Kali Malone: Hören, was kaum wahrzunehmen ist
Die US-amerikanische Komponistin und Pianistin Kali Malone arbeitet auf ihrem neusten Album, «All Life Long», weiter an der Befreiung der liturgischen Musik vom Religiösen.
Als Kali Malone an einem Februarabend auf der Orgelbank der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Platz nimmt und zu spielen beginnt, passiert erst einmal: nicht viel. So scheint es zumindest. Man hört einen lang anhaltenden Orgelton, warm und voll tönend. Von unten aus dem Publikum schaut man im Oktogon der Berliner Kirche auf die Empore, wo die US-amerikanische Komponistin und Pianistin das Instrument mit seinen mehr als 500 Orgelpfeifen bedient. Wie in Zeitlupe scheint sie zu spielen. Wenige Tonwechsel und immer wieder diese ausdauernden, ausufernden Klänge.
Kali Malone, die in Denver, im US-Bundesstaat Colorado, aufgewachsen ist und heute im schwedischen Göteborg lebt, ist eine der bekanntesten Musikerinnen der zeitgenössischen Drone-Music-Szene. Gerade ist mit «All Life Long» ihr neustes Album erschienen. Eingeleitet wird es von einem liturgisch anmutenden Chorstück, gesungen vom französischen Macadam Ensemble. Dann finden sich auf dem Werk mäandernde instrumentale Orgelstücke wie das Titelstück oder «Prisoned on Watery Shore», die sie auch in Berlin vorstellte. Darüber hinaus: Bläser-Instrumentals, gespielt vom US-Modern-Brass-Quintett Anima Brass.
Brummen und Dröhnen
Der Begriff «Drone Music» (von «drone», also dröhnen) wurde in der Minimal Music der sechziger Jahre populär, Komponisten wie La Monte Young, Tony Conrad und Philip Glass schufen damals einen neuen Sound: Ihre Kompositionen enthalten lang andauernde Einzeltöne, es geht um das ewige Brummen, das dauernde Dröhnen. Auf welchem Instrument die Klänge dargeboten werden, ist zweitrangig, der Effekt ist der gleiche: Die Obertöne, die immer schon da, aber eigentlich kaum wahrzunehmen sind, werden hörbar(er).
Diese Art der Musik hat bereits seit den neunziger Jahren im Metal eine Renaissance erlebt. US-Bands wie die Melvins, Earth und Sunn O))) bezogen sich auf die Minimal Music; durch das Verwenden potenter Verstärker beziehungsweise ganzer Verstärkerwände wird der Effekt bei Livekonzerten dieser Bands körperlich. Nun tritt eine neue Generation auf den Plan: Künstlerinnen wie Ellen Arkbro, Maya Shenfeld und Kali Malone nutzen dazu insbesondere (Kirchen-)Orgel und Synthesizer. Von Malone erschien vergangenes Jahr das über vier Stunden lange Werk «Does Spring Hide Its Joy», mit seinen überlangen Cello-, Gitarren- und Synthesizerstücken eher für fortgeschrittene Experimentalhörerinnen. Für Einsteiger könnte das etwas kurzweiligere «All Life Long» geeignet sein.
Bis sie zum Orgelsound fand, den sie heute spielt, war es ein langer Weg. Während ihrer Kinder- und Jugendjahre sang Malone zunächst in Chören. Zwei Begegnungen waren in ihrem Musikerinnenleben entscheidend: Als Sechzehnjährige traf sie in New York auf die schwedische Komponistin Ellen Arkbro. Deren Beschäftigung mit der freien Improvisation und der elektroakustischen Musik begeisterte sie – wenig später zog Malone nach Stockholm, um am dortigen Royal College of Music zu studieren. In Schweden lernte Malone den Orgelstimmer Jan Börjesson kennen. Mit ihm fuhr sie zu Kirchen im ganzen Land, um beim Stimmen der Orgeln dabei zu sein; von ihm lernte sie verschiedene Stimmungen kennen.
Vor allem die reine Stimmung interessierte sie – bei dieser Intonation werden nur reine Intervalle verwendet, die Musik klingt dadurch sehr klar, reduziert. Mit ihrem vierten Album, «The Sacrificial Code» (2019), wurde sie dann in der internationalen Experimentalszene berühmt. Ihr Partner – im Leben und in der Kunst – ist Stephen O’Malley von Sunn O))), eine zentrale Figur der zeitgenössischen Drone-Szene. Beim Auftritt in Berlin ist er ihr Mitmusiker, er war auch an der Produktion der beiden neuen Alben beteiligt.
Das perfekte Kunstwerk
An der derzeitigen Popularität der Drone Music gibt es durchaus Kritik. Als äusserst rezipientenorientierte Musik fügt sie sich auch in den Zeitgeist von Achtsamkeit und Meditation ein. In der linken deutschen Wochenzeitung «Jungle World» wurde kürzlich erklärt, dass in der Drone Music heute an die Stelle des Kunstwerks eine blosse Wahrnehmungserfahrung trete, bei der sich «Betrachter und Zuhörer ihr je eigenes kleines Kunstwerk schaffen».
Diese Kritik hat ihre Berechtigung, allerdings träfe sie auf viele andere rezipienten- und körperorientierte Musikstile zu – zum Beispiel repetitiven Krautrock oder hypnotische Klänge im indischen Raga. Im Hinblick auf Kali Malone könnte man auch sagen: Diese Frau sucht, ganz im Gegenteil, nach dem perfekten (Klang-)Kunstwerk – mit der Reduktion als Mittel. In einem Fachtalk sprach sie einmal davon, dass «aus einer scheinbar begrenzten musikalischen Auswahl» für sie paradoxerweise eine grössere Fülle des Ausdrucks entstehe. Sie will die Alte Musik, die liturgische Musik vom Religiösen befreien und «profanisieren»: «Ich war daran interessiert, all diese verschiedenen Techniken zu erforschen, allerdings von einem ganz anderen kulturellen Standpunkt aus.»
In den Bänken der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche sitzen an diesem Abend Punks, Goths und ganz viele andere Leute, die sonst wohl kaum in die Kirche gehen. Zumindest diese Mission scheint also erfüllt.