Damaskus nach Assad: Freie Fahrt durch ein neues Land

Nr. 5 –

Seit fast dreissig Jahren fährt Abu Muhammad als Busfahrer durch die Strassen von Damaskus. Seit dem Sturz des Assad-Regimes ist das Leben zurück in einer Stadt, die von den Furchen der Vergangenheit durchzogen bleibt.

Abu Muhammad in seinem Kleinbus
«Al-harakeh fiha barakeh – in der Bewegung liegt ein Segen»: Abu Muhammad ist einer von rund 340 Busfahrern auf der Linie Muhadschirin–Sinaa in Damaskus.

Nicht ganz vierzig Tage nach dem Sturz des Assad-Regimes, nachdem Tausende Gefangene aus den berüchtigten Foltergefängnissen befreit, manche Polizeistationen und Geheimdienstabteilungen in Brand gesetzt und überall im Land Statuen von Hafis al-Assad, dem Vater des nach Moskau geflohenen Diktators Baschar, vom Sockel gerissen wurden, setzt sich Samir Ismail, der sich als Abu Muhammad vorstellt, ans Steuer des Minivans. Bus Nummer 100, Linie Muhadschirin–Sinaa.

Hier, auf dem Aschmar-Platz, einer unscheinbaren Verkehrskreuzung im südlichen Teil der Stadt, beginnt der Arbeitstag von Abu Muhammad. An sechs Tagen in der Woche kommt er, ein Mittsechziger mit gutmütigem Blick und weissem Schnauz, jeweils etwas früher als vereinbart zum Treffpunkt, um den kleinen weissen, ramponierten Passagierbus in Empfang zu nehmen, mit dem er seit zwei Jahren unterwegs ist. Pünktlichkeit ist ihm wichtig, er ist ein verlässlicher Mann. Und er will Adnan, den Besitzer des Vans, nicht warten lassen.

Portraitfoto von Abu Muhammad
Seit vierzehn Jahren auf dieser Strecke unterwegs: Abu Muhammad.

Die «Brücke des ehemaligen Esels»

Von hier aus beginnt die Fahrt Richtung Nordwesten. Sie führt über die Stadtviertel Fahameh und Baramkeh, vorbei am Hochhaus der staatlichen Nachrichtenagentur Sana, die das Assad-Regime zu ihrem Propagandaorgan gemacht hatte. Hier, im Herzen der Stadt, dreht Abu Muhammad auf die «Brücke des verehrten Präsidenten» ab, einst benannt nach Hafis al-Assad, der ab 1970 die Macht im Land hatte, bis nach seinem Tod im Jahr 2000 Baschar folgte. Nach dessen Sturz haben die Bewohner:innen die Brücke kreativ umgetauft: in «Freiheitsbrücke» oder «Sarut-Brücke», nach dem einstigen Torwart des al-Karama SC in Homs und späteren Kämpfer und Volkshelden der Revolution, Abdul Baset al-Sarut. Oder auch in «Brücke des ehemaligen, schlechten Niederträchtigen» oder, Abu Muhammads Liebling: die «Brücke des ehemaligen Esels». Beim Ausrufen im Bus sage er noch immer meist «Präsidentenbrücke» – so einfach lassen sich mehr als fünfzig Jahre, während derer sich das Regime in jedes Detail im Alltag der Menschen eingebrannt hat, nicht abschütteln.

Nach der Brücke führt die Strasse geradeaus durch den wohlhabenderen Stadtteil Abu Rummaneh, vorbei an der US-Botschaft, die seit 2012 geschlossen ist, und den Hügel hoch durchs Muhadschirin-Viertel, wo das frühere Kongresszentrum steht, dessen Aussenmauer nun mit Flüchen gegen den Assad-Clan vollgeschmiert ist, bis zum Neirabein-Park auf einer Anhöhe mit Blick über die Stadt. Ganz in der Nähe befindet sich der Tischrin-Palast, eine der Präsidialresidenzen. Am Tag des Sturzes wurde er von Syrer:innen gestürmt, die auf klobigen Sofas Selfies machten und einen Grossteil der Einrichtung mitnahmen.

eine Passagier:in überreicht Abu Muhammad Geld für die Kleinbus-Taxifahrt
«4000 Pfund reichen»: Abu Muhammad gewährt seinen Passagier:innen Rabatt.

