, 
riots are tiny though, systems are huge,
traffic keeps moving, proving there’s nothing to do.
Kae Tempest, «Europe Is Lost», 2016

Die Schimmelstrasse ist eine der Hauptschlagadern des Zürcher Strassennetzes. Es ist noch dunkel, als sich rund fünfzehn Aktivist:innen auf der nahe gelegenen Sportanlage Sihlhölzli versammeln. Die Ameise hat Brötchen und Kaffee mitgebracht. Die Raupen stehen im Kreis und plaudern. Die Tiernamen bezeichnen die Rollen, die die Aktivist:innen bei der bevorstehenden Aktion einnehmen werden.

Vom Habitus her sind das keine typischen Linksradikalen. Sie tragen weder schwarze Kapuzenpullover noch Trainerhosen von Adidas, dafür Funktionskleidung und ein einladendes Lächeln im Gesicht. Rund die Hälfte der Anwesenden dürfte über fünfzig sein. Diejenigen, die zum ersten Mal dabei sind, werden willkommen geheissen. Anders als in anderen aktivistischen Szenen scheinen hier keine impliziten Hierarchien der Coolness verhandelt zu werden.

Es sind Aktivist:innen der Gruppe Renovate Switzerland, die in den letzten zwei Jahren mit ihren Verkehrsblockaden auf sich aufmerksam gemacht hat. Auf der Sportanlage bereiten sie sich auf einen Slow March vor.

Die Königin ist kurzfristig verhindert, weshalb ein anderer Aktivist die Rolle übernimmt und ein Briefing durchführt. Schritt für Schritt erklärt er, wie der Slow March ablaufen soll: Die Aktivist:innen werden bei Grün dort, wo die Schimmelstrasse beginnt, über den Zebrastreifen gehen, sich Warnwesten überziehen, Transparente mit dem Logo von Renovate auspacken – und schliesslich sehr langsam auf der Strasse gehen, sodass keine Autos mehr an ihnen vorbeifahren können. Die Polizei weiss zwar, dass heute eine solche Aktion in Zürich stattfinden wird, aber nicht, wo. Die Königin wiederholt die wichtigsten Informationen für den Umgang mit den Beamt:innen: «Verhaften lassen will sich heute niemand, oder?»


Renovate wird in der breiten Öffentlichkeit bisweilen als der «radikale Flügel» der Klimabewegung bezeichnet. Ihre Aktionsformen legen das zwar nahe, nicht aber die damit vermittelten Inhalte. Tatsächlich trägt die Gruppe den Revisionismus gewissermassen schon im Namen. Zwar sind ihre Aktionen aufsehenerregend, mitunter erhitzen sie die Gemüter der Autofahrer:innen. Dahinter verbirgt sich aber ein tiefes Vertrauen in die politischen Institutionen: der Glaube daran, dass diese Institutionen in der heutigen Form die Katastrophe noch abwenden können, wenn nur genug Druck auf sie ausgeübt wird.

Ein paar Tage vor dem Slow March auf der Schimmelstrasse sitzt Marie Seidel auf der Terrasse eines Cafés in der Zürcher Innenstadt. Es ist Anfang Oktober, sommerlich warm, und sie sagt: «Für mich geht es bei diesen Aktionen auch um Freiheit: Ich sitze auf der Strasse, weiss, dass die Polizei mich verhaften wird – und ich bin trotzdem eigentlich frei.» Seidel ist Teil der Kerngruppe von Renovate, zusammen mit drei weiteren Frauen und zwei Männern im Alter zwischen 25 und 69 Jahren. Sie betreibt ihren Aktivismus Vollzeit, ihre Freiheit rühre auch daher: «Ich habe nichts mehr zu verlieren, ich habe keinen Job mehr, ich habe meine Karriere aufgegeben, denn meine Zukunft ist sowieso sehr ungewiss, wenn wir nicht rasch handeln», sagt sie. «Gleichzeitig habe ich vieles gewonnen, darunter auch einen Lebenssinn.»

