Die Welt dreht sich: Olympische Fahrt

Nr. 11 –

Rebecca Gisler sitzt in einem überfüllten Bus

Die angenehmste Möglichkeit, von der Gare Montparnasse zur Gare de Lyon zu gelangen, ist mit der Buslinie 91. So dachte ich zumindest, bis ich vor ein paar Tagen mit diesem Bus vom Süden von Paris in den Südosten gelangen wollte. Seit jeher bereiten mir die Busfahrten in Paris grosses Vergnügen, auch wenn sie viel zu lange dauern können und im Unterschied zur Metro vor allem alte Menschen und Kinder unterwegs sind.

Am Tag vor meiner Durchreise hat Präsident Emmanuel Macron im Norden der Stadt das Olympische Dorf eröffnet, das diesen Sommer bis zu 14 500 Menschen beherbergen wird. Und am Tag danach füllt sich der Bus 91 bereits am Bahnhof Montparnasse mit gefühlt genau so vielen Menschen, sodass ich meinen Koffer unter meine Füsse schiebe und die nächste Stunde zusammengekauert und von meiner Sitznachbarin an die Fensterscheibe gedrückt verbringe. Immerhin kann ich – anders als viele weitere Passagier:innen – überhaupt sitzen. Der Bus pausiert an jeder Haltestelle und gibt erschöpfte Geräusche von sich. Bei älteren Menschen erkennt man panische Gesichtszüge, schon wenn der Bus naht. Mutig schieben sie sich und ihren Rollator ins schweissige Fahrzeug, das nur schwer vorwärtszukommen scheint. Mit der Zeit versuchen diejenigen, die draussen warten, nicht einmal mehr einzusteigen. Sie rollen nur mit den Augen. Man hört, wie die Fahrgäste über die öffentlichen Verkehrsmittel fluchen und besorgt über die kommenden Wochen sprechen. Dass sie sich während der Olympischen Spiele nicht einmal aus dem Haus trauen würden und dass diejenigen, die die Stadt diesen Sommer verliessen, Glück hätten.

Bürgermeisterin Anne Hidalgo hatte angesichts der Ankündigung eines massenhaften vorübergehenden Wegziehens von Pariser:innen ihre Bürger:innen sogar explizit darum gebeten, «nicht wegzugehen». Aber die, die sich einen Wegzug erlauben können, nutzen die Gelegenheit und vermieten ihre Wohnungen für mehrere Hundert Euro pro Nacht. Und die anderen, diejenigen, die nicht fliehen können – sei es aus finanziellen, körperlichen oder anderen Gründen –, die bleiben und erleben dieses ganze Schauspiel von Nahem mit. Doch eines ist klar: Die Olympischen Spiele dienen sicherlich nicht zur Unterhaltung der Einwohner:innen von Paris. Vielmehr beeinträchtigen die Baumassnahmen, die seit Jahren zur Fertigstellung des geplanten Vergnügungsparks durchgeführt werden, ihren Alltag und ihr Wohlbefinden.

Der Bus fährt auf dem Boulevard de Port-Royal Richtung Seine. Auf dem Pont Charles-de-Gaulle bestaune ich das bräunliche Wasser und höre, wie eine ältere Frau sagt: «Also ich würde da auf keinen Fall drin schwimmen wollen.» Emmanuel Macron aber versichert, dass er auf dem besten Weg sei, die Wette zu gewinnen, das Baden in der Seine 2024 für die Athlet:innen und 2025 für alle Bewohner:innen der Île-de-France an dafür vorgesehenen Orten möglich zu machen. Um das Projekt zu verwirklichen, wird derzeit eine umfangreiche Sanierung des Flusses durchgeführt.

Und als ob wir gerade eine olympische Prüfung absolviert hätten, leert sich der Bus, und mit ihm löst sich die verkrampfte Haltung der Passagier:innen endlich bei der Gare de Lyon. Während alle erleichtert aufatmen und sich den Schweiss von der Stirn wischen, stelle ich fest, dass mein Zug in fünf Minuten abfahren wird. Ich renne, so schnell ich kann.

Rebecca Gisler ist Autorin und lebt in Zürich.