Aufruhr in Peru: Wenn sich die Aymara erheben
Massakern und Militärmanövern zum Trotz: Perus neue Präsidentin stösst weiter auf erbitterten Widerstand – gerade aus dem Süden des Landes, wo man sich kollektiv zu organisieren weiss.
«Für die Verräterin kennen wir keine Gnade. […] Wenn ich sie kriege, bekommt sie die hier zu spüren – die tötet nicht, aber sie korrigiert die Korrupten und Verlogenen», schimpft Maruja Inquilla Sucasaca und schwingt dabei eine Peitsche, das Symbol der Gemeinschaftsjustiz der Aymara-Indigenen. Die 48-jährige Bäuerin aus einem Dorf in Puno im Süden des Landes ist nach Lima gereist, um den Protest ins Zentrum der Macht zu tragen. Jetzt steht sie mit ihrem farbigen Hut an der Absperrung vor der San-Marcos-Universität, wo die Polizei in einem Grosseinsatz die Protestdelegationen verhaftet, die im Gebäude Unterschlupf gefunden hatten. «Sie meint, sie könne uns mit Kugeln und Mord zu Gehorsam zwingen, aber so geht das nicht!»
Mit «sie» meint Sucasaca die neue Präsidentin von Peru, Dina Boluarte. Ihre Bilanz nach nur fünfzig Tagen im Amt: 46 tote und über 900 verletzte Demonstrant:innen. Seit dem hilflosen Versuch ihres Vorgängers Pedro Castillo, das Parlament aufzulösen und so seiner Absetzung durch ebendieses zuvorzukommen, ist das Land im Aufruhr.
Auch wenn Dina Boluarte als Castillos’ Vizepräsidentin gemäss Verfassung seine rechtmässige Nachfolgerin ist, wird sie von einer Mehrheit der Peruaner:innen als illegitim betrachtet: Nur bei den reichsten Einkommensklassen in Lima erreicht sie bessere Zustimmungswerte als er. Ihre Unbeliebtheit sei Ausdruck von Machismo, meinte Boluarte. Mit ihrem Status als erste Frau im Präsidialamt, die dazu Quechua-sprachig ist und aus einer Andenprovinz stammt, versuchte sie erfolglos, Sympathien zu gewinnen. Ohne eigene Machtbasis im Parlament wird die ehemals Linke als Marionette wahrgenommen, die lediglich ausführt, was die rechte Parlamentsmehrheit und die verhasste Wirtschaftselite der Hauptstadt von ihr verlangen.
Wie Bäuerin Sucasaca stammen auch die meisten der 200 letzten Samstag in der Uni Verhafteten aus Puno (bis Montag waren alle wieder frei). In den Tagen zuvor hatten sie unter ständigem Tränengasbeschuss auf den Strassen und den Plätzen des Regierungsviertels protestiert. Jene, die rechtzeitig entwischen konnten, erzählen, wieso sie gekommen sind: «Wenn die Polizei bei uns Leute erschiesst, kümmert sich in Lima niemand darum», meint ein Mittvierziger. «Wir wollen den Rücktritt von Boluarte, die Auflösung des Parlaments, schnellstmögliche Neuwahlen und eine verfassungsgebende Versammlung», fasst sein Kollege die Forderungen zusammen. Und: «Wir sind keine Terroristen. Die Verantwortlichen der Massaker müssen bestraft werden.»
Die Bilder der Räumung einer der ältesten öffentlichen Universitäten des Kontinents, bei der ein Panzer das Tor eindrückte und die Polizei einfache Bäuer:innen wie Terrorist:innen behandelte, trugen Lokaljournalist:innen, die mit den Delegationen nach Lima gereist waren, ins ganze Land. Noch am selben Tag fuhren in Puno, Cusco und anderen Regionen Busse los, um Verstärkung zu bringen. Besonders die Studierenden, aber auch die Intellektuellen der Hauptstadt, von denen bis anhin wenig zu sehen war, mobilisierten nun für die Grossdemo vom Dienstag, die – einmal mehr – in einer Tränengaswolke erstickt wurde.
Wer hat das Heft in der Hand?
Seit dem Ausbruch der Proteste am ersten Tag ihrer Präsidentschaft giesst Boluarte ständig Öl ins Feuer. Während sie das «tadellose» Vorgehen der Sicherheitskräfte lobt, verunglimpft sie die Demonstrierenden als Radikale und Vandalen, die von dunklen Interessen des Drogenhandels, des illegalen Bergbaus, von kommunistischen Terrorgruppen oder gar vom bolivianischen Expräsidenten Evo Morales persönlich gesteuert würden. Und sie versucht, die «Minderheit» der Unzufriedenen im Süden gegen den Rest des Landes auszuspielen, wo die Menschen «doch nur in Ruhe arbeiten möchten». Sie werde das nicht zulassen, denn «Puno ist nicht Peru».
