Kulturkampf in der Türkei: Mit Rousseau, Pokémon und Gasmaske
Zuerst haben die Kulturschaffenden gezögert, jetzt beteiligen sich viele an den Protesten gegen die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters. Das hat auch mit dessen wegweisender Kulturpolitik zu tun.

«Ekrem İmamoğlu ist der kämpferischste und mutigste Mensch, den ich kenne. Heute ist der grösste Schritt auf seinem Weg zur Präsidentschaft getan.» Zülfü Livaneli wagte sich weit vor auf seinem Instagram-Account, kurz nachdem vorletzte Woche die Nachricht von der Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu von der oppositionellen Cumhuriyet Halk Partisi (CHP) bekannt geworden war.
Der 78 Jahre alte Livaneli, als Schriftsteller, Filmemacher und Sänger einer der prominentesten Alleskönner der türkischen Kulturszene, kann es sich leisten. Ansonsten reagierte man in Kulturkreisen zunächst so wie der Rest des Landes: fassungslos, entsetzt, schweigend.
«Alles wird gut»
Die Verhaftung von siebzehn Celebritys im vergangenen November, darunter der Sänger Serdar Ortaç, war ein erstes Warnzeichen gewesen. Ebenso die Anklage gegen die Schauspieler Halit Ergenç und Rıza Kocaoğlu im Januar wegen angeblicher Unterstützung der Gezi-Proteste 2013. Dass die beim Smalltalk deshalb immer wieder scherzhaft erwähnte mögliche Verhaftung des Bürgermeisters tatsächlich kommen würde, hatte dann aber doch niemand erwartet. Nobelpreisträger Orhan Pamuk sowie seine Kolleginnen Elif Şafak und Aslı Erdoğan – gleichsam die Kronjuwelen der türkischen Kultur, die alle im Exil leben – hüllten sich zu der Zeit noch in Schweigen.
Erst eine Woche nach der Verhaftung kam die allseits beliebte Popdiva Sezen Aksu mit einem «Aufruf für den gesunden Menschenverstand» aus der Deckung. Ohne den Präsidenten oder İmamoğlu beim Namen zu nennen, rief sie reichlich gewunden dazu auf, die Menschenrechte zu wahren und «im Einklang mit dem Gesetz» zu handeln.
Verdenken kann man der Kulturprominenz derlei Pirouetten nicht. Öffentliche Positionierungen führen im real existierenden türkischen Autoritarismus schnell vor den Kadi. Aksu hatte der grimme Staatschef Recep Tayyip Erdoğan schon vor Jahren höchstpersönlich angedroht, ihr «die Zunge herauszureissen». Seit vorletzter Woche wurden fast 2000 Menschen verhaftet, davon allein rund 40 wegen kritischer Posts in den sozialen Medien, sowie mindestens neun Medienschaffende.
Selbst Berkay Gezgin, der junge Mann, der, so will es die Legende, İmamoğlu einst auf der Strasse «Her şey çok güzel olacak» – Alles wird gut – zugerufen haben soll, worauf dieser den Satz zu seinem Kampagnenslogan machte, wurde bei einer Demonstration vor dem Amtssitz seines Idols festgenommen.
Erst langsam lockerte sich die allgemeine Schockstarre. In einer öffentlich vor dem Museum des Nationalschriftstellers Orhan Kemal verlesenen Petition verurteilten 190 Autor:innen den «antidemokratischen Staatsstreich» der Behörden. «Auch wir sind auf den Strassen und sagen Nein zu den Ungerechtigkeiten. Recht, Gesetz und Gerechtigkeit!», hiess es darin kämpferisch. Inzwischen ist die Liste der Unterzeichner:innen auf über 500 angewachsen. Zu ihnen zählt mittlerweile auch Orhan Pamuk, der die «begrenzte Demokratie» in seiner Heimat kritisierte.
Kämpfen für ein schöneres Land
Je stärker sich die Dynamik der Istanbuler Proteste auf der Strasse entwickelte, desto stärker vollzog sich das (digitale) Coming-out der sonst so übervorsichtigen Kulturschaffenden und Kunstinstitutionen. Der kurdische Künstler Halil Altındere teilte ein Bild İmamoğlus auf seinem Instagram-Account, der Schriftsteller Murathan Mungan einen Aufruf zum Generalstreik. Selbst das Popidol Tarkan schlug sich mit einem Post («Der Kampf um Demokratie macht das Land schöner») auf die Seite des Protests. Bekannte Rockbands wie Mor ve Ötesi, Duman oder der Sänger Gökhan Özoğuz von der Ska-Punk-Band Athena, türkischer Eurovision-Vertreter 2009, forderten die Freilassung İmamoğlus. Der Bildhauer Ahmet Güneştekin postete auf Instagram den Satz «Wo das Recht fehlt, beginnt der Verfall».
