Von oben herab: Im Klub

Nr. 51 –

Stefan Gärtner über in die Wiege Gelegtes

«Lebenslanges Lernen» ist ja eine neoliberale Phrase, aber dass man nie auslernt, stimmt. Neulich ist mir aufgefallen, dass ich mein schreibendes Leben lang «sakrosant» geschrieben habe, wo es doch «sakrosankt» heissen muss, und eben erfahre ich, dass die Schweiz einen Bundeskanzler hat. Mir war tatsächlich nicht klar gewesen, dass es in der Eidgenossenschaft ein solches Amt gibt, aber es stimmt: «Der Bundeskanzler ist der Stabschef des Bundesrates und übernimmt diverse Aufgaben für den Bundesrat» (Wikipedia) und heisst neuerdings Viktor Rossi. Beat Balzli, Chefredaktor der «NZZ am Sonntag», ist begeistert, denn Rossi, «Spross italienischer Einwanderer» und gelernter Koch, sei «die menschgewordene Antriebsfeder einer liberalen Gesellschaftsordnung», in der es alle zu etwas bringen können, «sofern sie es unbedingt wollen und dafür Überdurchschnittliches zu leisten bereit sind. Womit wir beim springenden Punkt wären», der liberalerweise so geht, dass nur die offene Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft es den Schwächeren erlaube, ihre «einzigen Vermögenswerte» in die Waagschale zu bringen, nämlich «Begabung und Leistungswillen». Die Herkunft, muss Balzli einräumen, bestimme stark darüber, wohin die Reise gehe, «doch schon in der übernächsten Generation nimmt der Effekt des Geburtsprivilegs deutlich ab», und also: «Mit dem Abgesang auf die Leistungsgesellschaft zementieren ihre Kritiker Verhältnisse, die sie eigentlich aufbrechen wollen. Das Upgrade in die Businessclass bleibt ihrer Klientel verwehrt.»

In Deutschland heisst die Leistungs- ja seit einiger Zeit Chancengesellschaft, was freundlicher klingt, aber fieser ist. Denn Chancengesellschaft bedeutet, dass jeder seine Chance kriegt, und wer sie versiebt, ist selbst dran schuld. Die Herkunft nun bestimmt stark darüber, wie gut eine ihre Chance nutzt, und auch in der dritten oder vierten Generation korrelieren Chance und Milieu. Mein Grossvater war Chemiker, mein Vater Apotheker, und ich bin jetzt der Nichtsnutz, der sich durchs Studium geschnarcht hat und trotzdem im Weltspitzenjournalismus gelandet ist, und als unser erster Sohn geboren wurde, lag im Nachbarbett eine weitere junge Mutter, und es war zu sehen, dass die Chancen ihres Sohnes, sagen wir: andere waren. Das bedeutet nicht, dass dieser andere Junge nicht (deutscher) Bundeskanzler werden kann; es bedeutet bloss, dass es ungleich wahrscheinlicher ist, dass mein Sohn Bundeskanzler wird, was, nebenbei, eine durchaus unfaschistische Angelegenheit wäre, denn mit Slogans wie «Jetzt wird aufgeräumt!» muss bei dem Bengel nicht gerechnet werden. Eher schon mit «Mir doch egal», aber mit derlei wird man nicht Bundeskanzler.

Kaum fällt mal richtig Schnee, schreien die Ersten, mit der Erderhitzung sei es wohl nicht so arg, und jede Aufsteigerin steht dafür ein, dass es Klassenschranken gar nicht gibt. Im Gegenteil bürgt, wer eine Schranke überwindet, für deren Existenz, und darum geht es dem Balzli und seinem Sonntagsblatt: dass es ein paar in den Klub schaffen. Denn erstens sind die, begabt und leistungsbereit, von jenem Schlag, den man im Klub gut gebrauchen kann, und zweitens zeigen die, die es geschafft haben, denen, die es nicht geschafft haben, dass es da wohl an Begabung und Leistungswillen gefehlt hat. Als es vor ein paar Jahren in Deutschland dauernd um «Hochbegabung» ging, war der durchsichtige Zweck, das Bildungsprivileg zu biologisieren, und wenn moderne Pädagogik tatsächlich dafür sorgt, dass es nicht mehr nur um Leistung geht, ist auch das kein echter Fortschritt, weil sich dann Bourdieus kleine Unterschiede umso stärker in den Vordergrund schieben. Der springende Punkt also wäre, dass die Klassengesellschaft wie Weihnachten ist: Man entkommt beiden nicht. In diesem Sinne: Schöne solche!

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.

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