Illustration von Alina Günter: Hand mit Kleber
Illustration von Alina Günter: wütender Autofahrer welcher aus dem Autofenster schreit

Die 35-Jährige hatte zuvor beim WWF in der Kommunikationsabteilung gearbeitet. «Ich habe sehr viel über Beratungen in der Ständeratskommission gelernt», erzählt sie. Und ständig habe sie in Medienmitteilungen das Scheitern von geringfügigen klimapolitischen Zielen verkünden müssen. «Innerlich habe ich immer mehr gekocht», sagt Seidel. «Wir forderten immer nur so wenig, und nicht einmal damit kamen wir durch.»

Nebenbei organisierte sie Aktionen der Gruppe Extinction Rebellion mit. So auch an der sogenannten Oktoberrebellion 2021, als Aktivist:innen in Zürich einen Verkehrsknotenpunkt mehrere Tage hintereinander mit Blockaden lahmlegten. Es war gewissermassen die Geburtsstunde von Renovate. In der Nachbesprechung beschlossen 2022 fünf Aktivist:innen, die die Rebellion mitorganisiert hatten, eine neue Kampagne zu lancieren – als neuen Impuls für die Klimabewegung. Wenig später stiess auch Marie Seidel dazu. Sie kündigte ihren Job. Seither lebt sie von den 400 Franken Lohn, die Renovate ihr ausbezahlen kann, sowie von ihren Ersparnissen. Jetzt sei die Zeit, in der alle entscheiden müssten, wie aktiv oder passiv sie sein wollten, findet sie. «Es ist ein absolut entscheidender Moment in der Geschichte der Menschheit – Millionen von Menschenleben stehen auf dem Spiel.»

Es ist ein pessimistischer Idealismus, für den diese Bewegung steht, und er passt gut zum Zeitgeist: Das Konzept der Freiheit verkommt zum Überlebenskampf. Keine freie Sicht aufs Mittelmeer und kein Sandstrand unter dem Pflaster. Bleibt für den Traum von einer schöneren und besseren Welt jetzt wirklich keine Zeit mehr? Verhandelt wird hier jedenfalls nur noch der Kampf gegen den Untergang der alten Welt: das kleinere Übel, der Tod der Utopie.


In den Parlamenten verschieben sich ein paar Sitze. Medien verkünden Wetterrekorde und erhalten deshalb Hassnachrichten. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, meldet sich regelmässig mit drastischen Warnungen zu Wort. Sie eignen sich gut als knackige Zitate in düsteren Zeitungsartikeln, die kaum jemand mehr liest: Wer mag sich all die apokalyptischen Botschaften überhaupt noch zumuten? Unter der ruhigen Oberfläche, auf der die Dinge ihren gewohnten Lauf nehmen, nistet sich in immer mehr Köpfen die nackte Panik ein.

Renovate Switzerland ist kein singuläres Phänomen. Dernière Rénovation in Frankreich, Just Stop Oil in Grossbritannien und Letzte Generation in Deutschland – in mehreren, überwiegend westeuropäischen Ländern haben sich ähnliche Kampagnen formiert. Gemeinsam haben sie sich zum A22-Netzwerk zusammengeschlossen, das hauptsächlich vom kalifornischen Climate Emergency Fund (CEF) finanziert wird. «Protestbewegungen zu finanzieren», heisst es auf seiner Website, «ist der kosteneffektivste Weg, um Schadstoffemissionen zu verhindern.»

Inhaltlich unterscheiden sich die einzelnen Kampagnen des A22-Netzwerks zwar, im Fokus der Letzten Generation steht etwa das Tempolimit auf deutschen Autobahnen. Aber strategisch gleichen sie sich: Sie alle stellen konkrete Forderungen an die Regierungen und verleihen ihnen mit zivilem Ungehorsam, mit Farbanschlägen, Sitzblockaden oder mit Slow Marches Nachdruck.

Die Forderungen von Renovate Switzerland sind ebenso bekannt wie skurril: Erstens soll der Bundesrat «den Ernst der Lage» anerkennen; zweitens soll er dies dadurch bekräftigen, dass er einen «sofortigen Notfallplan zur thermischen Sanierung aller Gebäude im Land bis 2030 vorlegt». Skurril ist das nicht darum, weil es nicht wichtig wäre, Gebäude zu sanieren, sondern weil es weder realistisch noch unbedingt wünschenswert ist, dass der Bundesrat einen Notfallplan erlässt, weil ihn Sitzblockaden dazu zwingen.