Wie ein Lauffeuer vervielfältige sich ein Aufruf zum Boykott regierungsnaher Brands wie des im ganzen Land verbreiteten Espressolab oder der Bäckereikette Simit Sarayı. Plötzlich schien ein Hauch von Gezi in der Luft zu liegen, der Protest über die Person İmamoğlu hinauszuweisen. Zu einem viralen Hit avancierte das Bild des Studenten, der mit dem Rücken zu einer Phalanx der berüchtigten Toma-Panzerfahrzeuge der Polizei vor der ODTÜ-Universität in Ankara sitzt und Jean-Jacques Rousseaus «Gesellschaftsvertrag» liest, und auch das ikonische Bild des Reuters-Fotografen Ümit Bektas von einem als Derwisch mit Gasmaske Demonstrierenden. Die Künstlerin Satrayni verarbeitete es zu einer Bilderserie im Stil der Miniaturmalerei. Zum Maskottchen der mancherorts zirzensisch inszenierten Proteste stieg die Pokémon-Figur Pikachu auf, in deren Kostüm sich einer der Protestierenden in der südtürkischen Metropole Antalya unter die Menge gemischt hatte.
Der Gesang der Proteste gilt dabei nicht nur einer Hoffnung der politischen Opposition, sondern auch einem ausgesprochenen Kunst- und Kulturfreund. İmamoğlu ist mit vielen Künstler:innen befreundet und besitzt eine eigene Kunstsammlung. Bei jeder Gelegenheit betonte er die Kunst- und Meinungsfreiheit, ständig traf man ihn in Galerien und Museen. «Kultur ist der Motor, der mich antreibt» – nicht zuletzt mit diesem Motto gewann er vergangenes Frühjahr den Kommunalwahlkampf am Bosporus.
In der Sechzehn-Millionen-Metropole Istanbul, in der Kunst und Kultur fast nur durch vermögende private Sponsor:innen florieren können, setzte er in den sechs Jahren seiner Amtszeit eine bislang unbekannte städtische Kulturpolitik durch. İmamoğlu liess mehr als vierzig historische Gebäude in der Stadt restaurieren und zu Kulturzentren umbauen, etwa die alte Gasfabrik Müze Gazhane oder die ottomanische Fesfabrik Feshane Artİstanbul.
Am Ufer des Bosporus locken die Silos eines ausrangierten Rohöllagers Besucher:innen ins Museum Çubuklu Silolar. Am Goldenen Horn öffnete mit İstanbul Sanat Müzesi das erste städtische Kunstmuseum überhaupt. Die meisten dieser Gebäude stehen in konservativen Stadtteilen und dienen zudem als öffentliche Bibliotheken. Auch an Fähranlegestellen, wo die Menschen viel Wartezeit verbringen, wurden Bibliotheken eröffnet. İmamoğlus kulturpolitisches Ziel: Sicherung des reichen kulturellen Erbes der Stadt, Bildung, Kunst und Kultur für alle, für Aufklärung und «freies Denken». So formulierte er es Ende Januar bei der Eröffnung einer Retrospektive des Künstlers Ahmet Güneştekin.
Zwangsverwaltung abgewendet
Angesichts dieser Agenda ist der Kampf um den inhaftierten Politiker auch ein Kampf um die Kultur, ein Kampf der säkularen, laizistischen Demokratie gegen die islamisch-nationalistische Autokratie. Mit der Wahl Nuri Aslans als Interimsbürgermeister hat die CHP-Mehrheit im Stadtrat von Istanbul vorerst die Gefahr eines Zwangsverwalters der Regierung abgewendet. Die Gefahr, dass die einzigartige neue Kulturlandschaft unter die Räder kommt, droht aber weiterhin.
Zumal auch der (herzkranke) Kunsthistoriker Mahir Polat, einer der Stellvertreter İmamoğlus und der Kopf hinter der kulturpolitischen Strategie, sowie Murat Abbas, Generalmanager der Kulturorganisation der Stadt (İBB Kültür), inhaftiert wurden. Mit einem blossen Dekret könnte Erdoğan deren Ämter städtischer Kontrolle entziehen und einer religiösen Stiftung übertragen.
Diese Kulturstellen sollten einen Bewusstseinswandel hin zu Vielfalt und Offenheit vermitteln, Bausteine für eine multikulturelle und demokratische Post-Erdoğan-Türkei sein. Die grössten Massendemonstrationen seit Gezi vor zwölf Jahren nähren die Hoffnung, dass sie vielleicht doch noch kommen könnte.