Peru: Ein Kilo Wolle für ein Sixpack Bier

Nr. 51 –

Alpakawolle ist auf dem internationalen Markt begehrt. Doch nur wenig vom Gewinn kommt bei den Landwirt:innen an, und in den Anden trocknen die Weiden aus, die Tierhaltung wird schwierig. Einige versuchen, sich zu wehren.

Alpaka-Tiere auf einer von Steinmauern umgebenen Weidefläche
Alpakas gehören zur Familie der Kamele. Die Inkas haben sie vor etwa 5000 Jahren domestiziert.

Hoch oben in den Anden, wo die Luft dünn ist und nur wenig wächst, lässt Timoteo Condori den Blick über die Weiden wandern, die ihm in letzter Zeit so viel Sorge bereitet haben. Der kalte Wind bläst unnachgiebig, das gelbe Gras liegt platt wie Stroh am Boden. Eine karge Landschaft, 4500 Meter über dem Meeresspiegel, einzig belebt von einer Herde Alpakas. Die Tiere trotten durch die Ebene und rupfen an Grasbüscheln. «Alles, was ich tue, ist kämpfen», sagt Condori. So weit er zurückdenken kann, hat seine Familie Alpakas gezüchtet. Jetzt ist er siebzig Jahre alt und hat Angst, dass seine Generation die letzte sein könnte, die mit der Wolle der Tiere ihren Lebensunterhalt verdient.

Zusammen mit seiner Frau und den sechs Söhnen hält Condori 170 Alpakas. Die Arbeit beginnt um vier Uhr morgens und endet um sechs Uhr abends, wenn die Tiere zurück zum Hof kommen, wo die Familie sie füttert, pflegt und einmal im Jahr schert. Ihre Wolle ist kostbar. Fernab der Hochanden wird aus ihr Kleidung hergestellt, die für viel Geld verkauft wird. Allerdings ist der Gewinn der Condoris gering: Mit dem Vlies, der nach der Schur noch zusammenhängenden Wolle, verdienen sie etwa 1700 Franken pro Jahr – zu wenig zum Überleben.

An der Zürcher Bahnhofstrasse würden sie mit ihrem Jahresumsatz nicht weit kommen. Obwohl in den Geschäften Kleidung verkauft wird, die vielleicht aus ihrer Wolle hergestellt ist. Bei Loro Piana zum Beispiel. Elegante Schnitte, exklusive Stoffe – dafür steht die Marke aus Italien, die spätestens seit der HBO-Serie «Succession» für «quiet luxury» bekannt ist: Reiche Menschen tragen keine Markenlogos, sondern exklusive Naturfaser, so die Message. Einige Modelle bei Loro Piana sind auch aus Alpakawolle. Da wäre zum Beispiel der Mantel Gibson für 4600 Franken oder der Schal Yolin für 1100 Franken. Vermarktet werden sie über die Herkunft des Stoffs. «Spüren Sie die frische Luft, die über den Anden tanzt», heisst es auf der Website. «Tragen Sie die Wolle der Götter.»

Stoffe vom Ende der Welt machen sich gut als Werbebotschaft. Doch auch wer nicht mehrere Tausend Franken übrig hat, kann sich Kleidung aus Alpakawolle leisten. Zum Beispiel bei Apu Kuntur, einem Familienbetrieb, der auf dem Zürcher Weihnachtsmarkt Mützen, Schals und Pullover aus Alpakawolle verkauft. Auch online haben zahlreiche Firmen Produkte aus Alpakawolle im Angebot. Das Besondere an den Fasern sind ihre thermischen Eigenschaften: Sie kühlen bei Hitze und wärmen bei Kälte, sind robust und wasserfest, fühlen sich aber trotzdem weich und geschmeidig an.