Zehn Mal wird Abu Muhammad Damaskus an diesem Tag durchquert haben. Passagier:innen werden zu- und wieder aussteigen, Bankangestellte, Studenten, Schülerinnen, Händler, Leute mit Arzttermin, Ärztinnen und Krankenpfleger. Abu Muhammad fährt sie im Fluss des Verkehrs durch ihren Alltag in der Hauptstadt, einen neuen Alltag in einem freien Syrien, der sich so viel leichter anfühlt. Als könnten die Menschen jetzt zumindest wieder atmen, obwohl das Land noch immer am Boden liegt; obwohl es auch in Damaskus kaum Strom gibt und weite Teile der Vororte in Trümmern liegen und niemand weiss, wie es in den nächsten Monaten weitergeht. Auf die Frage, ob sie optimistisch in die Zukunft blicken, antworten die meisten: «Cheir, inschallah» – hoffentlich wird alles gut, so Gott will!

Auf dem Aschmar-Platz fährt Abu Muhammad los. Bereits ein paar Meter weiter stoppt er, die Tür öffnet sich, zwei Jungs springen in den Bus und setzen sich auf eine der hinteren Bänke, eine Frau folgt ihnen und setzt sich in die Reihe davor und nestelt an ihrer Tasche herum. Sie sei auf dem Weg zur Arbeit, erzählt die Frau, die sich als Tisnim vorstellt, seit vier Jahren ist sie Kundenberaterin bei der Syrien-Golf-Bank.

junge Fahrgäste steigen in einen Kleinbus
Ein neuer Alltag in einem freien Syrien: Junge Fahrgäste steigen zu.

Die Realität dort habe nichts mit dem zu tun, was sie im Finanzstudium übers Bankenwesen gelernt habe. Syrien unter Assad war von Sanktionen eingeschnürt, finanzmarkttechnisch eine Insel, abgeschnitten vom Rest der Welt. Auslandstransaktionen: inexistent. Und wenn die Kund:innen ein Konto eröffnen wollten, hätten sie sich gefürchtet: Bereits bei den normalsten Fragen, etwa nach ihrer Arbeit, hätten sie Angst gehabt, dass die Informationen an den Geheimdienst weitergegeben würden. «Dabei war das nur für die Bank», sagt Tisnim. Heute, nach dem Sturz des Regimes im Dezember, ist Syrien finanziell noch immer von der Welt abgeschnitten, auch wenn die USA inzwischen angekündigt haben, einen Teil ihrer Sanktionen für ein halbes Jahr zu lockern.

Aber immerhin, so Tisnim, hätten die Leute nicht mehr Angst, ihre Daten mit einer Bank zu teilen. Man sehe die Veränderung in den Gesichtern, auf der Strasse, im Bus: «Die Sorgen sind aus ihrem Blick verschwunden.» Fünfzig Jahre lang konnten die Syrer:innen nicht frei reden aus Angst, von einem Spitzel belauscht und verhaftet zu werden. «Vorher fühlte es sich an, als ob wir tausend Jahre lang so gelebt hätten und für immer so leben würden», sagt Tisnim. Und dann sei es plötzlich vorbei gewesen. «Entschuldigung, kann ich aussteigen?», ruft sie nach vorne. Abu Muhammad hält an, Tisnim verabschiedet sich und öffnet die Schiebetür.

«Verflucht sei seine Seele»

Noch kommt Abu Muhammad schnell voran, noch sind nur wenige Autos auf den Strassen. Aber schon eine Stunde später wird er fast nur noch im Schritttempo unterwegs sein, eingezwängt zwischen Taxis, Minibussen und Autos.