Illustration von Alina Günter: Aktivist:in mit Warnweste und Renovate-Schild

Die Gruppe aber auf ihre Forderung nach einem Gebäudesanierungsplan zu reduzieren, ist zu einfach. Sie ist in erster Linie als Instrument zur Entlarvung der behördlichen Politik konzipiert. «Um zu zeigen: Nicht einmal das machen sie», sagt Marie Seidel. Und die extremen Aktionsformen sind nicht dazu da, den Bundesrat zu erpressen, wie es den «Klimakleber:innen» ab und an vorgeworfen wird, sondern sie wollen möglichst viele Unbeteiligte dazu zwingen, zur Klimakrise Position zu beziehen. So soll eine Polarisierung erreicht werden. Das ist keine Unterstellung, sondern ein erklärtes Ziel der Organisation. Und damit sie gelingt, braucht es möglichst viel Aufmerksamkeit, möglichst viel Störung, möglichst viel Aufschrei.

Grundlage dafür ist eine Theorie des sozialen Wandels durch zivilen Widerstand. Die Aktivist:innen orientieren sich dabei an historischen Vorbildern, an Martin Luther King oder Mahatma Gandhi. Vor allem aber an den Ideen von Roger Hallam, einem Mitbegründer von Extinction Rebellion. Hallam ist umstritten. Die deutsche Sektion hat sich schon 2019 vom Briten distanziert, nachdem er in einem Interview den Holocaust als «fast normales Ereignis» im Kontext anderer Genozide der Menschheitsgeschichte bezeichnet hatte.

Einerseits will Renovate Switzerland neue Aktivist:innen anwerben, indem die Gruppe eine Polarisierung provoziert. Ein Prozent der Bevölkerung soll auf diesem Weg mobilisiert werden. Und so soll gesellschaftlicher Wandel möglich, genauer: ein «Wendepunkt» in der Gesellschaft erreicht werden. Andererseits dient die Polarisierung dazu, so heisst es in einem Strategiepapier, eine Gesellschaft und ihre Institutionen «formbar» zu machen.

Erliesse der Bundesrat einen Notfallplan zur thermischen Sanierung aller Gebäude, wäre das ein symbolischer Etappensieg. Wobei es bereits als Erfolg zu werten sei, dass das Thema der thermischen Sanierung mittlerweile im Parlament beraten werde, heisst es im erwähnten Papier.

Auf linke Schlagworte wie «Kapitalismus», «Revolution» oder auch die abgeschwächte Klimastreikvariante «System Change» verzichtet Renovate. Das hat teils strategische Gründe. Schlagworte schrecken einen grossen Teil der Bevölkerung ab und stehen damit womöglich der Mobilisierung im Weg. Entscheidend ist aber, dass sich die Bewegung mit diesen Begriffen nicht identifiziert. Zwei Mediensprecher:innen des Klimastreiks erzählen, dass es bislang gar nie einen Austausch mit Renovate gegeben habe.

Renovate sieht sich einer anderen Ausgangslage gegenüber als viele andere linke Protestbewegungen, die versuchen, ihre Ideen und Ideologien zu popularisieren. Die Aufgabe von Renovate liegt nicht in erster Linie darin, die Menschen zu überzeugen. Ihr Aktivismus richtet sich vor allem gegen die Verdrängung der Klimakatastrophe, die eigentlich ja von einer Mehrheit anerkannt würde, und diese Mehrheit versucht sie zu mobilisieren.

Die Gruppe verzichtet weitgehend auf intersektionale Parolen. Und mit ihrem starken Fokus auf den Erhalt des Status quo, die Rettung der Welt, wie sie heute ist, begeht sie aus linker Perspektive einen Tabubruch. Vermutlich ohne es zu merken. So wie Marie Seidel sind viele der Aktivist:innen nicht schon von Kindsbeinen an politisiert; sie stützt sich nicht auf althergebrachte linke Theorien und Strukturen.

Der Umweltsoziologe Simon Schaupp, der an einer Studie der Universität Basel zum Schweizer Klimastreik von 2022 beteiligt war, sagt: «Bei Gruppen des A22-Netzwerks, wozu auch Renovate gehört, zieht es sich durch, dass sie von Leuten getragen werden, die sich vor der Auslöschung der Menschheit fürchten.» Und die, so der Soziologe, das aktivistisch-linksradikale Milieu eher zu vermeiden versuchten.

