Die Welt dreht sich: Im Zeichen der Anmut

Nr. 5 –

Rebecca Gisler über lyrische Schimpfwörter

Es ist etwas Unglaubliches passiert: Die Lyrik hat es in die Schlagzeilen geschafft! Alle, bis hin zu Sportjournalisten, reden plötzlich über Lyrik. Und weil alle darüber reden, muss ich das nun auch tun, nicht zuletzt, weil ich selbst eine eifrige Lyrikleserin bin.

Als ich noch in Frankreich lebte, ging ich sogar gerne an Lyrikveranstaltungen. Insbesondere an jene Veranstaltungen, an denen man die unbekanntesten Verlage kennenlernt, viel zu viele Zigaretten raucht, den schlechtesten Weisswein schlürft und sich alle wie Lyriker:innen verkleiden. Bei Lyriklesungen ist es egal, dass meist nur zehn Personen im Publikum sitzen und diese zehn Personen selbst Lyriker:innen sind. Denn Lyrik findet weit weg von jeglichen wirtschaftlichen, für unsere kapitalistische Gesellschaft interessanten Überlegungen statt.

Die Wahl des Schriftstellers Sylvain Tesson zum Paten der 25. Ausgabe des Literaturfestivals «Printemps des poètes» (Frühling der Dichter) hat in Frankreich nun jedoch eine Polemik ausgelöst, an der sich plötzlich gefühlt alle beteiligen. In einem in der Zeitschrift «Libération» veröffentlichten offenen Brief sprechen sich Dichterinnen, Verleger, Buchhändlerinnen, Bibliothekare, Lehrerinnen und andere Akteure der französischen Kulturszene gegen die Ernennung von Sylvain Tesson aus. Die rund 1200 Unterzeichner:innen sind der Meinung, dass diese Wahl «die Banalisierung und Normalisierung der extremen Rechten in der Politik, der Kultur und in der gesamten Gesellschaft verstärkt».

Tatsächlich gilt der Reiseschriftsteller Sylvain Tesson als eine der literarischen Ikonen der rechtspopulistischen Medienlandschaft. Auf der Website des französischen Kulturministeriums erfährt man, dass die Veranstaltung in diesem Jahr unter dem sehr lyrischen Thema «la grâce», die Anmut oder die Gnade, steht. Was folgendermassen begründet wird: «Vor allem aber gibt es diesen Zustand der Anmut der Sprache und des ganzen Körpers, den Dichter ebenso kennen wie Athleten oder Abenteurer.»

Es scheint, dass sich die Olympischen Spiele, die dieses Jahr in Paris stattfinden werden, hier bereits ein erstes Mal manifestiert haben. Und wie bei den Olympischen Spielen gehen die Meinungen radikal auseinander. Ernennung und Brief bewegen die Gemüter rundum. Und die Angelegenheit avanciert allmählich zu einem geordneten Kulturkampf zwischen der mächtigen Rechten und der linksorientierten Intelligenzija. Angesichts der Reaktionen ist es beeindruckend zu sehen, wie wenig es braucht, um die rechte Medienlandschaft so sehr zu erschüttern, dass all ihre reaktionären Zeitungen und Journalist:innen einen regelrechten (Lyrik-)Wettbewerb um die schönste Beleidigung der unterzeichnenden Lyriker:innen veranstalten: «Systembedingte Nachzügler», «Kulturbanausen», «Woke Collective», «Nobodys», «Autoren ohne Leser», «Kakerlaken», «Zwerge» – um nur eine kleine Auswahl zu zitieren.

Lyrik existiert! Und für einen kurzen Moment hätte man meinen können, dass die Welt plötzlich von ihr sprechen würde. Aber natürlich ist dem nicht so. In dieser Debatte findet man, abgesehen vielleicht von den Beleidigungen, eindeutig keine Lyrik und auch keine Anmut, sondern nur, wieder einmal, ein Beispiel für den beunruhigenden Aufstieg der (extremen) Rechten.

Rebecca Gisler ist Autorin und lebt in Zürich.