Oper: Glencore und wir

Nr. 4 –

«Justice» heisst die Oper von Hèctor Parra, die Milo Rau in Genf inszeniert. Thema: ein Chemieunfall im Kongo und das Rohstoffimperium Glencore. Taugt die Oper als Gericht?

Bühnenfoto der Oper «Justice»
Angeklagt wird nicht nur der Rohstoffmulti, sondern auch das Publikum: Countertenor Serge Kakudji singt die Arie des jungen Mannes, der beide Beine verlor. Foto: Carole Parodi

Milo Rau überlässt nichts dem Zufall. Damit ist er in der Oper richtig, weil es in dieser Kunstform wenig Spielraum für Improvisation gibt. Und in dieser speziellen Oper passt der sichere Weg doppelt gut, schliesslich heisst sie «Justice» – die Gerechtigkeit, aber auch das Recht oder die Justiz. Es gab wie immer sehr viel Pressematerial zur Vorbereitung und auch eine sehr gut besuchte Pressekonferenz im Grand Théâtre de Genève zwei Stunden vor der Uraufführung am 22. Januar.

Der katalanische Komponist Hèctor Parra, der Librettist Fiston Mwanza Mujila aus der Demokratischen Republik Kongo, Vertreter:innen von Hilfswerken und ein Sänger pfaden auf einem Panel, von Rau locker auf Französisch moderiert, den Weg in das Kunstereignis. Auch Champagner gibt es für einmal schon davor und nicht erst danach.

Mwanza Mujila eröffnet die Aufführung und tritt wiederholt als eine Art Moderator auf. Gleich zu Beginn erzählt er den Fall, wie er sich 2019 in seiner Heimat, der Demokratischen Republik Kongo, zugetragen hat. Ein Laster mit Schwefelsäure, die man im Kobaltabbau benötigt, rast in einen Markt, überschlägt sich und läuft aus. 21 Menschen sterben im Ort Kabwe in der Mitte des zentralafrikanischen Staates (und zwei Flugstunden von den andauernden Prozessen in Kinshasa entfernt, so kann sich keiner den Weg leisten).

Wegweiser und eine Säurelache

Den Hinterbliebenen und den Schwerverletzten hilft man nur wenig. Die Prozesse werden verschleppt, und viele Richter sind korrupt, die Abfindungsversuche zynisch (Essensrationen bis fünf Monate nach dem Unfall). Dahinter steht: Glencore, der grösste Rohstoffhändler der Welt mit Sitz im steuergünstigen Kanton Zug. Keine Orchesterklänge oder Chorpassagen stören vorerst die Botschaft. Zur Einführung des Dichters Mwanza Mujila spielt der Gitarrist Kojack Kossakamvwe virtuose afrikanische Begleitmusik. Er tappt auf dem Griffbrett, als hätte er vier Hände. Als Zuschauer sind sie einem – noch – gebunden (beim Rausgehen kann man spenden).

Und so werden zwei Fallen rhetorisch bereits umgangen, wie bei einem cleveren Plädoyer in einem Prozess. Erstens macht sich niemand des kolonialen Fehlers schuldig, dass primär ein weisser europäischer Regisseur und ein ebensolcher Komponist von afrikanischem Leid erzählen. Nach der Anfangsmoderation von Mwanza Mujila werden alle Mitwirkenden in kurzen Videos vorgestellt mit einem Lebenslauf, und zwar jenem von ihnen selbst, nicht jenem der Rolle; die meisten sind Schwarz, nicht alle aus Afrika. Und zweitens wird die Hauptanklage nicht gleich von allzu viel Hochkultur übertönt: Die Oper, die Kunstform der historischen Bourgeoisie, kommt erst, wenn die inhaltlichen Wegweiser stehen. Aber dann fordert sie ihr Recht ein: «Justice» ist auch ein Abend über die ganz grossen Gefühle. Und das ist ja eine Kernkompetenz der Oper.

Zumindest in den Arien klingt die Musik von Parra etwas weniger neutönerisch als im Rest der Partitur (obwohl sie das nie besonders stark sein will). Der Countertenor Serge Kakudji singt die Arie des Jungen, der nach dem Unfall beide Beine verlor und dazu gedrängt wurde, eine lächerliche Abfindung zu akzeptieren. Kakudji stammt selbst aus der Region des Unfalls. Und während er am Boden an der Rampe kniet, zeigt die Videoleinwand den realen jungen Mann in Kabwe in Nahaufnahme, umgeben von vermutlich seiner Familie, die verstört aussieht (ob die Kamera sie zusätzlich verunsichert oder vor allem das Trauma uns anschaut – oder beides?).