Derweil entstehen zahlreiche Theorien dazu, wer in der Regierung wirklich das Heft in der Hand hält. Ist es Premierminister Alberto Otárola? Sind es die Generäle? Welche Rolle spielt die oberste Staatsanwältin, Patricia Benavides, die mit parteiischen Anklagen und Umstrukturierungen des Justizapparats in die Politik eingreift? Ist alles eingefädelt von der Diktatorentochter Keiko Fujimori, die sich im Wissen um ihre Unpopularität im Hintergrund hält? Oder gar vom berüchtigten Architekten des Fujimori-Regimes aus den neunziger Jahren, Vladimiro Montesinos, der wegen diverser Verbrechen im Gefängnis sitzt? Wie auch immer, die Vorgeschichten und die Verstrickungen von Schlüsselpersonen in Regierung, Parlament und Justiz sowie in den gleichgeschalteten Massenmedien deuten darauf hin, dass die Gewaltentrennung auf der Kippe steht.
Klar ist: Seit der Ausrufung des Ausnahmezustands sind die Sicherheitskräfte ausser Rand und Band. In den sozialen Medien zirkulieren Videos von wild um sich schiessenden Polizist:innen und Militärs. Auch wenn manche Demonstrant:innen mit ihren Steinschleudern nicht zimperlich sind und es zu zahlreichen Brandanschlägen auf öffentliche Gebäude und Fahrzeuge kam, bei denen auch ein Polizist ums Leben kam – die Zahl der Todesopfer lässt sich in keiner Weise rechtfertigen.
Die meisten der 46 Todesopfer sind junge Männer mit indigenen Familiennamen, die häufigste Todesursache sind Schusswunden im Oberkörper. Cristian Rojas Vásquez (19), Bauernsohn und Apothekerlehrling, ist eines der fünf Opfer des Massakers in Andahuaylas, wo Demonstrant:innen das Flugfeld stürmten. Carlos Huamán Cabrera (26), Vater und Sänger, arbeitete in einer Heidelbeerplantage in Virú bei Trujillo; erschossen wurde er bei der Räumung einer Strassenblockade, die von Arbeiter:innen des Agroexports errichtet worden war. Leonardo Hancco Chacca (27), Vater und Transportarbeiter, starb beim Massaker in Ayacucho, wo das Militär zehn Menschen erschoss, um den Flughafen zu beschützen. Das schlimmste Massaker mit achtzehn Todesopfern geschah am 9. Januar in der Stadt Juliaca in der Provinz Puno; darunter war auch Yamileth Aroquipa Hancco (17), Psychologiestudentin und freiwillige Helferin in einem Tierheim.
Eines der letzten Opfer ist Sonia Aguilar Quispe (35), Mutter von zwei Kindern und Mitglied der Bauernpatrouille. Sie starb am 18. Januar durch einen Kopfschuss, abgefeuert aus der Polizeistation der Kleinstadt Macusani in Puno – am gleichen Tag, als die peruanische Aussenministerin Ana Gervasi am Wef in Davos Bundesrat Ignazio Cassis die Hand schüttelte und versicherte, ihre Regierung sei um einen «konstruktiven Dialog» mit den Demonstrierenden bemüht.
Auf den Kampf fokussiert
Der Satz «Puno ist nicht Peru», den Boluarte am Dienstag an einer Pressekonferenz scheinbar beiläufig hatte fallen lassen, erwies sich als Ankündigung. Am selben Nachmittag marschierten weitere Hundertschaften des Militärs in Puno ein, über offenes Gelände, an den Blockaden vorbei.
«Wenn sich die Aymara erheben, gibt es kein Zurück», erklärt der Journalist Liubomir Fernandez per Telefon aus Puno. «Wenn wir jetzt aufgeben, waren alle Opfer vergebens», so die Logik vor Ort. Puno, die Region an der Grenze zu Bolivien, sei seit Anfang Jahr komplett lahmgelegt. Ein «trockener Streik» werde das genannt, selbst Restaurants und Märkte sind geschlossen. Stattdessen werden Gemeinschaftsküchen organisiert, die mit gespendeten lokalen Produkten funktionieren. Aus diversen Ortschaften hat sich die Polizei zurückgezogen, deren Stationen wurden angezündet.
«Die Frauen sind die Anführerinnen», führt Fernandez aus. «Das heisst, die ganze Familie und die Gemeinschaften müssen mitziehen.» Die Frauen kontrollierten als Familienoberhäupter den Grossteil der lokalen Wirtschaftszweige. Die Aymara seien für starken sozialen Zusammenhalt bekannt und stolz auf ihre Identität. Geübt seien sie zudem in kollektiven Organisationsformen: Was sonst für den Bau einer Wasserleitung oder das Organisieren eines Dorffestes funktioniere, fokussiere sich nun halt auf den Kampf.
Ein Rücktritt von Boluarte und baldige Neuwahlen würden dem gebeutelten Land wohl eine Verschnaufpause bringen. Die tieferliegende Krise wäre damit nicht gelöst. Der Weg einer verfassungsgebenden Versammlung ist zwar lang und kompliziert, trotzdem scheint es vielen die beste Option, um dem drohenden Abrutschen in den Autoritarismus entgegenzuwirken.