Die Türkei nach dem Erdbeben: Solidarität in einer verwüsteten Stadt
Die Stadt Antakya war vom verheerenden Erdbeben besonders betroffen. Im Viertel Harbiye haben sich Überlebende zusammengeschlossen, sie geben einander Halt und helfen beim Wiederaufbau.
Auf den Hof der Selman-Nasır-Eskiocak-Grundschule in Harbiye prasselt starker Regen. Unter einer blauen Zeltplane vor der ehemaligen Cafeteria brennt Feuerholz in einer Blechtonne. Im Kreis darum sitzen etwa zwanzig Personen. Einige versuchen, ihre Stühle aus dem Rauch zu rücken, den der Wind immer wieder in eine andere Richtung bläst. Gleich beginnt das «toplantı», das allabendliche Plenum, in dem sich all jene organisieren, die hier in den vergangenen Wochen Unterschlupf gefunden haben.
Unterricht findet in der Eskiocak-Grundschule seit bald zwei Monaten keiner mehr statt. Das unauffällige Gebäude im Viertel Harbiye, südlich des Stadtzentrums von Antakya, ist eines der wenigen, das während des schweren Erdbebens Anfang Februar im Südosten der Türkei kaum beschädigt wurde. Seitdem ist die Schule geschlossen. Im Innenhof stehen zwanzig grosse Zelte. Darin wohnen Familien aus Harbiye. Im vordersten Zelt übernachten Freiwillige. Sie kommen aus anderen Städten der Türkei, um Hilfe zu leisten – und sich mit ihren lokalen Genoss:innen politisch zu organisieren. Ihre rot-gelbe Parteifahne weht am Eingang der Schule, darauf die Buchstaben TÖP: Die Toplumsal Özgürlük Partisi ist eine sozialistische, in der Region stark verankerte Partei – und Teil des linken Bündnisses für Arbeit und Freiheit bei den Wahlen im Mai. Da die staatliche Koordinierung nach dem Beben versagte, kamen linke Organisationen wie TÖP den Überlebenden zur Hilfe. Ihre Anliegen: die lokale Bevölkerung in basisdemokratischen Strukturen zu organisieren, politische Teilhabe zu gewährleisten und das Versagen der Regierung zu benennen.
Es ist der 39. Tag nach dem Erdbeben. Wochentage und Daten haben an Bedeutung verloren, die Zahl der seit dem 6. Februar verstrichenen Tage erscheint wie eine neue Zeitrechnung. Perihan und ihr Mann Safa, die ihre Nachnamen nicht veröffentlicht sehen wollen, haben die letzten Wochen in der Hafenstadt Antalya verbracht. Nun sind die beiden Rentner:innen in ihre Heimat Antakya zurückgekehrt, um beim Wiederaufbau zu helfen. An diesem Tag sind sie in ein Zelt auf dem Schulhof gezogen. Die Gemeinschaft von rund hundert Bewohner:innen hat sich hier eine kleine Kommune aufgebaut.
Lebhafte Diskussionen
Ali Öztürk erklärt den Neulingen das Schichtsystem der Nachtwache. «Bis 24 Uhr sitzen wir ohnehin immer alle zusammen am Eingang, da brauchen wir noch keine Wache. Aber zwischen vier und acht Uhr morgens, wenn das besonders wichtig wäre, schlafen die Leute immer ein. Das müssen wir ändern», sagt er. Öztürk ist Anfang dreissig. Er hat in den ersten Tagen nach dem Erdbeben kurzerhand die Schule besetzt. Das Haus seiner Familie ist nur wenige Hundert Meter entfernt und wurde glücklicherweise kaum beschädigt. Dennoch übernachten seine Eltern und seine Schwester mit ihrem Sohn zur Sicherheit im Garten. Öztürk spricht sowohl Türkisch als auch den lokalen arabischen Dialekt von Antakya – ein grosser Vorteil, vor allem, um mit älteren Leuten ins Gespräch zu kommen. Er kennt hier jede:n, seine ruhige Art bringt ihm grosses Vertrauen ein.
