Wiederaufbau in der Türkei: Kälte, Asbest und ein heroischer Film
Hunderttausende neue Wohnungen hatte die Regierung nach dem Erdbeben versprochen – doch passiert ist bisher wenig.
An einem Mittag im November krachte in der südtürkischen Stadt Antakya ein Wohnhaus zusammen. Das Hupen eines Autofahrers soll den Einsturz verursacht haben, war in Medien zu lesen; verletzt wurde offenbar niemand. Ein solcher Vorfall ist in Antakya nicht ungewöhnlich. Seit den verheerenden Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet Anfang Februar sind die wenigen Häuser, die im Zentrum noch stehen, stark einsturzgefährdet. Einige der Gebäude werden abgerissen, andere fallen einfach so in sich zusammen. Vor der Katastrophe lebten rund 1,6 Millionen Menschen in der Provinz Hatay, deren Hauptstadt Antakya ist. Nach dem Beben hätten fast eine halbe Million Bewohner:innen die Gegend verlassen, sagt Lütfü Savaş, der Oberbürgermeister der als Grossstadtregion verwalteten Provinz Hatay. Nur wenige seien wieder zurückgekehrt. «Wo sollen die Menschen auch hin? Es fehlt an Infrastruktur und an neuen Häusern», sagt der Politiker der oppositionellen CHP.
Vor allem das früher so lebhafte Antakya mit seinen 400 000 Bewohner:innen ist still geworden. Das historische Zentrum, in dessen Gassen die Menschen auch an milden Winterabenden feierten, gibt es nicht mehr. Aus den Trümmern werden selbst neun Monate nach der Katastrophe noch Leichen geborgen. Innenpolitisch sind Nachrichten aus dem Erdbebengebiet seit Monaten kein grosses Thema mehr – obwohl damals mehr als 50 000 Menschen ums Leben kamen. «Jeder hier hat mindestens einen Verwandten verloren», sagt Kemal Canbolat am Telefon. Der Basketballprofi wurde in Antakya geboren und hat seine Heimat verlassen, um im syrischen Nationalteam zu spielen. Seit dem Beben kommt er regelmässig zurück, um zu helfen. «Ich habe dieses Mal knapp 800 Paar Schuhe und Stiefel mitgebracht», erzählt Canbolat. Denn viele Kinder würden sogar jetzt nur Sandalen tragen.
Die Winter im türkischen Südosten sind besonders streng. Ende November mussten Bewohner:innen im Westen Hatays nach Überschwemmungen wegen eines Sturmtiefs evakuiert werden. Die Gegend grenzt ans Mittelmeer und ist infolge des Erdbebens um etwa einen Meter abgesackt. Bereits Mitte November hatte Starkregen ganze Zeltstädte und Containersiedlungen in der Region unter Wasser gesetzt. Ähnliche Szenen gab es in den vergangenen Wochen auch in anderen Regionen im Südosten.
Warten auf Hilfe, die nicht kommt
Nach offiziellen türkischen Angaben zerstörte das Erdbeben etwa 300 000 Gebäude in elf Provinzen. In den Wochen nach der Katastrophe hatte die Regierung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan versprochen, dass im Erdbebengebiet in den kommenden Jahren mehr als 600 000 neue Wohnungen gebaut würden, mehr als die Hälfte davon bis Ende Jahr. Bereits in diesem Herbst sollten die ersten bezugsfertig sein, hatte Erdoğan vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im April erklärt – doch bisher konnte noch niemand in eines dieser Häuser einziehen.
Im Oktober relativierte der Präsident sein Versprechen und präsentierte neue Zahlen: Insgesamt sollen 200 000 Wohnungen gebaut werden und 40 000 vor Jahresende fertig sein. Grund für diese deutlich tieferen Zahlen könnte sein, dass sich in den Monaten nach den Erdbeben herausstellte, dass nicht jedes beschädigte Gebäude abgerissen und neu aufgebaut werden muss. Laut Erdoğan haben sich 235 000 Personen für ein Förderprogramm der Regierung beworben, mit dem leicht beschädigte Häuser mit finanzieller Unterstützung repariert werden sollen. Doch viele Erdbebenopfer – so hört man in den betroffenen Gegenden – haben ihr Heim bereits selbst repariert, weil die Hilfe nie eingetroffen ist.