Klüger als Katzen

Familie Condori lebt im Südosten Perus, in San Antonio de Chuca auf der Andenhochebene, dem Altiplano. Zur Feier des Tages hat sie für die Gäste ein Lama mit bunten Bändern und roten Troddeln geschmückt, die dem unzufriedenen Tier aus den Ohren ragen. Timoteo Condori ist ein kleiner Mann mit grossem Cowboyhut, dem man sein Alter trotz der harten Arbeit kaum ansieht. Das Haar unter dem Hut ist noch immer so pechschwarz wie das seiner Söhne. Doch das Leben hier hat seine Spuren hinterlassen. Condori hat Arthritis und Gastritis, ausserdem leidet er häufig unter Magenschmerzen, weil die Nahrungsmittel immer wieder knapp sind: «Wir haben weder Essen noch Geld.» Er ernährt sich vor allem von Alpakafleisch und Kartoffeln. «Ich bin von Herzen Alpaquero», sagt er. «Aber wenn sich nicht bald etwas ändert, werde ich das Leben hier aufgeben müssen.»

Condori liebt seine Tiere. Er kann sie alle auseinanderhalten, hat sie aufwachsen sehen und das erste Mal geschoren, als sie zwei Jahre alt wurden. Als die Sonne untergeht, kommen die Tiere zurück zum Hof. Einen Unterstand gibt es nicht, den kann er sich nicht leisten. Aber immerhin gibt es einen kleinen Zaun, der die Alpakas nachts vor Pumas schützen soll. Eines der Tiere bleibt zurück. Es schaut Condori an. Er hat es vor einigen Jahren mit der Flasche aufziehen müssen, weil die Mutter es verstossen hatte. Bis heute ist es zutraulicher als die anderen.

Denn eigentlich sind Alpakas Distanztiere. Sie werden nicht gern gestreichelt. Wie Lamas gehören sie zur Familie der Kamele. Sie sind klüger als Katzen, und ihre Sohlen sind so weich, dass sie das Gras, auf dem sie gehen, nicht verletzen. Wenn sie weiden, rupfen sie das Gras so, dass die Wurzeln intakt bleiben. Die Inkas haben Alpakas vor 5000 Jahren als Fleisch- und Wolllieferanten domestiziert. Heute bekommt Condori für ein Kilo Alpakawolle rund 33 Soles, etwa 9 Franken. Das ist etwa so viel, wie ein Sixpack Bier kostet. Er verkauft die Wolle an einen Zwischenhändler, der sie nach Arequipa bringt und dort weiterverkauft. Bezahlt wird nach Gewicht, unabhängig von der Qualität.

Peru ist Marktführer in der Alpakaindustrie. Hier leben vier Fünftel aller Alpakas der Welt. 2022 exportierte das Land Alpakaprodukte im Wert von 187 Millionen US-Dollar, hauptsächlich in die Vereinigten Staaten, nach Italien und China. Die Nachfrage nach Wolle war noch nie so gross wie heute. Und diesen wachsenden Markt teilen sich in Peru zwei Unternehmen: der ehemals britische Konzern Michell und die Inca-Tops-Gruppe. Ihnen gegenüber stehen etwa 82 000 Menschen, die wie Familie Condori auf die Einnahmen aus dem Verkauf der Wolle angewiesen sind. Die beiden Marktführer haben ein millionenschweres Geschäftssystem etabliert, das die Alpakabäuer:innen benachteiligt.

Alpakavlies auf dem Markt in Chahuacana
Alpakavlies auf dem Markt in Chahuacana.

Die Alpaqueros und Alpaqueras könnten ihre Einnahmen verbessern, wenn sie die Herden vergrösserten. Doch dazu fehlt ihnen das Futter für die Tiere, denn die Klimaerwärmung macht ihnen zu schaffen. Jahr für Jahr regnet es weniger, und das in einer Region, in der Wasser immer schon ein knappes Gut war. Der peruanische Wetterdienst Senamhi hat von Dezember 2022 bis März 2023 einen Niederschlag von 180 Milliliter pro Quadratmeter gemessen, 120 Milliliter weniger als noch im Vorjahr. Und im September dieses Jahres stand der Pegel des Titicacasees so niedrig wie noch nie. Der Wassermangel führte zu starken Ernteverlusten. Das Klimaphänomen El Niño sorgt zusätzlich für Überschwemmungen im Norden und verstärkt Dürren im Süden des Landes.

