Israelische Politik: Der Tag nach Netanjahu

Nr. 47 –

Inzwischen zweifelt in Israel kaum jemand daran: Die Tage der rechtsextremen Regierung sind gezählt. Aber verheisst deren Ende auch die Aussicht auf Frieden?

Es sind verstörende Bilder, die am Montag aus dem israelischen Parlament übertragen werden. «Ihr habt kein Monopol auf Schmerz», brüllt Zvika Fogel, der rechtsextreme Vorsitzende des Ausschusses für Nationale Sicherheit, auf einen jungen Mann ein, der gemeinsam mit anderen Angehörigen der von der Hamas entführten Geiseln in die Sitzung gekommen ist.

Die Vorgeschichte: Fogels Partei Jüdische Stärke plant derzeit ein Gesetz zur Todesstrafe für Terrorist:innen. Der junge Mann, der gemeinsam mit den anderen Angehörigen dem Treffen des Ausschusses beiwohnte, hatte die Parlamentarier:innen angefleht, darauf zu verzichten: Sie befürchten schwerwiegende Folgen für ihre Liebsten, die noch immer im Gazastreifen festgehalten werden.

Fernsehbilder wie diese verdeutlichen die komplizierte Situation, in der sich die Angehörigen der Geiseln derzeit befinden. Sie müssen sich damit arrangieren, dass sie mit dem Anliegen, ihre Familienmitglieder zurück nach Hause zu bringen, massgeblich von der radikalislamischen Hamas abhängig sind. Vertreten werden ihre Interessen allerdings von einer Regierung, der sie kaum noch trauen – und damit stehen sie stellvertretend für einen grossen Teil der Israelis. Das Schicksal der rund 240 Geiseln, die noch immer in der Hand der Hamas sind, zerreisst nicht nur ihre Herzen, sondern auch das Land.

Erneute Proteste

Die Popularitätswerte von Benjamin Netanjahu befinden sich im Sturzflug: In einer aktuellen Umfrage geben nicht einmal vier Prozent an, dem Premier als Quelle für Informationen über den Gazakrieg zu trauen. Selbst im rechten Lager sind es bloss sechs Prozent – und das, obwohl israelische Regierungschef:innen in kriegerischen Zeiten in der Regel an Beliebtheit zunehmen. Käme es jetzt zu Neuwahlen, würde die Regierung eine krachende Niederlage einfahren: Einer Befragung des Fernsehsenders Channel 12 zufolge fiele Netanjahus Koalition von derzeit 64 Sitzen in der Knesset auf 45.

Es steht ausser Frage, dass allein die Hamas für ihre Gräueltaten vom 7. Oktober verantwortlich ist. Doch zugleich, davon sind viele Israelis überzeugt, habe die israelische Regierung dazu beigetragen, dass es überhaupt zu den Massakern kommen konnte. Mit ihrem geplanten Staatsumbau löste sie monatelange Proteste aus – und habe dadurch die Abwehrkraft des Landes geschwächt. Nun herrscht in Bezug auf die Verhandlungen um die Geiseln und die Kriegsführung tiefes Misstrauen.

Anfang November, als die Raketenangriffe der Hamas auf israelisches Gebiet langsam abnahmen, gingen die Demonstrationen wieder los, allerdings mit neuem Fokus: Derzeit geht es auf israelischen Strassen nur um die Geiseln. Vergangene Woche begannen deren Angehörige einen einwöchigen Marsch von Tel Aviv nach Jerusalem – um den Druck auf die Regierung zu erhöhen, ihre Angehörigen zurückzubringen. Am Ende hatten sich dem Marsch 30 000 Menschen angeschlossen.

Inzwischen zweifelt kaum jemand daran: Die Tage von Benjamin Netanjahus rechtsextremer Regierung sind gezählt. Ob der Premier weiterregiert oder es zum Wechsel kommt, hat allerdings Bedeutung über die Innenpolitik hinaus. Vielmehr dürfte die Frage massgeblich über die Zukunft des Nahen Ostens entscheiden – ohne hier das gemeinsame Ziel von Hamas in Gaza und Hisbollah im Libanon, Israel zu zerstören, auszublenden.

Von aussen betrachtet, wird es immer deutlicher: Unter der Führung von Netanjahu wird es keinen Weg aus der Spirale der Gewalt geben. Netanjahu hat Interesse an einem langen Krieg – er weiss, was ihn an dessen Ende erwarten könnte.

