Die Lage in der Türkei: Wie der Präsident das Unglück instrumentalisiert
Die Zahl der Toten steigt weiter, es werden kaum noch Lebende geborgen. Angesichts der verheerenden Ausmasse des Erdbebens wackelt offenbar auch der Termin für die Wahlen.
Mehmet Yaşar Coşkun hat es nicht geschafft: Der Bauunternehmer ist bei seinem Fluchtversuch vergangenen Freitag am Istanbuler Flughafen festgenommen worden. Er soll einen höheren Geldbetrag bei sich gehabt haben; mutmassliches Ziel: Montenegro. Coşkun wird dafür verantwortlich gemacht, dass ein 2013 von seinem Unternehmen errichtetes Hochhaus mit 250 Luxuswohnungen in Antakya in der südtürkischen Mittelmeerregion beim Beben vom 6. Februar eingestürzt ist. Durchaus anzunehmen, dass Coşkun ein Bauernopfer ist – der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan braucht Verantwortliche, denen er die Schuld für das Ausmass der Katastrophe zuschieben kann.
Betroffene Gebiete
Eigentlich befindet sich die Türkei im Wahlkampf. Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, ursprünglich auf Juni angesetzt, sollten auf Wunsch Erdoğans auf den 14. Mai vorgezogen werden. Bis zum Erdbeben hatte es für ihn durchaus gut ausgesehen. Obwohl mitten in einer Wirtschaftskrise, waren seine Beliebtheitswerte zuletzt gestiegen. Sein nationalistischer Populismus verfing: Dreimal innerhalb eines Jahres wurde der Mindestlohn erhöht und zudem die Altersgrenze für rund zwei Millionen Beschäftigte aufgehoben, sodass sie früher in den Ruhestand gehen können. Doch auch die Glanzlosigkeit der Opposition trug das Ihre bei.
Selektive Nothilfe
Nun wird kolportiert, die Wahlen könnten nach hinten verschoben werden. AKP-Mitbegründer Bülent Arınç hat angedeutet, sie könnten gar erst nächstes Jahr stattfinden. Klar ist: Für Tausende kommt jetzt jede Hilfe zu spät. Mehr als 35 000 Tote wurden bisher im Süden des Landes gezählt, und die Zahl der Opfer steigt von Tag zu Tag weiter. Tausendfach wurde auf Twitter der Hashtag #Sesvar (Wir hören Stimmen) geteilt und durch das Kommunizieren von Standorten möglicher Verschütteter auf Hilfe gehofft. Doch immer weniger Stimmen sind aus den Trümmern zu hören, und viele Notrufe bleiben wegen der teils fehlenden Rettungsmannschaften vergeblich. Auch Tage nach dem Beben warteten die Menschen noch auf Zelte und Lebensmittel. Metin Ergun, ein Abgeordneter der oppositionellen nationalistischen İyi Parti, beschrieb auf Twitter Szenen aus Hatay, einer Provinz an der Grenze zu Syrien, die mit am stärksten betroffen ist: «Hatay ist eine Geisterstadt geworden», alles sei zerstört. «Die Rettungsteams sind völlig unzureichend.»
In sozialen Netzwerken wird zudem berichtet, dass in vom Beben betroffenen Siedlungen wie Hatay, Adıyaman und Elbistan viele Angehörige von Minderheiten wie etwa Alevitinnen oder Kurden gezielt ignoriert würden. Zwar lässt sich der Vorwurf der nach Herkunft gesteuerten Nothilfe nicht erhärten. Doch allein dieser Verdacht zeigt, was die Menschen der Regierung zutrauen. Denn Ankara betreibt in der Süd- und der Osttürkei teils eine harte Assimilationspolitik. Auch die Frage, warum das in den Kurd:innengebieten allgegenwärtige Militär nicht umgehend für den Katastrophenschutz eingesetzt wurde, muss noch beantwortet werden. Der Extrembergsteiger und Schriftsteller Nasuh Mahruki, der nach dem Beben von 1999 mit der nichtstaatlichen Organisation Akut eine Suchhund- und Rettungstruppe gegründet hatte, stellte deswegen die Frage: «Wo ist die türkische Armee?»
Spaltung der Opposition
In zehn Provinzen gilt inzwischen ein dreimonatiger Ausnahmezustand. In dessen Rahmen kann der Präsident Grundrechte wie die Presse- und die Versammlungsfreiheit einschränken. Erdoğan hat vor der Verbreitung von «Fake News» gewarnt. Wer das dennoch tue, würde dafür die Rechnung erhalten. So wurden Dutzende Personen festgenommen, die sich in sozialen Medien zum Beben geäussert hatten. Im Wahlkampfmodus hat Erdoğan nun versprochen, dass der Wiederaufbau in einem Jahr abgeschlossen sein würde. Wie das gelingen soll, ist ein Rätsel. Er weiss, dass die zögerliche Reaktion der Mitte-Links-Koalition auf das grosse Erdbeben im Nordwesten der Türkei im Jahr 1999 als ein entscheidender Faktor für den Aufstieg der AKP angesehen wird.
So instrumentalisiert Erdoğan inmitten der Staatstrauer erneut das Unglück zu seinen Gunsten, indem er Zwietracht in der Koalition aus sechs Oppositionsparteien sät, die sich zusammengeschlossen hatten, um ihn von der Macht zu verdrängen. Zu dem Bündnis, auch bekannt als «Tisch der sechs», gehören die sozialdemokratische CHP und die İyi Parti. Noch haben diese keine Kandidat:innen aufgestellt. Doch statt zunächst den CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu über die Hilfsmassnahmen zu informieren, rief Erdoğan Meral Akşener an, die ultranationalistische Vorsitzende der İyi Parti. Diese wiederum hat keinen Hehl daraus gemacht, dass sie gegen die Kandidatur Kılıçdaroğlus ist und eine antikurdische Politik wünscht.