Der Bus fährt über die Brücke und weiter in Richtung Muhadschirin den Hügel hoch. Hier sei er mal angehalten worden, erzählt Abu Muhammad oben beim Kongresszentrum kurz vor dem Endpunkt der Strecke. Es ist nur eins von mehreren Regierungsgebäuden in Muhadschirin; das Viertel gehörte zu den am strengsten bewachten in der ganzen Stadt. Damals, 2021 müsse das gewesen sein, habe er direkt vor dem Kongresszentrum zwei Frauen in den Bus einsteigen lassen. Sofort sei er von einem Wachmann gestoppt worden. «Eine halbe Stunde lang haben sie mich festgehalten», erzählt Abu Muhammad. Sie hätten ihm den Autoschlüssel abgenommen und ihn einfach neben dem abgeschlossenen Bus warten lassen. Dann hätten sie ihn weiterfahren lassen.

«Keine Moral hatten diese Leute», schimpft Abu Muhammad. Er kann nicht verstehen, wie die Wachmänner einen alten Busfahrer so lange warten lassen konnten, einzig zur Schikane. Immer wieder an diesem Tag wird Abu Muhammad über das Regime fluchen. Er ist nicht der Einzige: Als er am Kongresszentrum vorbeifährt, ruft ihm sein Bekannter Abed, der auf der anderen Strassenseite ein Geschäft für Autobatterien betreibt, zu: «Verflucht sei seine Seele und die Seele seines Vaters!»

Nach Jahren, in denen die Syrer:innen ihre Wut und Verzweiflung unterdrücken mussten, hört man sie nun überall fluchen und Assad Folter und Tod wünschen. «Sie sollten ihm die Augen auskratzen und die Finger abschneiden», sagt Abu Muhammad. Er, der ja eigentlich die Sanftmütigkeit in Person ist und Leute auch mal mitnimmt, obwohl ihnen das Geld fürs Ticket fehlt.

ein Kollege von Abu Muhammad grüsst ihn aus einem anderen Taxi-Kleinbus heraus
Ein Schwätzchen mit dem Kollegen vorne dran lockert die Zeit im Stau auf.   

Seit den neunziger Jahren ist Abu Muhammad als Busfahrer in Damaskus unterwegs. Er ist einer von um die 340 Fahrern auf dieser Linie, immer wieder grüsst er auf der Fahrt Kollegen. Manche von ihnen fahren ihre eigenen Kleinbusse, andere müssen, wie Abu Muhammad, einen Teil der täglichen Einnahmen den Besitzern abgeben. Damals, in den Neunzigern, sei er zunächst auf der Strecke al-Jarmuk–Garagen gefahren, zwischen dem palästinensischen Flüchtlingslager al-Jarmuk und einem der Sammelpunkte für Minibusse beim Abbasiden-Platz. Das sei praktisch gewesen, weil er nach Feierabend einfach zu Fuss nach Hause gehen konnte, sagt Abu Muhammad. Denn die Wohnung, in die er mit seiner Frau 1987 eingezogen war und die er mit Mühe und mit Herz eingerichtet habe, lag direkt neben al-Jarmuk im Viertel Hajar al-Aswat. Nach ein paar Jahren habe er auf eine Linie im Stadtzentrum gewechselt, bevor die Minivans dort durch Stadtbusse ersetzt worden seien. Seither fährt er auf der Linie Muhadschirin–Sinaa.

Zusammengezählt vierzehn Jahre fährt er schon auf der Strecke. Mit einem Unterbruch: 2012 konnte er sich dank Ratenzahlung einen kleinen Pick-up kaufen und anfangen, als Lieferant zu arbeiten. Das sei entspannter gewesen, erinnert sich Abu Muhammad, und es habe mehr Geld eingebracht. Vielleicht war es auch Schicksal. Denn noch im selben Jahr, als Aufständische sein Viertel eroberten und das Regime begann, die südlichen Vororte zu belagern und zu bombardieren, konnten er, seine Frau und seine Kinder mit dem Pick-up aus ihrem Viertel fliehen.