Ruf nach Atombomben

Seine rechtsextremen Koalitionspartner träumen derweil davon, Gusch Katif wieder zu besetzen – so hiess der Block von sechzehn israelischen Siedlungen im Süden von Gaza, bevor Israel 2005 aus dem Gebiet abzog. Für die radikalideologischen Siedler:innen war dieser Abzug ein einschneidendes Ereignis, eine Wiederbesetzung wäre für sie weit mehr als ein Territorialgewinn: Sie würde in ihren Augen bedeuten, Gottes Gebot von der Besiedlung des gesamten Territoriums zwischen Jordan und dem Mittelmeer einen weiteren Schritt näherzukommen.

In den Reihen der radikalen Siedler:innen, die in Netanjahus Regierung prominent vertreten sind, fantasieren derzeit einige von Atombombenabwürfen auf Gaza. Und sie fachen das Feuer im Westjordanland an: Seit dem 7. Oktober ist die Gewalt dort stark angestiegen. Palästinenser:innen wurden von Siedler:innen getötet, während Flyer die Runde machen, in denen diese eine zweite Nakba ankündigen – eine Massenvertreibung von Palästinenser:innen wie bei der Staatsgründung Israels.

Auch innerhalb des israelischen Kernlands ist die Stimmung angespannt, das Misstrauen zwischen jüdischen und palästinensischen Israelis gross. Tatsächlich hatten einige palästinensische Israelis das Massaker der Hamas gefeiert, diese wiederum wohl auf eine zweite Front im Innern Israels gehofft. Die seither erfolgten Verhaftungen und Drohungen der Sicherheitskräfte schiessen aber weit übers Ziel hinaus: Die Behörden stellen palästinensische Israelis unter Generalverdacht. Zu einer weiteren Front kam es bislang nicht – während des letzten Krieges zwischen Israel und der Hamas im Mai 2021 hatte es schwere Zusammenstösse zwischen jüdischen und arabischen Israelis in arabisch-jüdisch gemischten Städten gegeben.

Dass solche bislang ausblieben, ist wohl vor allem zivilgesellschaftlichen Gruppen wie den arabisch-jüdischen Abraham-Initiativen oder der Graswurzelbewegung Standing Together zu verdanken, deren Zusammenkünfte in den letzten Wochen enormen Zulauf hatten. Hinzu kommt, dass sich viele (wenn auch längst nicht alle) palästinensische Israelis von den Gräueltaten der Hamas abgrenzen. Einige palästinensische Israelis verloren bei den Massakern selbst ihr Leben, von anderen machen Held:innengeschichten die Runde.

In Stunden, in denen Hass und Zwietracht allgegenwärtig sind, geben solche Geschichten Hoffnung. Eine handelt davon, wie ein gläubiger muslimischer Israeli mit Baby auf dem Arm israelische Soldat:innen vor einem Hinterhalt der Hamas warnt und sie dadurch rettet; eine andere von Beduinenstämmen in der Negevwüste, die schnell reagierten und sich organisierten, um Israelis gegen die Hamas zu verteidigen.

Eine aktuelle Umfrage des israelischen Demokratieinstituts ist da aufschlussreich: 70 Prozent der palästinensischen Bürger:innen Israels sagen, sie fühlten sich als Teil Israels; im Juni waren es bloss 48 Prozent. Seit das Institut vor zwanzig Jahren mit der Messung dieser Werte begonnen hat, war das Zugehörigkeitsgefühl palästinensischer Israelis zum Staat Israel noch nie so hoch.

Biden geht auf Distanz

Mit Netanjahus Regierung allerdings werden Stimmen, die den arabisch-jüdischen Zusammenhalt propagieren, in die Ecke gedrängt – das weiss auch US-Präsident Joe Biden, der seine Unzufriedenheit mit dem israelischen Regierungschef inzwischen immer deutlicher zeigt. Schon Anfang November soll er Netanjahu aufgefordert haben, sich zu überlegen, welche Lehren er seinem Nachfolger weitergeben wolle. Netanjahus Zeit laufe ab.

Den deutlichen Worten folgen mittlerweile Taten. Mitte November passierte eine Resolution, die zur Feuerpause aufrief, den Uno-Sicherheitsrat – trotz des Vetorechts der USA und obwohl der «grosse Bruder» solche Resolutionen bislang in der Regel blockiert hatte. Biden und Aussenminister Anthony Blinken stehen innenpolitisch zunehmend unter Druck, seit Wochen fordern sie von der Netanjahu-Regierung – bei aller Unterstützung der Kriegsführung –, in Gaza Verhältnismässigkeit zu wahren. Einer Besetzung des Gazastreifens widersprechen die beiden vehement, deutlicher denn je drängen sie auf eine Zweistaatenlösung.