Bei der Versammlung auf der Sportanlage Sihlhölzli drängt sich jedenfalls der Eindruck auf, hier recht durchschnittlichen Exponent:innen des Schweizer Mittelstands zu begegnen: Leuten, die ein gewöhnliches Leben führten und weiterhin führen könnten – wäre ihnen nicht das Ausmass der Klimakatastrophe bewusst geworden.


«Der gewaltfreie zivile Ungehorsam überzeugt mich als Konzept», sagt Patrick Frei, der eigentlich anders heisst. Die demokratischen Prozesse der Schweiz seien wichtig, sagt der etwa dreissigjährige Aktivist. Aber ohne Druck von aussen werde der notwendige Wandel nicht gelingen. «Wir sind festgefahren in einem System, das den Herausforderungen des Klimawandels ohne Einwirkung von aussen nicht gewachsen ist.»

Der Slow March auf der Zürcher Schimmelstrasse ist die erste Aktion, an der Frei teilnimmt. Vor rund einem Jahr habe er einen Informationsanlass von Renovate besucht, erzählt er im Gespräch einige Tage nach der Aktion. Der Energiewissenschaftler kennt sich mit Gebäudesanierungen so gut aus wie wohl nur wenige andere. «Zu merken, dass wir viel zu wenig tun und immer nur hoffen, so lange weitermachen zu können wie bisher, hat mich wütend gemacht.» Nachdem er sich einmal am Feierabend einen zweistündigen Vortrag angehört habe, sei er vom Konzept von Renovate überzeugt gewesen.

Erst einige Monate später hat er am verlangten Aktionstraining teilgenommen. Und jetzt der Slow March auf einer der meistbefahrenen Strassen der Stadt. Es ist mittlerweile hell. Die Gruppe bildet einen «Trust Circle»: Im Kreis sagen alle Teilnehmenden der Aktion der Reihe nach, dass sie sowohl sich selbst als auch ihren Nächsten vertrauen.

Dann geht es los. Die rund fünfzehn Leute begeben sich zur neuralgischen Kreuzung, konzentriert und mit ernsten Gesichtern. Als sie auf dem Zebrastreifen ihre Westen überziehen, beginnt hinter ihnen ein Hupkonzert: Hass liegt in der Luft, als die Gruppe beginnt, langsam auf der Strasse zu gehen. Schon bald verliert der erste Autofahrer die Geduld und überholt die Gruppe mit einem gefährlichen Manöver über das Trottoir. Jetzt fährt ein grosser Lastwagen langsam hinter der Gruppe her. Die Stimmung wird immer angespannter, bis der Laster plötzlich beschleunigt und auf die leere Gegenfahrbahn schwenkt, um den kleinen, leicht verloren wirkenden Umzug mit hohem Tempo hupend zu überholen.

Dass Frei über einen Slow March den Einstieg in die Gruppe gefunden hat, ist kein Zufall. «Man muss die Leute dort abholen, wo sie sind», sagt Marie Seidel vom Kernteam. «Wir sind in einer Phase der Bewegung, wo wir uns breiter aufstellen wollen.» Für viele neue Aktivist:innen sei die Sitzblockade einer Strasse vielleicht ein zu steiler Einstieg. «Bei einem Slow March erleben sie, wie es sich anfühlt, an einer Aktion teilzunehmen. Und dann merken sie: Das war gar nicht so schlimm, ich will mehr machen.» Es sei ein Zwischenschritt, sagt Seidel. Aber auch: «Das wirkt jetzt fast so, als würden wir die Leute zu etwas drängen – das tun wir nicht: Die Menschen entscheiden selbst, ob sie bereit sind, auf die Strassen zu gehen.»


Die Wut, die den Aktivist:innen auf den Strassen und in der medialen Öffentlichkeit entgegenschlägt, entlädt sich immer zügelloser. Im Wahlbarometer der Schweizer Forschungsstelle Sotomo vom Juli rangierten die «Klimakleber» auf Platz zwei in der Kategorie der «grössten Ärgernisse», knapp hinter der «Misswirtschaft der CS». Wobei die Sotomo-Studie selbst ein gutes Beispiel dafür ist, wie diese Ablehnung entstehen kann.