Mehmet – auch er möchte seinen Nachnamen nicht nennen – ist allerdings nicht überzeugt. «Brauchen wir überhaupt eine Nachtwache? Wir haben doch die Soldaten auf dem Hof der Gesamtschule hier direkt neben uns, die passen auf uns auf», wirft er ein. Es beginnt eine lebhafte Diskussion. Aus gutem Grund: Kurz nachdem sich die Gemeinschaft gebildet hatte und die führende Rolle der TÖP klar erkennbar geworden war, wurden im Gebäude nebenan zahlreiche Soldat:innen stationiert. Die Linken sehen darin einen Einschüchterungsversuch. Täglich patrouillieren die Soldat:innen durch das Stadtviertel, hin und wieder führen sie Personenkontrollen durch. Zu grossen Auseinandersetzungen kam es aber bisher nicht.
Dennoch sorgt die Präsenz des türkischen Staates in Form von bewaffneten Einheiten in Harbiye für Unbehagen. Hier leben mehrheitlich Angehörige der arabischen Alevit:innen. Die Bevölkerungsgruppe erfährt seit Jahrhunderten kulturelle und politische Unterdrückung. Sie leben im ständigen Kampf um die Anerkennung ihrer Sprache und ihrer religiösen Stätten. «Wenn du den Soldaten vertraust, dann nimm doch dein Zelt und schlag es bei denen im Hof auf!», entgegnet eine Frau, die Mehmet gegenübersteht. Bevor die Debatte eskaliert, schreitet Zeki Öztürk ein. Er ist Ali Öztürks älterer Bruder und lebt mittlerweile in Istanbul. Vor einer Woche konnte er sich bei der Arbeit freinehmen, um seine Familie zu sehen – und die Zeltgemeinschaft zu unterstützen. Auch er ist Mitglied der TÖP. «Setz dich mal zu mir, Mehmet, wir besprechen das später in Ruhe», sagt er. Beschlossen wird letztlich, die Verantwortlichen für die Nachtwache einen Tag zuvor auf einem Schwarzen Brett einzutragen.
Ein sicherer Ort für Frauen
Dann ergreift Elena Çoban das Wort. «Ihr wisst ja, ich koordiniere die Benutzung der Waschmaschine. Leider gibt es immer noch einige, die sich nicht an die Liste halten.» Für alle zwanzig Zelte steht seit ein paar Tagen eine Maschine auf dem Hof neben der Waschanlage. Eine grosse Errungenschaft, aber unzureichend bei hundert Personen. «Einige klopfen morgens um sechs Uhr an mein Zelt und wollen waschen. Andere waschen, wann sie wollen. Wenn das so weitergeht, zieh ich einfach mal den Stecker.»
Çoban nimmt ihre Aufgabe ernst und hat einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Dass sie erst siebzehn ist, schmälert nicht die Autorität, die sie ausstrahlt. Mit ihrer Mutter Yağmur und ihrem jüngeren Bruder Ali Hasan kam sie aus dem etwa zwanzig Kilometer entfernten Bezirk Samandağ nach Harbiye, wo die Familie zuvor lange gelebt hatte. Der Vater arbeitet in Saudi-Arabien. Um Geld für ein neues Zuhause zu sparen, wird er vorerst nicht zurück in die Türkei kommen. Die ersten Tage allein mit den Kindern seien besonders schwer gewesen, sagt Yağmur Çoban. «Aber jetzt bin ich hier, das gibt mir Kraft. Ich kann mich mit anderen Menschen austauschen, alle unterstützen sich gegenseitig.» Auch die politische Arbeit der TÖP hat sie überzeugt, am Tag zuvor hat sie ihren Beitrittsantrag ausgefüllt.
Dass sich insbesondere Frauen im Camp sicher fühlen, hat auch mit der Präsenz der Frauenorganisation Mor Dayanışma (Lila Solidarität) zu tun. Sie hat von Anfang an einen eigenen Raum zur Unterstützung der Frauen und der Kinder geschaffen: ein kleines Zelt mit verschiedenen Angeboten. Auch beim täglichen Plenum ist das Thema fest eingeplant; Büşra Yeşilbaş, die wenige Tage zuvor aus Izmir kam, berichtet vom Besuch bei einem nahe gelegenen Zeltplatz: «Gemeinsam mit einer Psychologin haben wir dort mit den Frauen über die dringend notwendige Unterstützung der Kinder gesprochen. Für viele ist es schwer, das Erlebte zu verarbeiten.» Auch darin ist die Zeltgemeinschaft besonders: Ihre Mitglieder sind nicht nur im eigenen Lager aktiv, sie stehen auch im Austausch mit den Zeltlagern der Nachbarschaft. Ihre Arbeit hat sich herumgesprochen. Immer wieder kommen Menschen aus der Nachbarschaft vorbei, um Zeit miteinander zu verbringen oder dringend benötigte Hilfsgüter abzuholen.