«Es ist windiger und kälter als noch vor ein paar Jahren», sagt Condori, «aber das grösste Problem ist das Wasser.» Durch den ausbleibenden Niederschlag werden die Weiden immer weniger ergiebig. Die Indigenen nennen das zähe Gras der Anden «ichu», es ist Teil ihrer Tradition. Sie nutzen es für Dächer, die Herstellung von Lehmziegeln, die Konservierung von Kartoffeln. Und es ist das Futter für Lamas und Alpakas.

«Unsere Tiere werden dünner und haben mehr Fehlgeburten», sagt Condori. Im letzten Jahr waren siebzig seiner Tiere trächtig, davon haben dreissig ihre Jungen verloren. Alpakas bekommen ihren Nachwuchs in der Regensaison zwischen Dezember und März. Wegen der Dürre schaffen es immer weniger Jungtiere durch das erste Jahr. Um sie nicht verhungern zu lassen, verkauft Condori einige seiner Tiere an Schlachthöfe. Für ein Kilo Fleisch bekommt er allerdings noch weniger als für ein Kilo Vlies. Laut der gemeinnützigen Organisation Descosur, die sich um die Belange der Züchter:innen kümmert, verkleinert sich die Alpakapopulation seit der letzten Zählung von 2012 kontinuierlich. Die Tiere erfrieren, verhungern oder werden durch kontaminierte Böden vergiftet. Nicht weit von der Farm der Familie Condori steht die Kupfermine Las Bambas. Sie verbraucht nicht nur sehr viel Wasser, sondern verschmutzt auch die Böden – eine Gefahr für Mensch und Tier.

Alpaka-Herde in Peru
Achtzig Prozent aller Alpakas der Welt leben in Peru. Anhand der bunten Bänder an den Ohren können die Züchter:innen sie auseinanderhalten.

In Europa profitieren einige Unternehmen vom schlechten Geschäft der Bäuer:innen. Weich Couture Alpaca zum Beispiel. Die deutsche Firma verkauft unter anderem Wärmflaschen mit Alpakafell für 180 Franken das Stück. Sie wirbt damit, dass ausschliesslich Felle von Tieren verwendet würden, die eines natürlichen Todes gestorben seien, oder Abfallprodukte der Fleischindustrie. Als Kund:in denkt man dabei nicht unbedingt an ein vergiftetes, verhungertes oder erfrorenes Jungtier. Stammen die Felle, die Weich Couture verwendet, auch von Tieren, die so gestorben sind? Bis Redaktionsschluss hat die Firma auf wiederholte Anfragen nicht reagiert.

Rodolfo Marquina von Descosur sagt, der Klimawandel habe Auswirkungen auf alle Aspekte der Alpakazucht. Er verlangt von Michell und Inca Tops bessere Preise für das Vlies und Unterstützung, um Farmen an die veränderten Bedingungen anzupassen, zum Beispiel Hilfe beim Bau von Unterständen gegen den Frost oder bei Systemen für bessere Regenwassernutzung. Doch bisher vergebens.

«Schlecht gebildet»

Vor der Fabrik der Michell Group in Arequipa, der Hauptstadt der Alpakaindustrie, steht ein grosser Lastwagen voller Vlies. Es ist heiss und staubig. Junge Männer schleppen Säcke in die Halle. Als Journalistin ist es nicht leicht, hier einen Termin zu bekommen. Jose Carlos Hernani Oviedo macht eine Ausnahme. Er arbeitet seit zehn Jahren im Marketing von Michell, trägt braune Lederschuhe zu blauem Anzug, ausnahmsweise ist nichts davon aus Alpakawolle. In der angrenzenden Halle beginnt der erste Schritt der Produktion. An kleinen Tischen sortieren Frauen das Vlies, es wird «balón» genannt. Das Vlies hat weiche und grobe Anteile. Durch jahrelange Erfahrung können die Sortiererinnen in Sekundenschnelle ertasten, mit welcher Qualität sie es zu tun haben.