Mitten in der Nacht, als Zehntausende sich ebenfalls auf der Flucht befanden, liessen sie ihr Zuhause hinter sich. Erst Jahre später konnte Abu Muhammad die Wohnung besuchen. Das Haus stand zwar noch, doch drinnen war alles zerstört und von Regimesoldaten geplündert worden, nachdem sie das Viertel von den Aufständischen zurückerobert hatten. Von seinem Zuhause, in das er viele Jahre seines Lebens gesteckt hatte, waren nicht einmal die Stromkabel übrig geblieben.

Ein paar Jahre lang lebte Abu Muhammad mit seiner Familie in einer Wohnung im Aussenviertel Dscharamana zur Miete. Bis diese zu teuer geworden sei und sie sich etwas Günstigeres hätten suchen müssen. 2018 war er schliesslich gezwungen, seinen Pick-up zu verkaufen, um die medizinische Behandlung seiner Frau zu bezahlen, nachdem sie von einem Lastwagen angefahren worden war. So kehrte er auf die Linie Muhadschirin–Sinaa zurück.

Trainer, Zigaretten, Lippenstift

Abu Muhammad fährt die letzten Meter hinauf zur Anhöhe, umkreist dort eine kleine Grünfläche und fährt wieder die Strasse runter. Nur einmal wird er an diesem Tag Pause machen, zehn Minuten, zum Mittagsgebet. «Al-harakeh fiha barakeh», sagt er – in der Bewegung liegt ein Segen. Manchmal, wenn er sehe, dass die Nasem-Bascha-Strasse auf seiner Route verstopft sei, wo die Restaurants sich aneinanderreihen, dann weiche er über den Adnan-al-Malki-Platz aus. Oder, wenn keine Passagier:innen bis ans Ende der Strecke fahren wollten, biege er bereits in Afif wieder ab und fahre die Strecke zurück in Richtung Süden. Nach so vielen Jahren unterwegs auf den Strassen von Damaskus kennt er die Schleichwege und Abkürzungen in- und auswendig.

Nur nützte ihm dies bis vor kurzem nichts. Vor ein paar Jahren, nachdem die Inflation den Wert der syrischen Lira ins Bodenlose hatte fallen lassen und neunzig Prozent der Syrer:innen in die Armut gestürzt hatte, begann das Regime, den Diesel zu rationieren. Jeder Minibusfahrer konnte pro Tag noch rund fünfzehn Liter Diesel kaufen. «Das reichte vielleicht bis vierzehn Uhr», sagt Abu Muhammad. Manche Chauffeure hätten den Diesel stattdessen verkauft, es seien viel weniger Busse unterwegs gewesen. Irgendwann liess das Regime in allen Minibussen GPS-Geräte installieren, um zu unterbinden, dass Fahrer von der vorgeschriebenen Strecke abwichen.

Jetzt, seit dem Sturz des Regimes, hat das Leben die Strassen von Damaskus zurückerobert. Als Abu Muhammad erneut die Freiheitsbrücke erreicht, stehen die Autos dort bereits auf der Mitte still. Nur langsam schieben sie sich voran, vorbei an den Ständen auf dem Gehweg: Lippenstift und Nagellack, Zigaretten, Nüsse, billiges Kinderspielzeug und stapelweise Trainerhosen. Billigware, die nun endlich ganz legal aus der Türkei und den anderen Nachbarländern über die Grenze gelangt. Zwischen dem Hupen der Busse und Autos werden per Lautsprecher Waren angeboten, «Originalschuhe, Winterschuhe, Sommerschuhe, Leute, zum halben Preis, zum Viertelpreis, Aktion für europäische Ware!» Am oberen Brückenende reichen die Stände bis auf die Fahrspur, die Fussgänger:innen drängen sich auf dem Gehweg, viele weichen auf die Strasse aus.

die Präsidentenbrücke in Damaskus, welche nun «Freiheitsbrücke» heisst
Nach dem Sturz Assads wurde die Präsidentenbrücke unter anderem in «Freiheitsbrücke» umgetauft.