Das Plenum endet mit der Erinnerung daran, dass am nächsten Morgen der 40. Tag nach dem Erdbeben anbricht. Der Zeitraum hat in der Region eine besondere Bedeutung: Er markiert das Ende einer Trauerphase, nachdem ein Mensch verstorben ist. In Antakya, wo der Grossteil der bisher benannten 50 000 Toten lebte, sagt man, es habe noch nicht einmal Zeit zum Trauern gegeben. Die Menschen seien schlicht damit beschäftigt gewesen zu überleben. Die Gemeinschaft plant deshalb in einem benachbarten Lager ein Treffen zum Gedenken, auch nach arabisch-alevitischer Tradition.
Stolz auf Selbstverwaltung
Der folgende Tag beginnt mit der Ausgabe von Suppe zum Frühstück. Diese stellt die Bezirksverwaltung von Kartal bereit, einem Stadtteil von Istanbul. Dort regiert die oppositionelle CHP, deren Lokalregierungen bereits in den ersten Tagen begannen, umfangreiche Hilfe in das Erdbebengebiet zu schicken. Die Hilfslieferungen an die Zeltgemeinschaft gleichen einem Mosaik, koordiniert durch die TÖP. Das Abendessen liefert die mobile Küche der US-amerikanischen NGO World Central Kitchen. Gleich darauf trifft eine Lieferung mit Hygieneartikeln der Ärztekammer ein. Um die begehrte Ladung schnell zu verteilen, werfen die Männer die Shampooflaschen und Feuchttücher vom Auto aus in die Menge.
Als Zeki Öztürk das sieht, wird er wütend. «Hey, wir sind doch hier nicht bei der AKP!», ruft er. «Wenn wir Spenden bekommen, bringen wir die erst einmal ins Lager. Dann werden sie verteilt an diejenigen, die sie brauchen.» Unter AKP-Politiker:innen ist es zur Tradition geworden, bei politischen Veranstaltungen Geschenke in die Menge zu werfen – als Zeichen der Grosszügigkeit. In Harbiye gibt es, trotz aller Bedürftigkeit, auch einen kritischen Blick auf die Spenden. Auf schwer planbare Lieferungen von ausserhalb angewiesen zu sein, führt zu einem Gefühl von Unmündigkeit. Umso mehr achten die Menschen hier darauf, die Selbstverwaltung in den Händen zu behalten.
Ein Hoffnungsschimmer
Läuft man durch die Strassen von Harbiye, sieht man die verlassenen Ruinen der Häuser, die bis vor kurzem noch das Zuhause von Zehntausenden von Menschen waren. Dazwischen stehen neu errichtete Zeltstädte, bewacht von Soldat:innen. Während die Zelte Schutz und ein Minimum an Privatsphäre bieten, wirken die bewaffneten Sicherheitskräfte bedrohlich. In der Eskiocak-Grundschule steht das Tor bis zum Abend offen. Ein selbstgemaltes Schild am Eingang führt die Besucher:innen zum Koordinationszentrum in der Cafeteria. Noch sind die Nächte kalt, die starken Regenfälle führten in anderen Regionen bereits zu Überflutungen. Doch tagsüber macht sich bereits der Frühling bemerkbar. Während in den mehrheitlich kurdischen Regionen nun das Newroz-Fest gefeiert wird, steht das traditionelle Fest der arabischen Alevit:innen noch an: Evvel Temmuz zelebriert jeweils im Juli die erfolgreiche Ernte und das Teilen dieser unter der Bevölkerung. Für die Menschen in Antakya hat das Datum dieses Jahr besondere Bedeutung: Sie hoffen, dass viele, die ihre Heimat wegen des Bebens verlassen mussten, bis dahin wieder zurückkehren können.