Alpakawolle wird in verschiedenen Qualitätsstufen gehandelt: von «grueso», grob, bis «Super Baby Alpaca» für sehr weich. «Baby Alpaca» heisst die beste Wolle, die ein Alpaka zu bieten hat. Sie befindet sich am Nacken, wo sie selten mit Erde oder Gras in Berührung kommt. Die groben Anteile sind für die Produktion nahezu wertlos, sie können nur für Decken oder Spielzeug verwendet werden. Die Selektion sei daher der wichtigste Schritt, sagt Oviedo. Er betont die Qualität der Wolle auch deshalb, weil die Konkurrenz in der Textilindustrie gross ist: Alpakawolle konkurriert mit Kaschmir, Mohair, Angora oder Yak.

Verarbeitung von Alpaka-Vlies in der Fabrik
In der Fabrik wird das Vlies von Erde und Gras befreit, gewaschen und getrocknet. 

Der Brite Frank W. Michell gründete das Unternehmen 1931. Es konzentriert sich auf die internationalen Märkte, vor allem Italien. Dort verlangen Kunden wie Loro Piana nach bester Qualität. Und die wird für Michell zunehmend zum Problem. Oviedo findet, die Alpakabäuer:innen leisteten keine gute Arbeit. Die Familien verstünden das Handwerk nicht. Nirgends in Peru seien die Leute so schlecht gebildet wie in der Region Puno, wo die meisten Alpakahalter:innen leben. «Das ist keine gute Nachricht», sagt Oviedo, «aber die Wahrheit.» Und die Bäuer:innen werden älter, das Durchschnittsalter beträgt sechzig Jahre. Viele junge Menschen verlassen die Berge und ziehen in die Städte, wo es bessere Arbeits- und Lebensbedingungen gibt. «Das ist eine unserer grössten Sorgen», sagt Oviedo.

Als einer der zwei grössten Abnehmer in Peru könnte Michell an den Lebensbedingungen der Bäuer:innen etwas ändern, zum Beispiel höhere Löhne zahlen. Oviedo sagt, man helfe bereits. Das Unternehmen unterhält in Puno eine Schule für 200 Kinder. Und würden die Bauern bessere Qualität liefern, könnte Michell mehr Geld zahlen, sagt Oviedo. Er meint, die Alpaqueros sollten mehr Tiere halten und die Produktivität pro Hektare steigern, wenn sie mehr Geld verdienen wollten. Er macht eine Landreform von 1969 dafür verantwortlich, dass die Branche keine gute Qualität liefere. Davor gab es kaum Tierhalter:innen mit wenigen Hundert Tieren, sondern grosse Höfe mit vielen Tausend. Dass die Klimaerwärmung die Arbeit der Bäuer:innen bedroht, sieht Oviedo. Aber die 33 Soles pro Kilo Wolle seien eben ein historischer Preis, an dem man nicht rüttle.

«Wie kann die Produktivität pro Hektare gesteigert werden, wenn die Weiden nicht mehr genug Nahrung für die Tiere bereithalten?», fragt Rodolfo Marquina. Er schlägt vor, dass Michell den Alpakahalter:innen bei der Zucht helfen sollte, zum Beispiel mit künstlicher Befruchtung, wie es in der Milchindustrie seit Jahren gehandhabt wird. Bessere Qualität erzielt auf den internationalen Märkten bessere Preise. Das würde der Alpakaindustrie im Ganzen helfen. Gröberes Vlies habe mehr Volumen und wiege mehr, erklärt er. Deswegen züchteten einige Farmer Alpakas mit gröberen Fasern, auch wenn die Qualität darunter leide. «Wie kann es sein, dass eine Industrie, in der Qualität zählt, nur nach Quantität bezahlt?»

