Auf allen Kanälen: Im Giftschrank entsorgt

Nr. 49 –

Angriffe aufs Schweizer Fernsehen bleiben nicht wirkungslos. Das zeigt der Fall eines Films, der vor langer Zeit ins Archiv verbannt wurde – und erst jetzt als tolles Zeitzeugnis zu entdecken ist.

stilisierter Ausschnitt aus dem Filmplakat von «Ruhe»

Die SRG ist zur Zielscheibe geworden, und die Angriffe kommen vor allem von rechts, aus der SVP: Das Schweizer Fernsehen, heisst es da, berichte zu wenig objektiv und nicht ausgewogen, und es verbreite «linksextreme Ansichten». Passend dazu lanciert die «Weltwoche» eine Umfrage zur politischen Einstellung auf der «Tagesschau»-Redaktion. Resultat: Nicht ganz alle geben Auskunft, aber von denen, die es tun, identifizieren sich fast alle als links. Überraschung?

Ja, denn die Episode stammt von 1972. Schon damals führten Rechtsbürgerliche und Wirtschaftskreise eine Kampagne gegen das «linkslastige Schweizer Fernsehen». Im Jahr davor war Kritik auch von der SP gekommen, wobei diese vor allem die SRG-Spitze ins Visier nahm als überheblichen, «völlig undurchsichtigen Privatclub», der beim Fernsehen zu einem lähmenden Betriebsklima und zu Selbstzensur führe.

Die medienpolitischen Richtungskämpfe spielten sich seinerzeit unter ganz anderen Voraussetzungen ab. Dennoch gibt es frappierende Parallelen: Die «Linkslastigkeit» im Programm blieb schon damals weitgehend ein Phantom – zugleich aber blieben die Angriffe von rechts nicht ohne Wirkung. Das zeigt das Schicksal des Dokumentarfilms «Ruhe», der vom damaligen Fernsehdirektor Guido Frei diskussionslos ins Archiv verbannt wurde – und der erst jetzt, ein halbes Jahrhundert später, erstmals zu sehen ist.

Gehorsam macht glücklich

Der Film ist eine Entdeckung. Fokussierte Jürg Hasslers «Krawall» 1970 auf die Unruhen, holte «Ruhe» zwei Jahre später in gerade mal fünfzig Minuten zur umfassenden Gesellschaftsanalyse aus. Am Anfang Globuskrawall, dann etwas Schweizer Folklore und ein paar Worte aus einer 1.-August-Rede von James Schwarzenbach – und los gehts auf der ersten Stufe im eidgenössischen Erziehungsparcours: «Dieser Musterkindergarten will das Beste», weiss die Offstimme. «Aber nicht für die Kinder, sondern für unser Wirtschaftssystem.»

Das Schweizer Erziehungswesen sei von Anfang an darauf ausgerichtet, folgsame «kleine Fachidioten» für die Leistungsgesellschaft zu dressieren. Das ist die Grundthese, die der Film dann durchbuchstabiert – vom Kindergarten bis ins Militär, entlang dieser «fast lückenlosen Kette von Sozialisationsagenturen» unterm Banner von Ruhe und Ordnung. So nennt es Regisseur Karl Saurer, als er 1977 in der Zeitschrift «Cinema» über das Sendeverbot schreibt. Nachzulesen ist das jetzt in einem schönen neuen Buch über den 2020 verstorbenen Regisseur und sein Werk, herausgegeben von Elena M. Fischli.

Vom Direktor abgesetzt

Saurer hatte «Ruhe» zusammen mit Hannes Meier und Gerhard Camenzind im Auftrag des Fernsehens gedreht. Gedacht war der Film als Pilotfolge für «Die Kehrseite», eine Reihe, die die Anliegen einer jüngeren Generation ins Bild rücken sollte. Doch dazu kam es nicht: Weil «Ruhe» in seiner gesellschaftskritischen Gesamtschau nicht der gängigen TV-Dramaturgie gehorchte, stoppte Direktor Frei nicht nur den Pilotfilm, sondern gleich die ganze Reihe.

Begrifflich ist die Analyse im Film stark in ihrer Zeit verhaftet, aber in den zentralen Diagnosen wirkt er ungebrochen aktuell: dass politische Interessen in der Schweiz massgeblich von wirtschaftlichen Interessen bestimmt würden, dass die Not der vielen der Profit der wenigen sei – und dass sich das nirgends so deutlich zeige wie beim Geschäft mit dem Wohnen.

Breiten Raum bekommt im Film die marxistische Fallstudie einer ETH-Forschungsgruppe über die Göhner-Siedlung in Volketswil, die 1972 auch Kurt Gloor in seiner Dokumentation «Die grünen Kinder» beleuchtete. Die Regierungen von Stadt und Kanton verweigerten Gloor damals aus politischen Gründen den Zürcher Filmpreis für sein zeitkritisches Werk über das Leben in der frisch gebauten Agglo. Doch während Gloors Film im Fernsehen gezeigt wurde, landete «Ruhe» im Giftschrank.

Und wem, so die Offstimme im Film einmal, nützt «der manipulierbare Mensch», dressiert zu Ruhe und Ordnung? Die Antwort gibt ohne Worte der nächste Schnitt: Da gondelt die Kamera auf dem Zürichsee dem Villenufer entlang, auf der Tonspur dudelt Cocktailjazz.

Vernissage von «Filme für den kreativen Widerstand» mit dem Film «Ruhe»: Bern, Kino Rex, Sonntag, 10. Dezember 2023, 11 Uhr. Weitere Aufführungen: www.karlsaurer-filme.ch.