Die Arie der Mutter des toten Mädchens sucht noch stärker den Punkt, an dem das Gefühl ungehindert und masslos aus einem Bild, einer Szene in den Saal hinausströmen kann. Auf Video sehen wir die reale Mutter in Kabwe auf der Strasse stehen, unweit des Unfallorts. Und Axelle Fanyo singt davon, wie sie ihr Kind in der Säurelache unter dem Laster sterben hörte. In einer späteren Szene singt sogar das Kind selbst auf Suaheli, mit der Stimme von Lauren Michelle, die sonst eine Anwältin singt, wie alles andere in «Justice» auf Französisch. Die Anwälte von Glencore zahlten für die Hinterbliebenen eines Kindes 250 US-Dollar. Für einen Erwachsenen gab es 1000.

Vergifteter Applaus

Das geht oft über die Schmerzgrenze hinaus. Erst die Musik sorgt mit ihrer formalisierten Einhegung des Horrors dafür, dass man es gerade noch aushält. Die aus dem Sprechtheater von Milo Rau bekannten Mittel hingegen wirken im Dialog mit der Oper auch mal daneben: Die Fotos und Videos der Toten rund um den Bus, die schockierte Marktbesucher:innen 2019 mit ihren Handys machten, samt Nahaufnahmen der frisch Verstümmelten? Mit einem Filmschnitt von den Fleischkadavern auf dem Markt zu den Toten? In der Oper wirkt das plötzlich wie RTL 2.

Klar spielt Rau bewusst mit Geschmacksgrenzen, um sicherzugehen, dass niemand einschläft vor lauter Kunstgenuss. In Anbetracht der musikalischen und darstellerischen Mittel kann man feststellen: Der Kunst gelingt das hier besser. Der riesige gekippte Laster, der das Bühnenbild gegen hinten begrenzt, erzählt den Unfall genauso wie die Kleider der Toten, die zum Schnürboden hochfahren. Hoch arbeitsteilige Künste wie die Oper haben den Vorteil, dass weder alle das Gleiche machen müssen noch sollen: Die Leichen im Close-up wirken dann obszön.

Es gibt aber auch ein paar böse Wendungen an diesem Abend, die nur bei Raus Regie und am Ende bei Mwanza Mujilas Libretto richtig aufgehoben sind. Beide überraschen. Die nicht immer klar bespielte Bühnensituation entfaltet sich erst allmählich: Es ist ein grosser Tisch zur Einweihung einer Schule in Kabwe. Da sitzen oft viele und oft jene, die gerade nicht singen. Zwei Priester etwa, der (weisse) Direktor der Schule und seine Frau. Einmal applaudiert die Runde dem Jungen, der seine Beine verlor, als seine Arie endet. Es ist ein gut gemeinter, aber von einer alten, paternalistischen Idee von «Entwicklungshilfe» vergifteter Applaus. Später trauert das Direktor:innenpaar in einer schönen Doppelarie seinen alten linken Idealen nach: Afrika als verschobener Schauplatz verlorener Revolutionen. Böse.

In solchen Momenten kann die nur knapp zwei Stunden dauernde Oper über ihr Ereignis hinausweisen. Noch ein Strang, dem das gelingt: wenn der alte Priester, gesungen vom Jamaikaner Willard White im Bass, die Stimmen der Ahnen nicht mehr hören kann im Regen, der die ausgelaufene Säure in den Boden treibt. «Justice» hat so auch eine spirituelle Dimension, die darauf hinweist, dass nicht nur kostbare Metalle aus der Erde gehoben werden. Seit dem globalen Rennen um Extraktion verschwinden nicht nur Rohstoffe, sondern auch Traditionen und sogar Sprachen. In den Minen werden dem Land auch seine Zähne gezogen.

Vom Fühlen ins Handeln

Das Schlusswort hat der weisse Chor, der Gerechtigkeit einfordert. Er singt davon, dass man noch mal von neuem beginnen müsse und die Dinge, Orte, Beziehungen neue Namen brauchten. Die eigentliche Anklage ist auch eine Selbstanklage: Vor Gericht steht am Schluss von «Justice» also nicht einfach Glencore, sondern das Publikum in Genf, jener Stadt, in der die Rohstoffe gehandelt werden. Unsere Gefühle sind nicht mehr genug, sagt uns der Chor am Schluss einer hochemotionalen Oper.

Für diesen revolutionären Schlusspunkt, vom Fühlen ins Handeln zu kommen, hat Fiston Mwanza Mujila sogar seinen Schlussmonolog gestrichen, wie er noch im Programmbuch abgedruckt ist. Jetzt kommt Mwanza Mujila nur noch kurz auf die Bühne und sagt: «Noir, s’il vous plaît.» Black. Licht aus.

Weitere Vorstellungen am 26. und 28. Januar 2024 im Grand Théâtre de Genève: www.gtg.ch. Ab 30. April 2024 in St. Pölten (A) als Eröffnung des Festivals Tangente.