In einem langen Kommentar in der «Washington Post» kündigte Biden zuletzt sogar an, jüdischen Extremist:innen in Zukunft Visa für die USA zu verweigern. Noch stehen die USA mit Flugzeugträger zur Abschreckung im östlichen Mittelmeer und mit militärischer Unterstützung in Milliardenhöhe an der Seite Israels. Doch wer die Zeichen liest, fragt sich: Wie lange reicht Bidens Geduld noch?

Und danach?

Auch auf parlamentarischer Ebene steigt der Druck. Hinter den Kulissen würden derzeit die politischen Optionen für den Tag danach verhandelt, sagt ein Likud-Funktionär, der anonym bleiben will. Wie viele andere rechnet auch er mit einem baldigen Ende der Netanjahu-Regierung – vorausgesetzt, es kommt zwischen Israel und der Hisbollah nicht zum Krieg. Technisch gäbe es zwei Möglichkeiten: Neuwahlen oder ein Misstrauensvotum.

Man könnte meinen, das Land habe verstanden, dass es mit Netanjahu und seiner rechtsgerichteten Regierung nicht weitergeht und dass es eine politische Lösung braucht. Doch die Entwicklungen sind komplexer. Zwar richtet sich die Wut angesichts des Totalversagens auf die extrem rechte Regierung, sodass die Bevölkerung den Umfragen zufolge die Opposition wählen würde. Doch die Ansichten der allermeisten Israelis sind insgesamt nach rechts gerückt. Viele jener, die vor dem 7. Oktober für einen palästinensischen Staat und Friedensverhandlungen waren, haben ihre Hoffnung verloren. Es bleibt abzuwarten, ob auf das mögliche Ende der Regierung Netanjahu auch ein politischer Richtungswechsel folgt.

Kleiner Durchbruch: Feuerpause – doch kein Ende des Krieges

Oft war in den letzten Wochen von einer möglichen Vereinbarung zwischen Israel und der Hamas die Rede, doch immer wieder wurden die Hoffnungen enttäuscht. Nun aber ist es zu einem kleinen Durchbruch gekommen: Eine temporäre Feuerpause gegen die Freilassung eines Teils der Geiseln – so lautet der Grundsatz einer Übereinkunft, auf die nicht nur Israelis und Palästinenser:innen, sondern die ganze Welt so lange gewartet haben.

In der Nacht auf Mittwoch entschied die israelische Regierung, die vom Golfstaat Katar und den USA mit der Hamas ausgehandelte Vereinbarung anzunehmen. Hamas-Führer Ismail Haniyeh hatte bereits einige Stunden zuvor angekündigt, eine Feuerpause mit Israel sei in Sicht. Sie soll am Erscheinungstag dieser WOZ um 10 Uhr beginnen. Die Rede ist dabei von unterschiedlichen Phasen. In der ersten Phase, die vier Tage dauern soll, wird Israel 150 palästinensische Gefangene aus israelischen Gefängnissen freilassen, sobald 50 Geiseln nach Israel zurückgekehrt sind.

In dieser Zeit werden die Waffen ruhen. Die Feuerpause gilt auch für Kampfhandlungen an der Grenze zum Libanon, wo sich der Konflikt zwischen der Hisbollah und Israel in den letzten Wochen immer stärker aufgeheizt hat.

Während der Feuerpause sollen zudem Treibstoff und andere Hilfsgüter in den von der Aussenwelt abgeschnittenen Gazastreifen gelangen. Im Gegenzug sollen Mitarbeiter:innen des Roten Kreuzes Zugang zu den nicht freigelassenen Geiseln bekommen und diese mit Medikamenten versorgen können. Die Feuerpause wird um je einen weiteren Tag verlängert, wenn die Hamas im Gegenzug dafür mindestens zehn Geiseln pro Tag freilässt. Die israelische Regierung hat angekündigt, dass die Waffen insgesamt nicht länger als zehn Tage ruhen würden. Dass dieser temporäre Waffenstillstand zu einem längerfristigen wird, ist also unwahrscheinlich.

Von dem Ziel, die Hamas zu zerschlagen, ist die israelische Regierung nicht abgerückt. Die Hamas wiederum, so befürchtet Israel, werde die Zeit des Waffenstillstands nutzen, um sich neu aufzustellen und zu organisieren. Der Krieg dürfte also eher verlängert werden.