Michell besitzt eine eigene Farm in der Nähe der Stadt Puno. Dort wird allerdings weniger als ein Prozent des Vlieses produziert, das das Unternehmen verarbeitet. Die Farm wurde 2021 bekannt, als die Tierschutzorganisation Peta Videoaufnahmen veröffentlichte, die brutale Tierquälerei bei der Schur zeigten. In einem Statement schreibt Michell, dass man die Bilder bedaure. Diese seien jedoch bearbeitet, es handle sich um Einzelfälle. Auf die Frage, warum Michell nicht mehr selbst produziere, sagt Oviedo schlicht: «Zu teuer.» So günstig wie die Bäuerinnen und Bauern könnten sie es selber nicht machen. Und: «Die Herkunft zählt.» Alpakawolle verkauft sich auch deshalb so gut, weil die Geschichte dahinter stimmt: die Bäuer:innen in den Anden, die Wolle der Inkas.

Nach der Selektion wird die Wolle mehrmals gewaschen, getrocknet, gekämmt und zu Garn verarbeitet. Die Maschinen laufen sieben Tage die Woche. In diesen Hallen wird deutlich: Die Verarbeitung der Alpakawolle steigert deren Wert enorm. Auch deshalb liegt die Macht beim industriellen Verarbeiter, nicht bei den Bäuer:innen. Denn die internationalen Abnehmer interessieren sich nicht für die rohe Wolle, sondern nur für die verarbeitete. Ein Kilo ungewaschenes Vlies wird für etwa neun Franken eingekauft und als Garn für vierzig Franken pro Kilogramm weiterverkauft.

Lieber ohne Zwischenhändler

«Misti, Chachani, Pukasaya, Waqullani.» Fabiana Inesa Nina Cotipa deutet auf die Berge vor ihr. Die Alpakazüchterin aus Cañahuas ist mit ihnen aufgewachsen. Früher waren sie alle noch mit Schnee bedeckt, doch in den letzten Jahren sind die Gletscher geschmolzen. Das graue Haar trägt Cotipa zu zwei langen Zöpfen geflochten, ein hoher Hut schützt sie vor der starken Sonne. «Wir haben von der Hand in den Mund gelebt», erinnert sich Cotipa. Um drei Uhr morgens stand sie auf, um mit ihrer Mutter in die Berge zu ihren Tieren zu gehen, Mais und getrocknetes Fleisch in ihrem Tragetuch, dem Lliklla. Die Alpaquera sprach lange nur schlecht Spanisch. Ihre Muttersprache ist Quechua, die Sprache der Inkas. Keines ihrer zehn Kinder spricht diese Sprache. Der alten Frau laufen die Tränen über die Wangen, als sie davon berichtet.

Alpakazüchterin Fabiana Inesa Nina Cotipa
«Wir haben von der Hand in den Mund gelebt»: Fabiana Inesa Nina Cotipa ist seit ihrer Kindheit Alpaquera.

Als die Spanier Peru im 16. Jahrhundert kolonisierten, rotteten sie beinahe die gesamte indigene Bevölkerung aus. Viele starben an eingeschleppten Krankheiten, andere überlebten die Zwangsarbeit im Bergbau nicht. Die Eroberer bestimmten Spanisch als Amtssprache und das Christentum als Religion. Ausserdem vertrieben sie Alpakas und Lamas, die Tiere der Inkas, und züchteten Pferde, Schweine und Kühe. Die Bevölkerung der Anden trieben sie in ausgewählte Gebiete. Einige Menschen entkamen und zogen mit ihren Lamas und Alpakas weiter hinauf in die Berge, wo der Einfluss der Spanier geringer war. Später tauschten die weissen Besitzer der Haciendas mit den Indigenen in den Bergen Zucker und andere Güter gegen Alpakavlies – für die Bäuer:innen ein schlechtes Geschäft. Die Alpaquera Cotipa erinnert sich an den Besitzer der Hacienda, für den ihre Mutter arbeitete. Er war es, der ihr verbot, ihren Kindern Quechua beizubringen.

