Von oben herab: Frag nicht
Stefan Gärtner über das letzte Bankgeheimnis
Was der Kapitalismus dem (realen) Sozialismus voraushat, ist seine bedingungslose Ehrlichkeit: Alle können jederzeit an allen gesellschaftlichen Prozessen teilnehmen und sie im Sinne unbedingter Transparenz einsehen. Wer will, kann alles wissen. Aber wer will das schon?
Eine dieser einfachen Fragen, die nie gestellt werden, lautet: Warum hat der eine was, und die andere hat nichts? (In Deutschland z. B. haben vierzig Prozent kein oder praktisch kein Geldvermögen.) Zu dieser nie gestellten Frage lautet die Antwort ca., dass der eine furchtbar fleissig und die andere furchtbar faul ist, und wers poetischer mag, der geht zur deutschen FDP, die Ungleichheit einmal zur «Hefe im Teig der Marktgesellschaft» erklärte, eine Erklärung, die freilich leichtfällt, wenn man Anwältin oder Apotheker ist. Überhaupt «Marktgesellschaft»: Wie «Leistungsgesellschaft» oder «Chancengesellschaft» ist der Begriff so nützlich, weil er insinuiert, dass, wer nichts leistet, seine Chancen nicht nutzt und am Markt darum nicht bestehen kann, ganz einfach selber schuld ist. Ist das erst mal ins Hirn gepflanzt, kann dann auch von «Leistungsträgern» die Rede sein – hier müssen wir nicht feminisieren, denn diese Rede ist männlich –, womit aber nicht Müllmänner, Kindergärtnerinnen, Bäckereifachverkäuferinnen oder Maurer gemeint sind, sondern die Leute in den Sportwagen, die für die Bewegung der Börsenkurse sorgen. Dass diese Kurse, als Sinnbild des herrschenden Positivismus, über allem stehen, davon kündet der Umstand, dass sie, in Deutschland wie in der Schweiz, allabendlich fester Bestandteil der Fernsehnachrichten sind, ohne dass noch der kleinste Zusammenhang – dass etwa auch Massenentlassungen Kurse treiben oder die griechische Rentnerin per «Sparpaket» deutsche (und Deutsche) Banken finanziert – expliziert werden müsste.
Der deutsche Finanzminister Schäuble, Sachwalter dieser Banken, ist der populärste Politiker des Landes, und das wäre schon die nächste Frage: ob die kleinen Leute nicht wissen, wie eng sie mit den kleinen Leuten Griechenlands verwandt sind, oder ob sie es nur billig finden, wenn die Faulen an ihrer Faulheit zugrunde gehen. Der Münchner Soziologe Stephan Lessenich spricht von einem «Pakt» zwischen Regierenden und Regierten: Die Regierenden dürfen tun, was sie wollen, solange die Regierten einen Wohlstand geniessen können, mit dessen Bedingungen und Folgen sie auf keinen Fall behelligt werden.
Es ist wie in der Sage von Parzival, der unerlöst bleibt, weil er die Frage nach dem Leid des Königs nicht stellt; wie, ausser mir, nie mal wer die Freie Demokratische Partei Deutschlands fragt, warum, wenn doch der Markt alles so schön regelt, zwei von drei deutschen Neufahrzeugen Steuergeschenke des «Dienstwagenprivilegs» sind. Das Bankgeheimnis, das eine SVP-Initiative unter Berufung auf den nötigen «Schutz der Privatsphäre» jetzt als wenigstens nationales in die Verfassung schrauben will, ist viel mehr als Folklore oder ein «Schwarzgeldhut in der Bundesverfassung», wie eine Berner Sozialdemokratin findet. «Das Bankgeheimnis» – wie beim deutschen Nachbarn «die Autoindustrie» – vertritt emblematisch die systemische Frage, die nicht gestellt werden soll: wer hat; und woher ers hat. Und warum eine «Volks»-Partei für diese Initiative verantwortlich zeichnet, ist dann die nächste Frage, die zu nahe liegt, als dass sie noch gestellt werden könnte.
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.