Die Wissenschaftler:innen haben die Meinung der Befragten über die «Strassenblockaden durch die Letzte Generation erhoben», die in der Schweiz gar nicht aktiv ist. Die Diskurse vermischen sich über die Staatsgrenzen hinweg. Die weiter fortgeschrittene Polarisierung durch die Letzte Generation in Deutschland, die zudem viel mehr Repression vonseiten des Staates erfährt, färbt auf die Stimmung in der Schweiz ab. Was sich tatsächlich auf den hiesigen Strassen abspielt, ist zweitrangig. Die «Klimakleber» wurden von rechts als Feindbild installiert, und die Rechte wird den Hass immer weiter anpeitschen.

Nicht zum Nachteil von Renovate. Schliesslich ist es das Ziel der Gruppe, Gefühle auszulösen, wenn es sein muss auch Wut. Und die Erfahrung zeige, sagt Seidel, dass eine Aktion mehr Gefühle auslöse, je disruptiver sie sei. Momentum entstehe vor allem durch die Kombination von grosser Störung und viel Opferbereitschaft vonseiten der beteiligten Aktivist:innen, sagt sie. An einem Ende des Spektrums steht der Slow March, am anderen Ende die Störung eines Konzerts oder eine Strassenblockade. «Auch ich finde das ziemlich krass, wenn man Leute auf der Strasse sitzen sieht, die bereit dazu sind, geschlagen zu werden.»

Je grösser das Opfer, das die Aktivist:innen zu leisten bereit sind, desto glaubwürdiger soll ihre Position sein: Diese Vorstellung steht vielleicht auch in einer christlichen Tradition. Die Aktivist:innen ziehen mit ernsten Gesichtern durch die Strassen, wo sie sich beschimpfen und im Extremfall sogar angreifen lassen. Der unscheinbare Slow March wird zu einer Prozession zur Warnung vor dem bevorstehenden Weltuntergang. «Sie treten mit einer Art Märtyrerhaltung auf», sagt auch Umweltsoziologe Schaupp. «Das hat etwas von der frühchristlichen Praxis der Zeugenschaft, als die Selbstaufopferung Zeugnis über die Gefolgschaft zu Jesus ablegen sollte.» Wobei er nachschiebt: «Letztlich ist die aktuelle Klimapolitik aber ein viel grösserer Opferkult.»


Rund zehn Minuten nach Beginn des Slow March in Zürich trifft die Polizei bei der Schimmelstrasse ein. Sie schiebt die Aktivist:innen von der Strasse – fast schon zärtlich – und nimmt danach ihre Personalien auf. Alle erhalten eine Wegweisung. Anders als in Deutschland halten sich die Behörden in der Schweiz im Umgang mit Renovate noch auffallend zurück. Womit sie der Organisation gar nicht entgegenkommen. Deren Aktivist:innen betrachten die Polizei nicht als Gegenspielerin. Vielmehr ist sie Teil ihrer Inszenierung. Repression ist dazu da, die Opferbereitschaft der Beteiligten zu inszenieren.

Patrick Frei sagt eine Woche später, er sei während der Aktion erstaunlich ruhig gewesen. Nur im Voraus habe er Angst gehabt, davor, dass er nicht gut mit der Wut würde umgehen können, die ihm entgegenschlagen werde. Letztlich habe er sich aber sicher gefühlt, erzählt er. «Es war schön.»

Allerdings habe er auch Zweifel daran, dass die Herangehensweise von Renovate wirklich zielführend sei. «Die hasserfüllten Reaktionen geben mir schon zu denken», sagt Frei. Er sei zwar überzeugt davon, dass es an der Zeit sei, Druck auf die Regierung auszuüben, um die Klimapolitik endlich richtig in die Gänge zu bringen. «Andererseits finde ich es schwierig, damit umzugehen, einen Konflikt in der Gesellschaft – auch einen gewaltfreien – absichtlich voranzutreiben.»

Nach rund einer Stunde ist die Aktion vorbei. Renovate verschickt wie immer eine professionelle Medienmitteilung, die von «Blick Online», dem «Tages-Anzeiger» und einigen weiteren Medien in einer kurzen Meldung aufgegriffen wird. Der Bundesrat schweigt, und der Verkehr läuft wieder wie gewohnt. Vermutlich Stau.