Unter dem Assad-Regime waren auf der Präsidentenbrücke nur wenige Händler:innen zugelassen. Die meisten von ihnen, so erzählen es die Leute, hätten als Spitzel fürs Regime gearbeitet. Und wer versucht habe, auf der Brücke ohne Bewilligung Waren zu verkaufen, habe mit Verhaftung rechnen müssen. Jetzt kontrolliert niemand mehr die Strassenhändler:innen, es herrscht deshalb vielerorts Chaos, auch wenn an manchen Kreuzungen inzwischen Freiwillige in gelben Westen mehr oder weniger erfolgreich versuchen, den Verkehr zu regeln.

Zwei Wochen nach dem Sturz sei, so Abu Muhammad, ein Kämpfer bei ihm eingestiegen, einer jener, die Damaskus im Dezember erobert hätten. Der habe ihm erzählt, wie sie unter dem «Palästinazweig», einem der berüchtigtsten Foltergefängnisse in Damaskus, 200 Fässer Diesel gefunden hätten. «Damit könnte man die halbe Stadt betreiben!», ruft Abu Muhammad aus. «Und wofür haben sie es gebraucht? Sicher nicht, um die Gefangenen warm zu halten. Um selbst damit Geld zu machen!» Als er die Geschichte später seiner Frau erzählt habe, habe sie angefangen zu weinen.

Der Ticketpreis ist gestiegen

Nun kann Abu Muhammad so viel Diesel kaufen, wie er will. Strassenhändler verkaufen ihn an jeder Ecke in Zehn-Liter-Plastikgallonen. Der Preis sei zwar erst mal in die Höhe geschossen, heute zahlt er 14 000 syrische Pfund pro Liter, etwa 1,20 Franken. Die Haiat Tahrir al-Scham (HTS), die grösste der einst oppositionellen Milizen, die inzwischen die Übergangsregierung gebildet hat, erhöhte den Preis der Busbillette von 1000 auf 5000 syrische Pfund – umgerechnet rund fünfzig Rappen. Abu Muhammad aber verlangt nur 4000 Pfund. «Ich finde, 5000 sind zu viel», sagt er. «Die Leute sind doch alle müde und erschöpft.»

«Der Ölminister hat angekündigt, dass sie bald die Preise für alle Strecken in den Städten und zwischen ihnen festlegen wollen», sagt ein älterer Herr, der sich von der Rückbank ins Gespräch einschaltet. «Das müssen sie!», ruft Abu Muhammad. «Den Leuten geht es so schlecht.» Aus einem der Fahrzeuge neben dem Bus im Stau schallt laute Musik, «Hebe deinen Kopf, du bist ein freier Syrer!», so heisst es im Text. Es ist eines der bekanntesten Lieder der syrischen Revolution von 2011.

Petflaschen mit Diesel
Treibstoffhändler überall – Diesel ist nicht mehr rationiert.

Der Herr auf der Rückbank verkauft Decken, sein Geschäft liegt im Zentrum der Stadt, direkt beim historischen Hamidija-Markt. «Es gibt keinen Händler in Damaskus, der nicht einmal verhaftet worden wäre», sagt er. Vor allem, wenn das Regime vermutet habe, dass jemand Waren aus dem Ausland nach Syrien geschmuggelt habe. «Um verhaftet zu werden, reichte es, dass jemand mit zwei Schafen in Richtung libanesische Grenze unterwegs war.»

Mahnmal des Horrors

Endlich hat Abu Muhammad die Brücke hinter sich gelassen. Er fährt weiter in Richtung Süden, über Fahameh, Baramkeh, vorbei am abgebrannten Polizeiposten am Bab-al-Musli-Platz bis ans Ende der Strecke, wo die Hauptstrasse weiter Richtung Flughafen führt. Bevor er die Abbiegung nimmt und die nächste Runde beginnt, erscheint auf der linken Seite, hinter einer hohen Mauer mit Stacheldraht, ein brauner Gebäudeblock mit kleinen Fenstern. Wie ein düsteres Mahnmal des Horrors der vergangenen Jahrzehnte ragt der «Palästinazweig» in die Höhe.