Erst 1920 wurden indigene Gemeinden als Rechtssubjekte anerkannt und erhielten Schutz vor Enteignung. Ihr Land bekamen sie trotzdem nicht zurück. Das änderte sich erst in den sechziger Jahren, als bis zu 300 000 Bäuer:innen auf die Strasse gingen. 1969 wurde das gestohlene Land schliesslich von der Regierung an indigene Dorfgemeinschaften verteilt. So verschwand die alte Klasse der weissen Grossgrundbesitzer:innen. Davor hatten zwei Prozent der Landeigentümer:innen drei Viertel der landwirtschaftlichen Fläche besessen.

Timoteo Condori, der Alpaquero mit den sechs Söhnen, findet, Michell werde seiner Verantwortung nicht gerecht. Er erwartet auch vom Staat mehr Unterstützung. «Ich bin enttäuscht und wütend», sagt er. «Die Regierung hat uns vergessen.» Das Landwirtschaftsministerium startete im Jahr 2020 zwar ein dreijähriges Programm zum Bau von 2300 Viehställen in den Andengemeinden, aber umgesetzt ist davon noch nicht viel. Es scheitere an der schlechten Infrastruktur, sagt Rodolfo Marquina von der NGO Descosur. Er beklagt auch, dass Universitäten selten zu Themen forschten, die die Bewohner:innen der Hochanden beträfen, und es gebe weniger Investitionen in den Sektor.

Die Wut der indigenen Bewohner:innen der Anden hat sich auch Anfang des Jahres bemerkbar gemacht. Sie blockierten wichtige Strassen in Puno und Cusco. Wegen der Blockade musste Machu Picchu, die wichtigste Touristenattraktion Perus, wochenlang geschlossen bleiben. Militär und Polizei schossen auf die Protestierenden, über sechzig Menschen wurden getötet. Die meisten Demonstrant:innen kamen in Ayacucho, einer Stadt in den Anden, ums Leben. Indigenes Leben scheint weniger wert. Obwohl den Demonstrant:innen von der Übergangsregierung versprochen wurde, dass sich ihre Situation verbessern würde, änderte sich nichts.

Weil weder die Unternehmen noch die peruanische Regierung helfen, entwickeln die Alpaqueros und Alpaqueras eigene Strategien, um zu überleben. Timoteo Condori hat mithilfe der NGO Descosur Teiche angelegt, um das Regenwasser besser zu halten. «Wir kümmern uns um die Quellen, deren Wasser auch die Städte erreicht», sagt er. «Der Staat sollte uns dafür bezahlen.» Als Ersatz für das schwindende Gras hat Descosur eine Pflanze gefunden, die von den Indigenen früher bereits genutzt wurde, aber in Vergessenheit geraten ist: Bofedales funktionieren wie Schwämme, sie bewahren das Regenwasser davor, zu schnell zu versickern.

Fabiana Inesa Nina Cotipa hat sich einem Frauenkollektiv angeschlossen, das Alpakavlies gemeinsam verarbeitet und verkauft. Aus der Wolle stellen sie Kleidung her, die sie für sieben bis neun Franken an Tourist:innen verkaufen. Es ist ihr Versuch, ohne Zwischenhändler und Unternehmen vom Alpakageschäft zu leben. Cotipa zeigt stolz auf den schwarzen Schal, an dem sie strickt. Die Wolle dafür hat sie selbst geschoren, gewaschen und zu einem Doppelfaden gesponnen. Das schwarze Alpaka, von dem die Wolle stammt, mampft hinter ihr zufrieden an einem Stängel Luzerne.