Noch immer leben Zehntausende Menschen in Containern. Unklar ist, wann sie ausziehen können – und wo sie dann einziehen sollen. Deutlich wird das vor allem in Hatay. Es habe Ausschreibungen für den Bau von 32 000 Gebäuden gegeben, sagt Oberbürgermeister Savaş. «Der Bedarf ist aber fast zehnmal so gross.» Zudem kämen die Arbeiten nur schleppend voran, und dafür trägt nach Ansicht des CHP-Politikers die Zentralregierung die Verantwortung. Ankara koordiniert den Wiederaufbau. Regelmässig verbreiten regierungsnahe Medien Fotos vom Baufortschritt und zeigen computeranimierte Bilder der zukünftigen Wohnanlagen. Die Botschaft: Alles wird grüner und sicherer als zuvor. Für vierzig Prozent des marktüblichen Preises sollen die Wohnungen an Erdbebenopfer verkauft werden.
Bis alle Gebäude bezugsfertig seien, könne es Jahre dauern, vermutet ein Bauarbeiter in der etwas weiter östlich gelegenen Provinz Adıyaman. Das Beben machte hier viele Dörfer und Stadtteile dem Erdboden gleich. Der Mann will anonym bleiben, er fürchtet um seinen Job. «Die Menschen hier sind unzufrieden, denn das, was getan wird, reicht nicht», beschwert er sich. «Wir bauen hier 16 000 Wohnungen, dabei wurden mehr als 100 000 zerstört», sagt der Mann, der kein ausgebildeter Bauarbeiter ist.
Im Frühjahr, kurz vor den Präsidentschaftswahlen, kritisierte die Opposition, dass viele Beschäftigte in der Baubranche Laien seien. Ahmet Sert, Präsident einer Gewerkschaft für Baumaschinenführer:innen, erhob kürzlich in einem Interview härtere Vorwürfe: Abrissunternehmen würden viele Mitarbeiter:innen illegal beschäftigten. «Es handelt sich hauptsächlich um Menschen ohne Papiere, um Ausländer und Drogenabhängige», so Sert. Fachkräften sei die Arbeit zu gefährlich, weil eine Verseuchung durch Asbest drohe.
Viele haben resigniert
Im Erdbebengebiet macht die krebserregende Mineralfaser vielen Menschen Angst. Laut einem Untersuchungsbericht der Istanbuler Zweigstelle der Kammer für Umweltingenieur:innen wurde der Stoff mehrfach in Trümmerproben nachgewiesen. Ärzt:innen fürchten, dass die Fälle von Lungenkrebs in der Region in den nächsten Jahrzehnten zunehmen könnten, auch weil beim Abriss von Gebäuden viel Feinstaub entsteht. Untersuchungen der Ärztekammern aus dem Sommer ergaben Werte, die zum Teil beim Dreifachen des Grenzwerts der Weltgesundheitsorganisation liegen. Trotz dieser Gefahr hat der Basketballspieler Canbolat bei seinem Besuch in Antakya nur wenige Menschen mit schützenden Masken gesehen. «Es interessiert sie nicht mehr, denn sie haben zu viele Angehörige verloren und standen selbst dem Tod gegenüber», sagt er. Viele Überlebende hätten resigniert.
Derweil ist das Leid der Erdbebenopfer zur Kulisse der Filmindustrie geworden. Seit einigen Wochen ist eine Filmcrew in Hatay unterwegs, um einen Spielfilm zu drehen. Die Premiere soll am ersten Jahrestag des Erdbebens sein. Doch das Vorhaben trägt nicht zur Erheiterung der Anwohner:innen bei, im Gegenteil. In einem offenen Brief beschweren sie sich, dass die «unzureichenden Rettungsbemühungen» Ankaras ignoriert und die Regierung stattdessen sehr heroisch dargestellt werde. Der Produzent, Bülent Durgun, reagierte in einem Interview abwehrend: «Wir machen diesen Film, damit die Katastrophe und anhaltende Probleme nicht vergessen werden», verteidigte er die Dreharbeiten, die auf dem Schutt eingestürzter Häuser stattfinden.