Nach dem Sturz des Regimes drangen die Kämpfer der Freien Syrischen Armee in die Foltergefängnisse und befreiten Tausende oft bis auf die Knochen abgemagerte Insass:innen, die teils seit Jahren kein Sonnenlicht mehr gesehen hatten. Die Gefängnisse bildeten das Rückgrat der Unterdrückungsmaschinerie des Regimes. Über 130 000 Menschen sollen in den letzten vierzehn Jahren inhaftiert worden sein, schätzt die Menschenrechtsorganisation Syrian Network for Human Rights.

Strassenhändler im Viertel Baramkeh
Strassenhändler im Viertel Baramkeh.  

Eine Frau steigt ein, mittellanges Haar, leichte Fältchen um die Augen. Soeben habe sie ihre Schicht als Krankenpflegerin in einem der staatlichen Spitäler beendet. Daneben mache sie, wie so viele Angestellte im öffentlichen Gesundheitswesen, noch Schichten in einem privaten Krankenhaus. Vor dem Sturz Assads habe ihr Lohn 300 000 syrische Pfund im Monat betragen, das sind kaum dreissig Franken. In diesem Monat sei die Überweisung verspätet gekommen, und der Betrag sei unverändert niedrig geblieben. Ihre ältere Tochter studiere in Latakia, und so brauche sie rund tausend Franken im Monat, um durchzukommen; sie schaffe es nur, weil sie, wie so viele Syrer:innen, Verwandte im Ausland habe, die ihr regelmässig Geld schickten.

Es ist eines der grossen Versprechen der Übergangsregierung unter dem Übergangspräsidenten Ahmed al-Scharaa: den Lohn der Staatsangestellten zu erhöhen. Doch das ist nur eine von so vielen Baustellen. Syriens Wirtschaft liegt am Boden, ein Teil der einst florierenden Industrie in Aleppo ist in den Kriegsjahren in die Türkei abgewandert, die Landwirtschaft ist weitgehend zusammengebrochen. Strom gibt es selbst in der Hauptstadt nicht länger als für ein paar Stunden pro Tag, und weite Teile des Landes, ganze Dörfer und Stadtteile, sind zerstört. Wo sollen jene, die nun die Macht in Damaskus übernommen haben, mit dem Wiederaufbau beginnen?

Vielleicht wagt es deswegen kaum jemand, Prognosen über die kommenden Wochen und Monate zu machen: weil die Herausforderungen so zahlreich sind, die Zukunft so ungewiss. «Wir fordern keine grundlegenden Veränderungen in kurzer Zeit», sagt ein Mann, der ein Unternehmen für Inneneinrichtung betreibt und gegen Mittag mit Abu Muhammad in Richtung Süden mitfährt. «Auch wenn es eine schlechte Regierung wird, wird sie immer noch besser sein als die letzte.»

Um halb vier Uhr nachmittags erreicht Abu Muhammad wieder den Hügel oberhalb von Muhadschirin. Er blickt auf die Uhr – in einer Stunde muss er den Bus am anderen Ende der Strecke an Adnan zurückgeben. Keine Zeit also, um noch mal in den Stau auf der Freiheitsbrücke zu geraten. Kurz denkt er nach – dann fährt Abu Muhammad los. Er rauscht über eine Schnellstrasse den Hügel hinunter, bis sich vor ihm der grosse Ummayyaden-Platz auftut: ein riesiger Verkehrskreisel und daneben, zwischen zwei Zufahrtsstrassen, eine grosse steinerne Schwertskulptur, das berühmteste Monument von Damaskus. Eine Abkürzung, die ihn in zehn Minuten ans Südende der Strecke bringen wird, um ein letztes Mal Passagier:innen nach Muhadschirin zu befördern.

Abu Muhammad fährt um den Platz und biegt links vom Schwert ab. Aus der frisch umgegrabenen Erde auf dem Kreisel ragen zarte, vor wenigen Tagen gepflanzte Setzlinge.

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Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

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