Gaza: Unveräusserliches Recht
Die Nachkriegspläne des israelischen Präsidenten Benjamin Netanjahu missachten die Selbstbestimmung der Palästinenser:innen.
Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinenser:innen sei kompliziert, heisst es oft. Doch manches daran ist ganz einfach: Die Palästinenser:innen haben ein Recht auf nationale Selbstbestimmung, das Recht, ihr Territorium zu kontrollieren, zu wählen, wer sie regiert. Dieses Recht darf nicht gegenüber Sicherheitsbedenken Israels abgewogen werden, wie der britische Anwalt Philippe Sands vergangene Woche vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag ausführte.
Der Plan für die Zeit nach dem Krieg in Gaza, den der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu vergangene Woche seinem Kabinett vorgelegt hat, steht dem diametral entgegen. Er sieht vor, dass die militärische Kontrolle über den Gazastreifen bei den israelischen Streitkräften bleibt, während lokale Akteure, die keine Verbindungen zu Terrororganisationen haben, die zivile Verwaltung übernehmen. Wer das sein soll, wo doch die Hamas in den letzten siebzehn Jahren alle Bereiche der zivilen Verwaltung in Gaza kontrollierte, bleibt schleierhaft.
Was die Palästinenser:innen wollen, spielt für Netanjahu selbstredend keine Rolle. Dass ausgerechnet er darüber hinaus einen «Deradikalisierungsprozess» fordert, ist ein Hohn angesichts des Horrors, den seine Armee in den letzten Monaten über Gaza brachte, angesichts dessen, dass sie immer wieder Schulen und Universitäten bombardierte und dass im Norden Gazas heute eins von sechs Kindern vom Hungertod bedroht ist.
Der Plan ist ganz im Sinn von Netanjahus politischem Projekt, einen palästinensischen Staat zu verhindern. Dazu hatte er sich zuvor jahrelang mit der Hamas arrangiert – weil ihm die Spaltung zwischen der Hamas im Gazastreifen und der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland entgegenkam.
Seit dem 7. Oktober wiederholt Netanjahu nun wie ein Mantra, die Hamas vollständig zerstören zu wollen. Dieses unrealistische Ziel ist vor allem ein Freifahrtschein, um diesen Krieg so lange weiterzuführen, wie es der Ministerpräsident für opportun hält. Davon werden ihn auch die Mahnungen von US-Präsident Joe Biden nicht abhalten, solange dieser gleichzeitig neue Waffenlieferungen an Israel beschliesst.
Die israelische Armee, sagte Netanjahu im Januar, solle künftig die volle militärische Kontrolle über alle Gebiete westlich des Jordans, also das gesamte historische Palästina, innehaben. Das ist nichts anderes als die Fortschreibung der illegalen Besetzung, unter der die Palästinenser:innen dauerhaft entrechtet bleiben und unter der jeder Widerstand mit Gewalt bekämpft wird. So bleiben langfristig nur drei Szenarien: Vertreibung, permanente Rechtsungleichheit oder Vernichtung.
Der anhaltende Charakter der Besetzung ist schon lange überdeutlich: Die Palästinenser:innen im Westjordanland leben in Enklaven zwischen israelischen Siedlungen, von denen jedes Jahr mehr gebaut werden. Während die rund 700 000 Siedler:innen israelische Bürgerrechte geniessen, leben die rund drei Millionen Palästinenser:innen unter Militärrecht. Fast alle namhaften Menschenrechtsorganisationen bezeichnen diesen Zustand im Westjordanland heute als Apartheid. Ein Begriff, der mit Bezug auf Israel hierzulande hochumstritten ist. Doch selbst jene, die das Wort als ideologischen Kampfbegriff ablehnen, können die Realität der brutalen Unterdrückung nicht abstreiten, die das Leben der Palästinenser:innen im Westjordanland unter israelischer Besatzung seit Jahrzehnten bestimmt.
Netanjahu sieht sich offenbar berechtigt, zu bestimmen, wie die Palästinenser:innen zu leben haben, wer sie regieren soll. Man könne den Terroranschlag vom 7. Oktober doch nicht mit einem Staat belohnen, sagte er vergangene Woche. Aber ein palästinensischer Staat, um das noch einmal in Erinnerung zu rufen, ist kein Geschenk, keine Frage der Grosszügigkeit Israels. Es ist ein unveräusserliches Recht.
Höchste Zeit, dass sich die internationale Gemeinschaft auf jene Grundsätze zurückbesinnt, bei denen sich doch eigentlich alle einig sind.